Neue NICE-Empfehlung in Großbritannien

Gentamicin und Co. – Neugeborene mit Test auf Mutation vor Hörschädigung schützen?

Stuttgart - 04.05.2023, 09:15 Uhr

In England und Wales werden laut dem NICE jährlich etwa 1.249 Babys mit einer Mutation geboren, die bei Aminoglykosid-Therapie einen Hörschaden begünstigen kann. (Foto: Bostan Natalia / AdobeStock)

In England und Wales werden laut dem NICE jährlich etwa 1.249 Babys mit einer Mutation geboren, die bei Aminoglykosid-Therapie einen Hörschaden begünstigen kann. (Foto: Bostan Natalia / AdobeStock)


Gentamicin und Co. können bei Früh- und Neugeborenen zu einer Hörschädigung führen, wofür eine A1555G-Mutation als prädisponierender Faktor gilt. In Großbritannien wird deshalb nun vor Beginn einer Aminoglykosid-Therapie auf diese Mutation getestet. Wäre ein solches Screening auch hierzulande denkbar? Die DAZ hat mit Prof. Dr. Michael Zemlin gesprochen, der federführend an der S2k-Leitlinie „Bakterielle Infektionen bei Neugeborenen“ beteiligt war.

Gentamicin und Co. können bei systemischer Therapie ototoxische (den Hör- und/oder Gleichgewichtssinn schädigende) und nephrotoxische Neben­wirkungen hervorrufen. Diese lassen sich darauf zurückführen, dass sich Aminoglykoside selektiv in der Peri- und Endolymphe des Innenohrs bzw. in Zellen des proximalen Tubulus der Niere anreichern können. Als schädigende Mechanismen vermutet man unter anderem die Hemmung der Proteinsynthese und die Bildung reaktiver Sauerstoff- und Stickstoffspezies. 

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Im Gegensatz zu Nierenschäden, die meist reversibel sind, sind Gleichgewichts- und Hörstörungen nach einer anfänglichen reversiblen Phase irreversibel, wenn die Behandlung weitergeführt wird. Abhängig sind die oto- und nephrotoxischen Effekte von der Gesamtdosis des Wirkstoffs und dem Plasmaspiegel am Ende des Dosierungsintervalls, dem sogenannten Talspiegel. Ein therapeutisches Drugmonitoring ist daher angezeigt bei Neugeborenen, bei eingeschränkter Nierenfunktion sowie unter hochdosierter Therapie [1].

Wie führt die genetische Prädisposition zu Hörschäden?

Laut der S2k-Leitlinie „Bakterielle Infektionen bei Neugeborenen“ sind die Risiken für eine Oto- oder Nephrotoxizität bei Gentamicin „als sehr gering einzustufen“, wenn ein Nierenversagen ausgeschlossen ist und der Talspiegel, der vor der zweiten oder dritten Gabe bestimmt wurde, im Ziel­bereich liegt [2]. Doch trotz dieser präventiven Maßnahme kann es bei genetischer Prädisposition zu einer Hörminderung durch Aminoglykoside kommen. Bei Menschen mit einer A1555G-Mutation ist die ribosomale RNA in den Mitochondrien derart verändert, dass Aminoglykoside ähnlich wie bei bakteriellen Ribosomen angreifen können. Dadurch kommt es bei der Translation zu Ablesefehlern, und in der Folge sterben Haarzellen des Innenohrs ab. Ein irreversibler Schaden tritt rasch ein. Doch auch ohne Therapie mit dieser Antibiotika-Klasse kann es bei Menschen mit A1555G-Mutation im Laufe des Lebens zu Hörschäden kommen [1].

Neuer Test mit Ergebnis in unter einer Stunde 

Um bei Früh- bzw. Neugeborenen Hörminderungen vorzubeugen, empfiehlt das National Institute for Health and Care Excellence (NICE) in Großbritannine seit Kurzem, vor einer Aminoglykosid-Therapie einen molekulardiagnostischen In-­Vitro-Test auf diese Mutation durch­zuführen [3, 4]. Bisherige Laborunter­suchungen sind zu zeitaufwendig, als dass man mit dem Ansetzen einer Antibiose auf die Ergebnisse warten könnte. Bei dem neuen Test, für den eine DNA-Probe mittels Wangenabstrich gewonnen wird, soll das Ergebnis in unter einer Stunde (laut Hersteller innerhalb von 26 Minuten) vorliegen [5]. Wird eine A1555G-Mutation festgestellt, kann ein alternatives Antibiotikum gegeben werden. Der breitere Einsatz alternativer Antibiotika ist allerdings durch Resistenzen limitiert.

In England und Wales werden laut dem NICE jährlich etwa 1.249 Babys mit der genannten Mutation geboren, die bei einer Infektion und Behandlung mit einem Aminoglykosid einen Hörschaden erleiden könnten [4]. Bisher wird die Genmutation erst fest­gestellt, nachdem Säuglinge einen Hörverlust nach einer Gentamicin-Therapie erlitten haben.

Interview

Die DAZ hat mit dem Direktor der Klinik für Allgemeine Pädiatrie und Neonatologie des Universitätsklinikums des Saarlandes und Vizepräsidenten der Gesellschaft für Neonatologie und Pädiatrische Intensivmedizin, Prof. Dr. Michael Zemlin, darüber gesprochen, welche Relevanz das Thema in Deutschland hat. 

Das Interview lesen Sie in der DAZ 2023, Nr. 17, S. 24.

Literatur

[1] Geisslinger G, Menzel S, Gudermann T, Hinz B, Ruth P. Mutschler Arzneimittelwirkungen. Pharmakologie – Klinische Pharmakologie – Toxikologie. 11., völlig neu bearbeitete Auflage 2020, Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft Stuttgart

[2] Bakterielle Infektionen bei Neugeborenen. S2k-Leitlinie der Gesellschaft für Neonatologie und Pädiatrische Intensivmedizin, der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie, der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin und der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe, AWMF-Register Nr. 024/008, Stand: April 2018

[3] Sayburn A. Newborn babies to be genetically tested to prevent gentamicin-associated deafness. Nachricht des Pharmaceutical Journal, 15. Februar 2023

[4] NICE recommends genetic test to prevent newborn babies going deaf. Nachricht des National Institute for Health and Care Excellence, 9. Februar 2023

[5] Genedrive MT-RNR1 ID Kit for detecting a genetic variant to guide antibiotic use and prevent hearing loss in babies: early value assessment. Evalution des National Institute for Health and Care Excellence, 30. März 2023

[6] Göpel et al. Mitochondrial mutation m.1555A>G as a risk factor for failed newborn hearing screening in a large cohort of preterm infants. BMC Pediatr 2014;14:210, doi: 10.1186/1471-2431-14-210


Desiree Aberle, Apothekerin, Redakteurin DAZ
redaktion@daz.online


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