Vorbild Hamburg

Der Minister und die 1.000 Gesundheitskioske

Stuttgart - 29.09.2022, 07:00 Uhr

Karl Lauterbach (SPD), Bundesminister für Gesundheit, steht nach seinem Besuch vor dem Gesundheitskiosk im Stadtteil Billstedt. (Foto: Marcus Brandt / picture alliance)

Karl Lauterbach (SPD), Bundesminister für Gesundheit, steht nach seinem Besuch vor dem Gesundheitskiosk im Stadtteil Billstedt. (Foto: Marcus Brandt / picture alliance)


Im Koalitionsvertrag von SPD, FDP und Grünen wurde die Errichtung spezieller Anlaufstellen für eine medizinische Beratung in benachteiligten Regionen und Stadtteilen vereinbart. Sogenannte Gesundheitskioske sollen für eine Koordination der Leistungen und Beantwortung von Gesundheitsfragen sorgen. Doch die Pläne von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD), 1.000 Kioske in ganz Deutschland zu installieren, stoßen auf Kritik – auch in der Apothekerschaft. In der aktuellen DAZ werden die Einrichtungen unter die Lupe genommen.

Die Hamburger Gesundheitskioske verstehen sich als eine Anlaufstelle für Patientinnen, Patienten und ihre Angehörige bei gesundheitlichen und medizinischen Fragen. Gesundheitsberater und sogenannte Gesundheitslotsen bieten für unterschiedliche Themengebiete Hilfestellung an: von der Ernährungsberatung über die Begleitung von Schwangeren und Krebspatienten bis hin zur Hilfe für Menschen mit psychischen Problemen. Weitere Gedanken hinter der Idee sind die Verknüpfung von medizinischen und sozialen Sektoren sowie der Ausbau von präventiven Gesundheitsmaßnahmen. 

Hinter den Hamburger Gesundheitskiosken steht die „Gesundheit für Billstedt/Horn UG“. Kostenträger sind mehrere Krankenkassen, bei denen der Großteil der Anwohner versichert ist. In den Hamburger Stadtteilen Billstedt und Horn leben überdurchschnittlich viele Sozialleistungsempfänger, Alleinerziehende und Menschen mit Migrationshintergrund. Gleichzeitig sind dort aber weniger Haus- und Fachärzte ansässig. 

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Gesundheitskioske sollen Teil der Regelversorgung werden

Ein positiver Nutzen der Gesundheitskioske geht aus einem Evaluationsbericht des Hamburg Center for Health Economics (HCHE) der Universität Hamburg von 2021 hervor. So legt der Bericht den Schluss nahe, dass sich der Zugang zu Angeboten der Gesundheitsversorgung und die gesundheitlichen Chancen durch die Kioske verbessert hatten. Mittlerweile folgten auch andere Städte dem Hamburger Modell. So plant die Stadt Essen zwei Gesundheitskioske. Der Standort in Altenessen wurde bereits im April 2022 eröffnet, und für den Standort Katernberg ist eine Eröffnung im Herbst 2022 geplant. Auch in Aachen ist ein Gesundheitskiosk entstanden, der ebenfalls im April 2022 seine Tore geöffnet hat. 

Lauterbach will 1.000 Gesundheitskioske einrichten

Im August 2022 besuchte der amtierende Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) den Gesundheitskiosk im Hamburger Stadtteil Billstedt. Lauterbach will langfristig in ganz Deutschland rund 1.000 Gesundheitskioske für Patientinnen und Patienten in sozial benachteiligten Regionen einrichten. Diese Aussage steht im Einklang mit dem Koalitionsvertrag von SPD, FDP und Grünen, in dem vereinbart wurde, spezielle Anlaufstellen für eine medizinische Betreuung benachteiligter Regionen und Stadtteile zu errichten. 

Um wie viel Geld es geht, ergibt sich erst auf den zweiten Blick. Gemäß dem Bundesgesundheitsministerium soll das Geld zu 74,5 Prozent von der gesetzlichen Krankenkasse, zu 5,5 Prozent von den privaten Krankenversicherern und zu 20 Prozent von den Kommunen kommen. Der Betrag bleibt dabei offen. Gemäß einer Meldung des MDR schätzt Alexander Krauß, Sprecher der TK Sachsen, die Kosten auf 600.000 bis 700.000 Euro pro Kiosk und Jahr. Bei 1.000 Kiosken, die Lauterbach anstrebt, ginge es also jährlich um 600 bis 700 Millionen Euro für alle Kostenträger zusammen. 

