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TSH im Sommerloch?
Warum Schilddrüsen-Werte mehrfach gemessen werden sollten
Dass Vitamin-D-Spiegel im Winter niedriger sind als im Sommer, gehört zum Allgemeinwissen. Dass auch Werte des Thyreoidea-stimulierenden Hormons (TSH) abhängig von den Jahreszeiten schwanken können, dürfte hingegen für viele neu sein. Was das in der Praxis für die Behandlung einer latenten Hypothyreose bedeutet, lesen Sie hier.
Beispielsweise die Einnahme von Biotin kann im Labor zu falschen TSH-Werten (Thyreoidea-stimulierendes Hormon) führen. Da darauf in den Produktinformationen mittlerweile hingewiesen wird, dürfte das Apotheker:innen und Ärzt:innen nicht überraschen [1]. Weniger bekannt dürfte jedoch sein, worauf die US-amerikanische „Yale School of Medicine“ seit Frühjahr dieses Jahres aufmerksam macht.
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Einer Mitteilung vom 31. März zufolge weisen neue Forschungsergebnisse darauf hin, dass TSH-Werte saisonalen Schwankungen unterliegen, die in Labortests nicht berücksichtigt würden. In der Folge könnten 90 Prozent der Levothyroxin-Patient:innen in den USA unnötig Arzneimittel gegen eine (latente) Hypothyreose einnehmen, heißt es.
TSH-Werte im Januar und Februar am höchsten
Laut der Mitteilung werden im Winter typischerweise höhere TSH-Werte gemessen als im Sommer. „TSH hat eine so hohe biologische Variabilität, die wir jahrelang nicht berücksichtigt haben“, wird Dr. Joe El-Khoury zitiert, „wir müssen das, was wir für normal hielten, neu überprüfen.“ El-Khoury ist unter anderem außerordentlicher Professor für Labormedizin an der „Yale University School of Medicine“. Ausführlich äußert er sich zu der Problematik in einem Brief, der im März im Journal „Clinical Chemistry“ veröffentlicht wurde.
Darin macht er auf eine Studie aufmerksam, die im „Journal of the Endocrine Society“ erschienen ist. Diese Studie demonstriere an rund 7000 gesunden japanischen Teilnehmer:innen, mit der Jahreszeit schwankende TSH-Werte. Demnach erreichen die TSH-Werte im Januar und Februar auf der Nordhalbkugel ihren Höhepunkt, während sie von Juni bis August am niedrigsten sind. Es sei eine Änderung von fast zwei Einheiten möglich (5,2 mU/l bis 3,4 mU/l). Freies Thyroxin (fT4) habe sich dabei im Gegensatz zu TSH als relativ stabiler Wert erwiesen.
El-Khoury gibt zudem zu bedenken, dass auch das Alter, das Geschlecht, die Tageszeit und verschiedene Erkrankungen das TSH vorübergehend erhöhen können. Als Fazit rät El-Khoury dazu, sich bei leicht erhöhten TSH-Werten nach zwei bis drei Monaten erneut testen zu lassen, bevor Levothyroxin verordnet wird [2,3,4].
Was empfiehlt die deutsche Leitlinie?
In der aktuellen deutschen S2k-Leitlinie „Erhöhter TSH-Wert in der Hausarztpraxis“ werden die TSH-Referenzwerte mittlerweile in Abhängigkeit vom Alter angegeben. Bis zu 70 Jahren gilt ein TSH-Wert über 4,0 mU/l als erhöht. Ab 70 Jahren dürfen es dann 5,0 mU/l sein und ab 80 Jahren 6,0 mU/l. Es wäre El-Khoury zufolge also möglich, dass jemand unter 70 Jahren im Winter einen TSH-Wert von 5,0 mU/l hat, im Sommer aber mit 4,0 mU/l wieder im Referenzbereich liegt.
Zusätzlich gilt es zu bedenken, dass nicht jeder erhöhte TSH-Wert einer Therapie bedarf. Asymptomatische Patient:innen mit TSH-Werten ≤ 10 mU/l sollten unabhängig vom Alter laut Leitlinie nicht mit Schilddrüsenhormonen substituiert werden. Im Sinne von El-Khourys Brief heißt es in der deutschen Leitlinie:
„Bei Erstbefund eines Serum-TSH-Wertes über dem jeweiligen altersspezifischen Referenzwert und ≤ 10,0 mU/l sowie unauffälligen anamnestischen Befunden sollte zunächst eine Wiederholungsmessung des TSH-Wertes unter Beachtung der Einflussfaktoren zur Verifizierung des Erstergebnisses erfolgen.“
Und auch bei einem Erstbefund über 10 mU/l soll laut Leitlinie eine Wiederholungsmessung erfolgen – in diesem Fall jedoch begleitet von einer weiterführenden Diagnostik. Zudem sollte „zur weiteren Abklärung der Hypothyreose“ einmalig das fT4 bestimmt werden. Zum Zeithorizont heißt es, dass das TSH bei latenter Hypothyreose nach sechs bis zwölf Monaten nochmals kontrolliert werden soll, sofern keine Therapie begonnen wurde. So sollen laut Leitlinie vorübergehende Ursachen für die TSH-Erhöhung, wie akute Erkrankungen und Arzneimittel, ausgeschlossen werden. Das Kontrollintervall könne nach umfassender Aufklärung der Patient:innen auf deren Wunsch auch verlängert werden [5,6].
