Psychiater zu Forschung an Demenzkranken

Drohgespenst und Doppelmoral bei Ethik-Diskussion

Stuttgart - 07.06.2016, 13:00 Uhr

Eine schwierige Frage: Unter welchen Bedingungen können Demenzkranke in klinische Studien einbezogen werden? (Foto: Sandor Kacso / Fotolia)

Eine schwierige Frage: Unter welchen Bedingungen können Demenzkranke in klinische Studien einbezogen werden? (Foto: Sandor Kacso / Fotolia)


Gesundheitsminister Hermann Gröhe und Forschungsministerin Johanna Wanka wollen zukünftig in manchen Fällen Forschung an Patienten mit geistigen Beeinträchtigungen erlauben. DAZ.online sprach mit dem Psychiater Wolfgang Maier darüber, inwiefern dies für die Entwicklung neuer Arzneimittel gegen Demenz nötig ist.

Der Vorschlag der Bundesregierung, im Rahmen geplanter Änderungen des Arzneimittelgesetzes zukünftig in manchen Fällen Forschung an nicht-einwilligungsfähigen Patienten zu erlauben, ist umstritten. Gröhes Fraktionskollegen haben wegen großer ethischer Bedenken die Verabschiedung der AMG-Novelle unterbrochen, berichtet der „Tagesspiegel“.

DAZ.online hat Wolfgang Maier, Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Uniklinik Bonn, gefragt, warum die Änderungen seiner Meinung nach nötig sind. Maier ist auch Sprecher des Kompetenznetzes Degenerative Demenzen und hat sich bei einer Expertenanhörung im Gesundheitsausschuss des Bundestags für die Gesetzesänderung stark gemacht.

DAZ.online: Worum geht es bei der Auseinandersetzung um Studien bei nicht-einwilligungsfähigen Erwachsenen, Herr Maier?

Maier: Arzneimittelstudien bei Menschen, die nicht mehr einwilligungsfähig sind, sind notwendig, um auch für solche besonders schweren Krankheitszustände die Chancen des medizinischen Fortschritts zu nutzen. Sie können aber nur unter sehr engen Bedingungen möglich sein. So sieht es auch das geplante Gesetz vor: Teilnehmende Patienten müssen sich vorher, in einem zustimmungsfähigen Zustand, bereiterklärt haben, an gruppennütziger Forschung teilzunehmen, die zukünftig zur Besserung ihrer Krankheit beitragen kann. Zu diesem Zeitpunkt der Vorausverfügung kann man natürlich die genaue Art und Fragestellung der Studie noch nicht voraussehen.

Prof. Dr.
Wolfgang Maier

Der Vorschlag der Bundesregierung, im Rahmen geplanter Änderungen des Arzneimittelgesetzes zukünftig in manchen Fällen Forschung an nicht-einwilligungsfähigen Patienten zu erlauben, ist umstritten. Gröhes Fraktionskollegen haben wegen großer ethischer Bedenken die Verabschiedung der AMG-Novelle unterbrochen, berichtet der „Tagesspiegel“.

DAZ.online hat Wolfgang Maier, Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Uniklinik Bonn, gefragt, warum die Änderungen seiner Meinung nach nötig sind. Maier ist auch Sprecher des Kompetenznetzes Degenerative Demenzen und hat sich bei einer Expertenanhörung im Gesundheitsausschuss des Bundestags für die Gesetzesänderung stark gemacht.

DAZ.online: Worum geht es bei der Auseinandersetzung um Studien bei nicht-einwilligungsfähigen Erwachsenen, Herr Maier?

Maier: Arzneimittelstudien bei Menschen, die nicht mehr einwilligungsfähig sind, sind notwendig, um auch für solche besonders schweren Krankheitszustände die Chancen des medizinischen Fortschritts zu nutzen. Sie können aber nur unter sehr engen Bedingungen möglich sein. So sieht es auch das geplante Gesetz vor: Teilnehmende Patienten müssen sich vorher, in einem zustimmungsfähigen Zustand, bereiterklärt haben, an gruppennütziger Forschung teilzunehmen, die zukünftig zur Besserung ihrer Krankheit beitragen kann. Zu diesem Zeitpunkt der Vorausverfügung kann man natürlich die genaue Art und Fragestellung der Studie noch nicht voraussehen.