Apotheker:innen und Ärzt:innen gegen Gesundheitskioske

Das sorgt für Kritik: Beim Deutschen Apothekertag vor zwei Wochen in München verabschiedeten die Delegierten unter anderem einen Antrag, in dem sie den Gesetzgeber auffordern, die ambulanten Strukturen der Gesundheitsversorgung, wie Praxen, Apotheken und ambulante Pflegeeinrichtungen, nachhaltig zu stärken. Dagegen sollen die „ohnehin knappen finanziellen Ressourcen gesetzlicher Krankenkassen und der Kommunen“ nicht für den Aufbau und den Unterhalt von Parallelstrukturen wie Gesundheitskioske eingesetzt werden. Viele der Leistungen, die sich die Politik zukünftig in den Gesundheitskiosken vorstellt, würden schon heute durch die Leistungserbringer erbracht, heißt es zur Begründung. Dabei seien auch die Apotheken eingebunden. Darüber hinaus könnten neuartige Leistungen auch kurzfristig durch diese erbracht werden. 

Aus der ärztlichen Standespolitik kommen ebenfalls deutliche Töne und laut Virchowbund macht die erste Krankenkasse nun ernst: In der vergangenen Woche wurde bekannt, dass die Ersatzkassen den Versorgungsvertrag mit dem Gesundheitskiosk in Hamburg-Billstedt gekündigt haben. Als Grund wird das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz genannt, das am vergangenen Freitag in erster Lesung im Bundestag beraten wurde. Mit dem Gesetz, das auch eine Erhöhung des Kassenabschlags von derzeit 1,77 Euro auf 2 Euro für die Dauer von zwei Jahren beinhaltet, soll ein drohendes Milliardenloch in den Kassen gestopft werden. 

Der Virchowbund ist einer der Initiatoren des Projekts – der Vorsitzende des Verbands, Dirk Heinrich, findet drastische Worte zum Vorstoß des Ministers: „Lauterbach zerstört mit seiner erratischen und inkonsistenten Politik die gute Versorgung ausgerechnet in sozialen Brennpunkten.“ Die unausgegorenen Eckpunkte und ein Finanzierungsgesetz, das die Kassen unter erheblichen Druck bringt, seien die Ursache dafür, dass sich nun Kassen aus einem sozialen Projekt mit nachgewiesener Versorgungsverbesserung verabschieden. In der Folge müssten voraussichtlich gut eingearbeitete und hoch motivierte Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Gesundheitskioskes entlassen werden. Das Schicksal des Projekts hänge jetzt an den Verträgen mit den verbliebenen Kassen.

Was nützen Gesundheitskioske wirklich?

In der aktuellen DAZ-Ausgabe werden die Gesundheitskioske unter die Lupe genommen. Was schwebt der Politik mit der Schaffung dieser Parallelstrukturen vor? Welchen Beitrag sollen die Lotsinnen und Lotsen in den Gesundheitskiosken leisten? 

DAZ-Redakteur und Apothekenwirtschaftsexperte Dr. Thomas Müller-Bohn kommt in seinem Kommentar zu dem Fazit: Gleichzeitig bewährte Strukturen zu schwächen und mit dem „gesparten“ Geld neue organisatorische Strukturen aufzubauen, ist bestimmt nicht effizient. Andererseits gibt es an manchen Standorten durchaus Bedarf an zusätzlicher sozialer Unterstützung beim Zugang zum Gesundheitssystem. Da die bestehenden Strukturen aber bewährt sind und ihre grundsätzliche Funktionsfähigkeit nicht bezweifelt wird, sollten diese Strukturen an den betroffenen Standorten gezielt ausgebaut werden. Eine ganz neue Struktur ist, nach Meinung Müller-Bohns, „wahrscheinlich die teuerste Option“.


Deutsche Apotheker Zeitung
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1 Kommentar

Gesundheitskioske

von Kuenen Michael am 30.09.2022 um 0:05 Uhr

Da wäre das Geld für Gesundheistkioske besser angelegt, wenn statt neuen Gesundheitskiosken den Apotheken wieder mehr zur Verfügung stehen würde. Das Apothekensterben hätte ein Ende. Diese Aufgaben, die sie bisher weitestgehende schon übernommen haben, wurden bisher noch nie bezahlt. Jeder selbstständige Apotheker sollte den Betrag einer A15-Besoldung als umsatzunabhängigen Beitrag zur flächendeckenden Versorgung und Beratung der Bürger bekommen. Damit würde die eigenständige Apotheke wieder attraktiver für Berufseinsteiger und die flächendeckende Versorgung würde wieder stabilisiert. Die Personalproblematik könnte entschärft werden.
Dann noch mein Vorschlag zur Finanzierung: nur noch 1oder 2 gesetzliche Krankenkassen für ganz Deutschland reichen. Die KK unterscheiden sich sowieso kaum noch und ich sehe nicht ein , dass soviel für Verwaltung von den Beiträgen der Versicherten bezahlt werden muss. Da stecken enorme Einsparungspotentiale !
Schafft die vielen Krankenkassen ab!
Dann könnten die Beiträge der Versicherten endlich wieder sinken. Die freigesetzten Mitarbeiter stünden dem Arbeitsmarkt wieder zur Verfügung.

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