Arzneimittel und weitere Einflussfaktoren auf den TSH-Wert
Ab wann ein TSH-Wert (Thyreoidea-stimulierendes Hormon) ein Signal dafür ist, dass eine behandlungsbedürftige Schilddrüsenunterfunktion vorliegt, wird bereits seit Jahren diskutiert. Denn sowohl eine therapeutisch verursachte Hyperthyreose als auch eine Hypothyreose können beispielsweise das Risiko für kardiovaskuläre Mortalität steigern. Über- oder Unterbehandlung mit Schilddrüsenhormonen müssen folglich vermieden werden [7,8].
Neuere Studien haben laut El-Khoury keinen Nutzen einer Levothyroxin-Behandlung bei TSH-Werten unter 7,0-10,0 mIU/l festgestellt. Auch die deutsche Leitlinie erklärt, dass eine Pathologisierung allein anhand von vom Referenzbereich abweichender TSH-Werte nicht zu rechtfertigen ist:
„Die Bewertung der individuellen TSH-Werte sollte unter Berücksichtigung des Lebensalters, des fT4-Wertes, der klinischen Symptome, des Body Mass Index (BMI), der Medikation, der Einschränkung der gesundheitsbedingten Lebensqualität und des gesundheitlichen Allgemeinzustands (Vorliegen akuter Erkrankungen, Komorbiditäten) erfolgen. Eine Pathologisierung allein anhand vom Referenzbereich abweichen der TSH-Werte ist nicht zu rechtfertigen.“
Zudem macht auch die Leitlinie darauf aufmerksam, dass sich die TSH-Sekretion über den Tag und über das Jahr ändert. Das TSH korreliere außerdem positiv mit dem Gewicht. Allerdings müssen TSH-Werte nicht immer „falsch“ hoch sein. Hochdosierte Acetylsalicylsäure (4x1000mg/d), Heparin, Glucocorticoide und Biotin sollen den TSH-Wert laut Leitlinie senken. Bei einer akuten und schweren Infektion können die TSH-Werte zunächst niedriger ausfallen, anschließend kann es jedoch zu einer TSH-Erhöhung kommen. Wurden Patient:innen aus dem Krankenhaus entlassen, sollen erhöhte TSH-Werte deshalb nach vier Wochen nochmals kontrolliert werden. Zudem ist zu bedenken, dass Behandlungen mit Thyreostatika, Zytokinen, Lithium, Amiodaron, Tyrosinkinaseinhibitoren oder Checkpoint-Inhibitoren laut Leitlinie zu einer Hypothyreose führen können. Gleiches gilt für extremen Iod- und Selenmangel, der in Deutschland laut Leitlinie aber sehr selten ist [5,10].
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Es scheint also sinnvoll zu sein, TSH-Werte mehrfach zu messen und nicht voreilig – bei Verdacht auf eine latente Hypothyreose – eine Therapie mit Schilddrüsenhormonen einzuleiten. In diesem Kontext halten es manche Expert:innen sogar für sinnvoll, bereits bestehende Therapien mit Schilddürsenhormonen zu hinterfragen [9].
Literatur
[1] Moll D. Biotin, Johanniskraut und PPI – neue Wechselwirkungshinweise für L-Thyroxin. DAZ.online 17.01.2023, www.deutsche-apotheker-zeitung.de/news/artikel/2023/01/17/biotin-johanniskraut-und-ppi-neue-wechselwirkungshinweise-fuer-l-thyroxin
[2] Yale School of Medicine. 21 Million Americans May Take a Hypothyroidism Drug They Don’t Need. Mitteilung vom 31.03.2023, medicine.yale.edu/news-article/21-million-americans-may-take-a-hypothyroidism-drug-they-dont-need/
[3] El-Khoury J. Seasonal Variation and Thyroid Function Testing: Source of Misdiagnosis and Levothyroxine Over-Prescription, Clinical Chemistry. 2023;69:537-538, doi.org/10.1093/clinchem/hvad017
[4] Yamada S, Horiguchi K, Akuzawa M et al. Seasonal Variation in Thyroid Function in Over 7,000 Healthy Subjects in an Iodine-sufficient Area and Literature Review. Journal of the Endocrine Society. 2022;6:1-8, doi.org/10.1210/jendso/bvac054
[5] S2k-Leitlinie Erhöhter TSH-Wert in der Hausarztpraxis, Stand 01.04.2023, gültig bis 31.05.2027, register.awmf.org/de/leitlinien/detail/053-046
[6] Gnegel G. Latente Hypothyreose – Schilddrüsenhormone ja oder nein? DAZ.online 05.05.2023, www.deutsche-apotheker-zeitung.de/news/artikel/2023/05/05/latente-hypothyreose-schilddruesenhormone-ja-oder-nein
[7] Bruhn C. L-Thyroxin bei grenzwertigem TSH? DAZ 2013;51:38, www.deutsche-apotheker-zeitung.de/daz-az/2013/daz-51-2013/l-thyroxin-bei-grenzwertigem-tsh
[8] Leopoldt D. Vorsichtig mit Schilddrüsenhormonen. DAZ 2022;38:25, www.deutsche-apotheker-zeitung.de/daz-az/2022/daz-38-2022/vorsichtig-mit-schilddruesenhormonen
[9] Rausch R. L-Thyroxin doch nicht für immer und ewig? DAZ.online 28.05.2021, www.deutsche-apotheker-zeitung.de/news/artikel/2021/05/28/l-thyroxin-doch-nicht-fuer-immer-und-ewig
[10] Tucker M. Saisonale TSH-Schwankungen können zu unnötigen Hormon-Verordnungen führen – Plädoyer für häufigere Bestimmungen. Medscape 4. Aug 2023, deutsch.medscape.com/artikelansicht/4912595
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