DAZ.online: Das bedeutet?

Maier: Die Patientenverfügung soll die Rahmenbedingungen so gut wie möglich festlegen: Beispielsweise die maximale Studiendauer, einen Abbruch bei Auftreten zusätzlich beeinträchtigender Nebenwirkung, oder ein tägliches medizinisches Screening auf unerwünschte Wirkungen. Auch sollte der sogenannte „natürliche“ Wille des Patienten geachtet werden. Das Medikament kann dabei nur als Phase-III-Studie nach vorab geklärter Arzneimittelsicherheit geprüft werden und es muss gute Gründe – aber noch keine Sicherheit – geben, dass sich das Prüfpräparat als wirksam erweisen wird.

Gruppennützige Forschung bei nicht-Einwilligungsfähigen ist ohne die beschriebene, vorausgehende Einwilligung des Betroffenen nicht möglich. Früher konnte diese Frage nicht diskutiert werden, weil das Rechtsinstrument der Patientenverfügung erst seit einigen Jahren in Deutschland etabliert ist. Mit diesem Instrument ist es heute möglich, altruistische Einstellungen eines Menschen im zustimmungsfähigen Zustand auch bei Verlust der Einwilligungsfähigkeit weiter zur Geltung zu bringen.

DAZ.online: Kritiker wie die Kirchen oder die frühere Gesundheitsministerin Ulla Schmidt sprechen von einer Verletzung der Menschenwürde und einem Dammbruch. Dies erinnert an die Verbrechen in der Zeit des Nationalsozialismus.

Maier: Jeder Bezug aufs Dritte Reich ist bei diesem Gesetzesvorhaben völlig absurd – denn im Dritten Reich ging es um willkürliche, körperliche Eingriffe bei Einwilligungsfähigen ohne deren Zustimmung. Bei der AMG-Novellierung geht es dagegen um gruppennützige klinische Studien bei Nichteinwilligungsfähigen, die ihre Zustimmung per Patientenverfügung im Voraus gegeben haben. Darüber hinaus ist zu betonen: Der Verzicht auf Studien zur Verbesserung der Therapiemöglichkeiten in schweren Demenzstadien ist langfristig schädlich für die Gesamtgruppe der heute oder später dementiell erkrankten Menschen. Denn diesen besonders leidenden Menschen würde die Chance vorenthalten, am medizinischen Fortschritt teilzuhaben. Ohne klinische Studien gibt es aber keinen medizinischen Fortschritt!

Das gilt umso mehr für Krankheitssituationen, bei denen ein Vergleich mit früheren Krankheitszuständen, in denen in Bezug auf klinische Studien noch Einwilligungsfähigkeit vorliegt, nicht gezogen werden kann. So ist dies zum Beispiel bei Demenz, denn die verschiedenen Krankheitsstadien zeigen eine qualitativ unterschiedliche Biologie im Gehirn. Ein Antidementivum wie beispielsweise Remenyl oder Arizept für leicht beziehungsweise moderat Kranke kann nicht erstmals bei einem schwer dementiell Erkrankten eingesetzt werden. Insofern wird die Zulassung zum Beispiel für Cholesterinesterase-Hemmer von unseren Behörden nur für leichte- und mittelschwere Demenzstadien ausgesprochen. Dort sind bei fortbestehender Zustimmungsfähigkeit klinische Studien möglich.

Kritiker malen ein Drohgespenst an die Wand

DAZ.online: Inwiefern sehen Sie die Gefahr eines „Dammbruchs“ durch die Zulassung gruppennütziger Forschung an Nicht-Einwilligungsfähigen?

Maier: Die sehe ich nicht, wenn von Anfang an die genannten engen Bedingungen gelten. Man darf in der Diskussion jedenfalls nicht so tun, als wären Studien generell bei einwilligungsunfähigen dementiell erkrankten Menschen geplant. Viele Kritiker malen unzutreffenderweise ein solches Drohgespenst an die Wand. Ein solches Szenario ist natürlich grundsätzlich abzulehnen.

