Interessenabwägung im Eilverfahren

Massives Untergewicht: Kasse muss für Dronabinol zahlen

Berlin - 31.07.2019, 16:30 Uhr

Cannabis als Medizin: Viele Gerichte befassen sich mit der Frage, wann die Anspruchsvoraussetzungen für eine Versorgung auf Kassenkosten erfüllt sind. (c / Foto: Tinnakorn / stock.adobe.com)

Cannabis als Medizin: Viele Gerichte befassen sich mit der Frage, wann die Anspruchsvoraussetzungen für eine Versorgung auf Kassenkosten erfüllt sind. (c / Foto: Tinnakorn / stock.adobe.com)


Das Sozialgesetzbuch V schreibt vor, unter welchen Voraussetzungen eine Versorgung mit medizinischem Cannabis auf Kassenkosten möglich ist. Ist offen, ob diese wirklich erfüllt sind, kann dennoch ein Anspruch auf Kostenübernahme bestehen. Das hat jedenfalls das Landessozialgericht Darmstadt in einem Eilverfahren eines lebensbedrohlich untergewichtigen Patienten mit einer seltenen Darmerkrankung entschieden. Bis das Gericht den Rechtsstreit in der Hauptsache entschieden hat, muss die Kasse die Kosten für Dronabinol vorläufig übernehmen.

Grundsätzlich kann ein schwer erkrankter gesetzlich Krankenversicherter mit dem THC-Arzneimittel Dronabinol versorgt werden, wenn entweder eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht oder eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome besteht. Diese Voraussetzungen nennt § 31 Abs. 6 SGB V für den Anspruch auf die Versorgung mit medizinischem Cannabis und damit die Kostenübernahme.  

Nun hat das Landessozialgericht Darmstadt entschieden, dass selbst wenn diese Voraussetzungen nicht nachgewiesen sind, in einem gerichtlichen Eilverfahren ein Anspruch bejaht werden kann. Bei der in einem solchen Verfahren vorzunehmenden Folgenabwägung komme der körperlichen Unversehrtheit nämlich besondere Bedeutung zu – und aus Sicht des Gerichts wiegt diese hier schwerer als die wirtschaftlichen Interessen einer Krankenkasse, für Dronabinol nicht zahlen zu müssen – jedenfalls vorrübergehend.

44 Kilogramm bei 1,80 Meter Körpergröße

In dem Verfahren ging es um einen 19-Jährigen, der seit seiner frühen Kindheit an einer seltenen Darmerkrankung leidet, die massive Bauchkrämpfe verursacht. Aufgrund der schweren Schmerzen wurde er unter anderem mit Opioiden behandelt. Dabei entwickelte er eine Abhängigkeit von Opioiden sowie eine Unterernährung. Im Jahr 2017 lag sein Body-Mass-Index (BMI) bei 16. Im September 2018 wurde ihm eine Therapie mit Dronabinol zur Besserung der Schmerzen, des Appetits und des Schlafs empfohlen. Seine Krankenkasse lehnte die Versorgung wegen der Gefahr einer Abhängigkeit von Cannabis ab – schließlich liege ja schon eine Suchterkrankung vor.

Der Patient legte erfolglos Widerspruch ein und klagte sodann gegen die Kasse. Zugleich machte er seine Forderung nach einer Dronabinol-Therapie, die er als Hartz IV-Empfänger nicht selbst bezahlen kann, im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes geltend. Denn bis über die Klage entschieden ist, kann einige Zeit ins Land gehen. Und sein Untergewicht bessert sich nicht: Der BMI liegt mittlerweile bei unter 14 – er bringt 44 Kilogramm bei 1,80 Meter Körpergröße auf die Waage. Doch das Landgericht wies den Eilantrag zunächst zurück. Nun hat das Landessozialgericht anders entschieden. Es verpflichtete die Krankenkasse, dem Mann vorläufig für ein Jahr, längstens jedoch bis zur rechtskräftigen Entscheidung im Hauptsacheverfahren, mit Dronabinol zu versorgen.

Nach Auffassung des Landessozialgerichts ist zwar vorliegend nicht geklärt, ob wirklich keine anderen Leistungen mehr zur Verfügung stehen beziehungsweise nicht mehr zur Anwendung kommen können. Unsicher sei auch, ob die Cannabis-Medizin eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf haben werde. Allerdings hält das Gericht diese Aussieht für „nicht ganz entfernt liegend“. Dies zu ermitteln sei Sache des Gerichts im Hauptsacheverfahren. Bei der im gerichtlichen Eilverfahren erforderlichen Folgenabwägung überwiege hier jedoch das Interesse des klagenden Versicherten.

Das Gericht verweist auch darauf, dass der behandelnde Arzt ausgeführt habe, die bereits während einiger Monate mittels Privatrezept durchgeführte Dronabinol-Behandlung bewirke eine Reduktion der Schmerzen sowie insbesondere eine Gewichtszunahme bei dem Versicherten. Es solle daher ein Behandlungsversuch über einen längeren Zeitraum erfolgen, damit die Wirkung der Dronabinol-Therapie auf den Krankheitsverlauf beziehungsweise die schwerwiegenden Symptome beurteilt werden könne.

Der Beschluss ist unanfechtbar.

Beschluss des Landessozialgerichts Darmstadt vom 18. Juli 2019, Az.: L 1 KR 256/19 B ER


Kirsten Sucker-Sket (ks), Redakteurin Hauptstadtbüro
ksucker@daz.online


Diesen Artikel teilen:


1 Kommentar

Furchtbar: Schließlich liege ja schon eine Suchterkrankung vor

von woewe am 01.08.2019 um 21:37 Uhr

"Seine Krankenkasse lehnte die Versorgung wegen der Gefahr einer Abhängigkeit von Cannabis ab – schließlich liege ja schon eine Suchterkrankung vor."

Wenn ich solche Behauptungen lese, kommt mir das Ko...
Schließlich sollte es sich sogar bis zu den Krankenkassen herumgesprochen haben, dass Cannabis, speziell THC, die Folgen einer Opioid-Abhängigkeit senken kann. Zwotens war die Opioid-Abhängigkeit kein selbst gewähltes Schicksal.
Drittens geht die körperliche Unversehrtheit - siehe Urteil - vor.

» Auf diesen Kommentar antworten | 0 Antworten

Das Kommentieren ist aktuell nicht möglich.