Überblick über die Lage

Ein Jahr Krieg in der Ukraine: Apotheken fehlt es besonders an Personal und Strom

Düsseldorf - 24.02.2023, 07:01 Uhr

Eine zerstörte Apotheke nach einem Fliegerbombenangriff auf eine ukrainische Wohnsiedlung. (Foto: Alexey Lesik/ AdobeStock)

Eine zerstörte Apotheke nach einem Fliegerbombenangriff auf eine ukrainische Wohnsiedlung. (Foto: Alexey Lesik/ AdobeStock)


Der Überfall Russlands auf sein Nachbarland jährt sich am 24. Februar zum ersten Mal – wir haben mit ukrainischen Apothekern und anderen Gesundheitsberuflern sowie deutschen Hilfsorganisationen über die aktuelle Situation der Gesundheitsversorgung in der Ukraine gesprochen und wie die Hilfe aus Deutschland ankommt.

Zehntausende tote Soldaten und Zivilisten, zerstörte Städte und Dörfer, Millionen Männer, Frauen, Kinder und Ältere auf der Flucht, ständige Raketen- und Drohnenangriffe im gesamten Land, zerstörte Kraftwerke und Versorgungsleitungen – der völkerrechtswidrige Überfall Russlands auf sein Nachbarland, die Ukraine, hat Spuren hinterlassen. Am heutigen 24. Februar jährt sich der Beginn des Angriffskrieges zum ersten Mal und auch nach 365 Tagen Krieg in Europa ist kein Ende in Sicht.

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Spuren hat der Krieg dabei auch im Gesundheitswesen des Landes hinterlassen. Bereits rund sechs Wochen nach Kriegsbeginn hatte die Apothekerkammer der Ukraine, die All Ukrainian Pharmaceutical Chamber AUPC gemeldet, dass mehr als 4000 Apotheken im Land schließen mussten. Aktuelle Zahlen liegen nicht vor, es dürften aber in den vergangenen Monaten noch deutlich mehr geworden sein. „Der von der Russischen Föderation entfesselte Krieg hat dem ukrainischen Gesundheitssystem erheblichen Schaden zugefügt“, sagt Anastasiia Padchenko, Gynäkologin und Geburtshelferin am Kiewer Perinatalzentrum. „Die Besatzer schädigten 1160 medizinische Infrastruktureinrichtungen und weitere 160 wurden vollständig zerstört. Die Weltbank schätzt, dass der Gesundheitssektor Verluste von mehr als 1 Milliarde US-Dollar erlitten hat.“

Viele Fachkräfte kämpfen jetzt oder mussten fliehen

Außerdem fehle es an allen Ecken und Enden an Fachpersonal. „30.000 Mitarbeiter des Gesundheitswesens schlossen sich den Streitkräften der Ukraine (AFU) an oder meldeten sich als Freiwillige und rund 2.300 medizinische Fachkräfte gingen ins Ausland“, zählt Padchenko auf. Das macht sich auch in den verbleibenden Apotheken des Landes bemerkbar. „Da viele Menschen in die westlichen Regionen oder ins Ausland abwandern, gibt es einen Mangel an Personal, und diejenigen, die bereits im Ruhestand sind, werden oft gebeten, zu arbeiten“, berichtet Liudmyla Bilosh, Apothekerin in der Apotheke Nr. 1 (Blagodiya) in der ukrainischen Hauptstadt Kiew. Schwierigkeiten gebe es auch bei Stromausfällen oder Luftangriffen, sagt sie. „Wir sind gezwungen, die Apotheke bei Luftangriffen oder Stromausfällen zu schließen.“ Es sei nicht immer möglich, einen Generator zu installieren, der dieses Problem lösen würde, ergänzt Iryna Kraevska vom Großhandel ProPharma in Kiew.

Nicht nur Medikamente, auch medizintechnische Geräte und sogar ganze Krankenwagen hat Action Medeor in den vergangenen 12 Monaten in die Ukraine geliefert. (Foto: Action Medeor)

Mangel an qualifiziertem Personal, aber auch eine zunehmende Arbeitsbelastung der medizinischen Einrichtungen in den zentralen und westlichen Regionen aufgrund der Binnenmigration gibt auch Olena Delaynyk, Leiterin der Abteilung für Palliativmedizin des Kiewer Konsultations- und Diagnosezentrums, als große Probleme für die Gesundheitsversorgung an. Ferner die Probleme mit der Stromversorgung, die für die Notfallversorgung entscheidend sein könnten.