DAZ.online: Das Bundesgesundheitsministerium will nur „minimale Risiken“ bei gruppennütziger Forschung zulassen. Kann man dies bei Arzneimitteltests tatsächlich sicherstellen?

Maier: Ein Prüfpräparat muss dabei natürlich mittels Studien an zustimmungsfähigen Personen schon auf seine Sicherheit geprüft sein.

DAZ.online: Derzeit gibt es also in Deutschland keine Möglichkeiten, derartige Medikamente bei Nicht-Einwilligungsfähigen zu testen?

Maier: Ja, solche Studien dürfen in Deutschland nicht durchgeführt werden. So behelfen sich unsere „Pharisäer“ damit, dass sie für Medikamentenzulassungen Studien aus Ländern zu Grunde legen, in denen Studien unter diesen Bedingungen möglich sind. Auf diese Weise wurde für das bisher einzige Antidementivum mit Indikation „schwere Alzheimer-Demenz“, Memantine (Axura®, Ebixa®) die Zulassung in Deutschland erst möglich! Die wesentlichen Zulassungsstudien stammen dabei aus den USA oder Litauen. Diese, nach deutscher Auffassung ethisch und juristisch unvertretbaren Studien verwenden unsere Behörden tatsächlich für die Zulassung in Deutschland. Das ist Doppelmoral!

DAZ.online: Kämen ähnliche Studien auch bei anderen Patienten in Frage?

Maier: Es gibt andere Erkrankungen, die mit nicht-Einwilligungsfähigkeit einhergeht: So bei fortgeschrittenen toxisch bedingten Hirnschädigungen wie Hepatoenzephalopathie oder bei fortgeschrittener Huntington-Erkrankung. 

Ein potenzieller individueller Nutzen reicht nicht aus

DAZ.online: Haben die Studien denn nicht auch einen Nutzen für den einzelnen Patienten – und könnten Sie daher nicht derzeit schon zugelassen werden?

Maier: In solchen, meist placebokontrollierten Studien, gibt es keinen sicheren individuellen Nutzen aus dem Prüfpräparat, wohl aber einen zukünftigen Nutzen für Menschen mit derselben Krankheit. Wenn ein Patient in einer solchen kontrollierten Studie zufällig den Wirkstoff bekommt und dieser sich als wirksam erweist, kann es ihm helfen. Aber er kann auch Placebo bekommen, dann hat er keinen spezifischen Vorteil. Hier handele ich als Prüfarzt nicht mit dem Ziel, individuelles Wohl des Patienten zu optimieren, wohl aber im Sinne des Wohls der Gruppe der schwer Demenzkranken. Der potenzielle, individuelle Nutzen reicht nicht aus – der spezifische individuelle Nutzen muss mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit erreichbar sein.

DAZ.online: Der Verband Forschender Arzneimittelhersteller sieht keine Notwendigkeit für gruppennützige Forschung. Er sagt, dass klinische Studien so konzipiert werden könnten, dass demenzkranke Teilnehmer einen individuellen Nutzen haben. Warum wäre dies aus Ihrer Sicht nicht möglich?

Maier: Das Argument bleibt mir unverständlich. Einerseits erfordert der Wirksamkeitsnachweis Placebo-kontrollierte Phase-III-Studien. Ohne solche Studien würde ich ja späteren Patienten Substanzen verordnen, die unwirksam sein können, die also keinen Nutzen und nur einen möglichen Schaden – in Form von Nebenwirkungen – hervorrufen könnten.

Andererseits hat natürlich jeder Patient, der an einer klinischen Studie teilnimmt, immer den individuellen Nutzen der intensivierten Zuwendung durch den Studienarzt und die zeitlich engmaschige, gründlichere Versorgung und Kontrolle. So werden Studien geplant und so werden sie auch durchgeführt. Das gilt immer – aber dies an sich ist kein ausreichender „Nutzen“. Es wird doch ein spezifischer, individueller Nutzen durch den eingesetzten Wirkstoff gefordert, der aber bei Placebo-kontrollierten Phase-III-Studien beim einzelnen Teilnehmer nicht oder höchstens zufällig erreicht wird.


Hinnerk Feldwisch-Drentrup, Autor DAZ.online
redaktion@daz.online


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