Die Notsituation des Krieges brächte es aber auch mit sich, dass die finanziellen Mittel für medizinische Leistungen zurückgingen, „da das Einkommen der Bevölkerung sinkt und die finanzielle Belastung steigt, was zu einer katastrophalen finanziellen Unsicherheit der Patienten führt“, sagt Padchenko. Und – „während des Krieges gehen die Menschen nicht zu den Vorsorgeuntersuchungen, sondern warten bis zur letzten Minute, weil sie Angst haben, das System zu belasten, und das System sich auf andere Prioritäten konzentriert. Dies führt dazu, dass Krankheiten erst in späteren Stadien entdeckt werden. Dies bedeutet eine längere und teurere Behandlung, die nicht immer wirksam ist“, sagt sie.

Menschen müssen entscheiden, ob sie heizen, essen oder Medikamente kaufen wollen

Dass die wirtschaftlichen Folgen des russischen Überfalls den Menschen – und damit auch den Apotheken – zu schaffen machen, das berichtet auch Markus Bremers, Sprecher des Deutschen Medikamenten Hilfswerks Action Medeor. Das Hilfswerk engagiert sich auf vielfältige Art in der Ukraine. 

„Die Apothekerinnen und Apotheker spüren die sozialen Probleme der Menschen. Viele haben ihre Jobs verloren und damit auch ihre soziale Sicherung. Dadurch, dass gleichzeitig die Lebenshaltungskosten in der Ukraine extrem gestiegen sind, sind viele Menschen in soziale Not geraten. Viele Menschen müssen entscheiden, ob sie heizen, Lebensmittel kaufen oder Medikamente kaufen – alles zusammen geht nicht. Zudem müssen aufgrund der großen Binnenflucht in vielen Städten nun viel mehr Menschen medizinisch versorgt werden als vorher. Auch dies führt zu Problemen“, sagt Bremers.

In Odessa unterstützt Action Medeor daher eine Sozialapotheke, die Medikamente kostenfrei an Bedürftige ausgibt. „Die Arzneien für Odessa werden lokal beschafft und mit Spenden finanziert, die Ausgabe erfolgt in enger Kooperation mit lokalen Apotheken. Wir kooperieren mit ihnen sehr eng, um die lokalen Wirtschaftsprozesse nicht zu stören und um alle Qualitätsanforderungen einzuhalten“, erklärt Bremers. Für das Personal in der Sozialapotheke Odessa organisiere man mittlerweile auch psychologische Unterstützung.

Jeden Morgen stehen vor der Sozialapotheke Odessa die Menschen Schlange, um an ihre Medikamente zu kommen. Igor Fedin (Bildmitte) von der Organisation „Your City“ erklärt, wie das Ausgabeverfahren funktioniert. (Foto: Action Medeor)

Indes berichten die Apotheker, dass die Versorgung mit Arzneimitteln mittlerweile keine Probleme mehr darstelle – abgesehen von den gleichen Lieferschwierigkeiten, die auch in Deutschland Apotheken und Patienten zu schaffen machen. „Bis etwa Mai, Juni 2022 gab es Probleme mit der Versorgung mit Medikamenten. Jetzt erhalten wir alle Medikamente entsprechend der Bestellung und können alle Wünsche der Patienten, die zu uns kommen, erfüllen“, sagt etwa die Kiewer Apothekerin Bilosh. „Es gibt keine Schwierigkeiten mit der Versorgung an sich, es kommt vor, dass Medikamente nicht verfügbar sind und die Kunden in den Apotheken auf der Suche nach einem Medikament umherlaufen. Die Versorgungsunterbrechungen sind jedoch ein vorübergehendes Phänomen“, sagt auch Apothekerin Khrystyna Chervinka, die in der Westukraine in Lviv die Apotheke „Nr. 4“ der D.S. Apothekenkette betreibt.

Igor Fedin und Inna Germaneau gründeten die Organisation „Your City”, die in Odessa eine Sozialapotheke betreibt und von Action Medeor aus Deutschland unterstützt wird. (Foto: Action Medeor)

„Die Vertriebsunternehmen sind nun in der Lage, den Apotheken alles, was sie benötigen, im Rahmen der eingehenden Bestellungen zu liefern“, sagt auch Großhändlerin Kraevska. Direkte Versorgungskanäle zu allen Regionen, einschließlich der Frontlinie, habe man wiederhergestellt, soweit dies aus Sicherheitsgründen möglich sei. Anders natürlich sehe die Situation im Osten der Ukraine aus, wo die unmittelbaren Kämpfe toben. „In den Gebieten, in denen Kampfhandlungen stattfinden, sind die Apothekenketten in der Regel zerstört und es gibt praktisch keine Zivilbevölkerung“, sagt sie.

Hilfsorganisationen haben geholfen, die Situation zu verbessern

Dass die Situation besonders bei der Versorgung mit Arzneimitteln sich wieder deutlich verbessert hat, daran haben auch die humanitären Hilfsorganisationen einen bedeutenden Anteil. Besonders in dem Bereich der Arzneimittelversorgung sind aus Deutschland unter anderem Action Medeor in Kooperation mit dem Verein Apotheker helfen sowie Apotheker ohne Grenzen engagiert. „Die Ukraine hatte vor dem Kriegsbeginn 2014 eine vergleichsweise gut funktionierende Medikamentenversorgung vor allem für häufige und chronische Krankheiten. Mit dem ersten Angriff Russlands auf die Krim und den Donbass 2014 begannen die Probleme, denn viele ukrainische Hersteller und Großhändler von Medikamenten haben beziehungsweise hatten ihren Sitz im Osten des Landes. Nach dem Angriff im Februar 2022 brachen etablierte Versorgungsketten dann zeitweilig zusammen“, erklärt Action Medeor-Sprecher Bremers. Inzwischen seien viele Versorgungswege auch unter Kriegsbedingungen wieder neu etabliert. An der Front sowie dort, wo viele Binnenflüchtlinge untergebracht seien, gerate die medizinische Versorgung der Menschen regelmäßig an Grenzen, sagt er. „Außerdem sind die Preise für praktisch alle Güter, inklusive Arzneimittel, auf dem privaten Markt deutlich gestiegen.“

Mittlerweile kooperiere auch der Verein Apotheker helfen mit Action Medeor. „Das heißt, eine Anfrage wird zusammen mit Action Medeor bearbeitet und eine Lieferung finanziert. Der Grund ist die aufgebaute Versorgungsstruktur direkt in der Ukraine“, sagt Apotheker-helfen-Geschäftsführer Andreas Wiegand. In den ersten Wochen und Monaten des Krieges haben man noch direkt aus Deutschland Krankenhäuser und vergleichbare Institutionen mit Arzneimitteln und medizinischen Hilfsgütern versorgt.

Auch Apotheker ohne Grenzen helfe durch das Beschaffen und Entsenden von lebenswichtigen Arzneimitteln an ukrainische Krankenhäuser zusammen mit Partnern, die die Logistik übernehmen, erklärt Margarethe Zinser, Ukraine-Projektkoordinatorin bei Apotheker ohne Grenzen. So habe man seit Beginn des Krieges insgesamt Arzneimittel im Wert von rund 2,5 Millionen Euro in die Ukraine geliefert. „Das sind knapp 200 Lieferungen innerhalb von zwölf Monaten. Transportiert wurden fast ausschließlich Analgetika, Tranexamsäure, Verbandsstoffe, Desinfektionsmittel, aber auch Medikation für Chroniker“, sagt sie. Vor allen zu Beginn sei der Bedarf an Arzneimitteln wahnsinnig hoch gewesen.

Hilfe geht über Arzneimittelsendungen hinaus

Action Medeor habe seit dem ersten Hilferuf eines Krankenhauses im ukrainischen Ternopil zu Beginn des Krieges mittlerweile insgesamt rund 450 Tonnen Arzneimittel in die Ukraine geliefert. „In Ternopil haben wir ein Verteilzentrum für medizinische Hilfsgüter errichtet. Inzwischen beliefern wir viele ukrainische Krankenhäuser auch direkt, also ohne die Zwischenstation im Verteilzentrum. Über beide Wege erreichen wir Abnehmer im ganzen Land. Insgesamt haben wir rund 250 Krankenhäuser mit unseren Hilfstransporten erreicht. Zusätzlich haben wir einen guten Kontakt zu staatlichen Stellen, die für die Versorgung von Krankenhäusern verantwortlich sind. Auch diese zentralen staatlichen Großhändler erhalten Spenden von Medikamenten, Verbrauchsmaterial und medizinischem Equipment“, berichtet Bremers.

Eine Medikamentenlieferung erreicht die westukrainische Stadt Ternopil. Von dort und über direkte Belieferungen hat das Hilfswerk inzwischen rund 250 Krankenhäuser und Gesundheitsstationen in der gesamten Ukraine erreicht. (Foto: Action Medeor)

Die Action Medeor hilft aber auch darüber hinaus: „In Odessa und den umliegenden Regionen kooperieren wir zudem mit verschiedenen lokalen Partnern. Die Projekte gehen hier über die Lieferung von Medikamenten hinaus, umfassen beispielsweise die Beschaffung von Öfen und Heizmaterial, die Instandsetzung von Wohnraum für Geflüchtete, die Ausgabe von Winterkleidung, die Ausgabe von Lebensmitteln, einen Mittagstisch für Kinder, die psychologische, medizinische und pharmazeutische Versorgung der Bevölkerung mit mobilen Kliniken und einer mobilen Apotheke. Diese Hilfen wollen wir auf die Gebiete Mykolajiw und Cherson ausweiten, die ersten Schritte dazu sind bereits gemacht“, sagt Bremers.

Dabei hat die humanitäre Hilfe auch einen interessanten Nebeneffekt für die ukrainischen Mediziner: „Dank der humanitären Hilfe aus den europäischen Ländern und den USA haben wir eine große Anzahl neuer Desinfektionsmittel und -produkte kennengelernt, die zur schnellen Heilung von Verbrennungen und anderen komplexen Verletzungen beitragen, sowie intravenöse Schmerzmittel, die die Lebensqualität der Patienten erheblich verbessern“, sagt Palliativmediziner Delaynyk.

Dass die Hilfe überhaupt ankommen kann, daran haben auch Vereinfachungen der Bürokratie auf beiden Seiten einen Anteil. Seitens der Bundesregierung gibt es etwa eine Allgemeinverfügung, die etwa auch die Ausfuhr von Betäubungsmitteln in die Ukraine oder benachbarte EU-Länder erleichtert. Und auch auf ukrainischer Seite gibt es Erleichterungen: „Es wurde ein vereinfachtes Verfahren zur Erlangung einer neuen Einfuhrlizenz eingeführt, und die Einfuhr von Arzneimitteln in Verpackungen mit englischer Aufschrift zur Verwendung im Krankenhaussektor wurde gestattet. Das Verfahren für die Einfuhr von Arzneimitteln im Rahmen der humanitären Hilfe zur Verwendung im Krankenhausbereich wurde ebenfalls vereinfacht“, sagt Großhändlerin Kraevska.

Und dass man dabei keine Arzneimittel versende, die auch hierzulande aktuell schwer zu bekommen sind, sei dabei selbstverständlich. „Solche Arzneimittel in ein anderes Land zu senden, halten wir für unangebracht, da sie ja ansonsten auch hier der deutschen Bevölkerung in der Versorgung fehlen würden“, erklärt etwa Apotheker ohne Grenzen-Projektkoordinatorin Zinser.

Herausforderung Wiederaufbau

Für die Zukunft sehen alle insbesondere den Wiederaufbau der Gesundheitsinfrastruktur als Herausforderung an. „Ihr Wiederaufbau wird Jahre dauern und sehr aufwändig sein. Als Hilfswerk werden wir uns an dem Wiederaufbau beteiligen, die Planungen dazu sind bereits begonnen“, sagt Action Medeor-Sprecher Bremers. „Die Hilfe zur Selbsthilfe durch den Aufbau unabhängiger, nachhaltiger Gesundheitsstrukturen ist ein großer Bestandteil unserer Arbeit in anderen Projekten weltweit. Daher wird Apotheker ohne Grenzen auch dabei in der Ukraine mitwirken“, bekräftigt auch Zinser.

Bis man damit beginnen könne, wollen alle Organisationen ihre Hilfe vor Ort aufrechterhalten. „Niemand kann heute wissen, wie lange der Krieg anhält und welche Bedarfe und Notstände sich daraus für die Arzneimittelversorgung entwickeln. Nur eines ist sicher: Wir von Apotheker helfen wollen und können auch in Zukunft helfen. Wir werden weiterhin regelmäßig den Bedarf vor Ort erheben und zielgerichtet bedienen“, sagt etwa Apotheker helfen-Geschäftsführer Wiegand.

Wer seinen Anteil zur Hilfe beitragen möchte, kann sich natürlich auf der einen Seite ehrenamtlich engagieren – ansonsten, so sagen die Sprecher der Organisationen, seien aber Geldspenden die beste Möglichkeit, die Hilfe vor Ort zu unterstützen. 

Hier können Sie spenden

Die Hilfsorganisationen sind weiterhin auf Geldspenden angewiesen. Wer sie unterstützen möchte, kann das beispielweise hier tun:

Apotheker ohne Grenzen

Hilfswerk der baden-württembergischen Apothekerinnen und Apotheker

  • IBAN DE51 3006 0601 0006 4141 41
  • BIC: DAAEDEDD
  • Verwendungszweck: UKRAINE

Apotheker helfen

Aktion Medeor

 


Volker Budinger, Diplom-Biologe, freier Journalist
redaktion@daz.online


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