Arzneimittelversorgung

EU-Pläne und Habecks Strategiepapier: Pharmaindustrie bleibt kritisch

Berlin - 25.10.2023, 15:15 Uhr

Viele Arzneimittel werden heute in China hergestellt. Brüssel und Berlin wollen die Produktion wieder vermehrt nach Deutschland und in die EU holen. (Symbolfoto: imago images / NurPhoto)

Viele Arzneimittel werden heute in China hergestellt. Brüssel und Berlin wollen die Produktion wieder vermehrt nach Deutschland und in die EU holen. (Symbolfoto: imago images / NurPhoto)


Durch die heftigen Lieferengpässe sind in jüngster Zeit die Produktionsbedingungen der Pharmaindustrie in den Fokus gerückt. Sowohl die EU-Kommission als auch das Bundeswirtschaftsministerium haben nun Pläne angekündigt, um die Situation zu verbessern, aber mehr Geld wollen sie nicht in die Hand nehmen. Die Pharmaverbände begrüßen die Initiativen zwar – wollen aber abwarten, was am Ende konkret herauskommt.

In der deutschen Industrie ist die von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) ausgerufene „Zeitenwende“ insgesamt nicht sehr gut angekommen. Unter anderem die stark angestiegenen Energiekosten machen ihr zu schaffen. Neben Scholz stand insbesondere Wirtschaftsminister Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen) in der Kritik. Nun legte er einen Debattenvorschlag vor: „Industriepolitik in der Zeitenwende“, so der schnörkellose Titel des Strategiepapiers. Zwei Themen stehen im Fokus: Zum einen die „tiefgreifende Veränderung der internationalen geopolitischen und -ökonomischen Wirklichkeit“, deren Ausdruck unter anderem die „anhaltend höheren Energiepreise“ seien. Zum anderen die „Transformation zur Klimaneutralität“, die zwar langfristig den Wohlstand erneuere, „im Übergang aber auch große Anstrengungen und Kosten für die Industrie und ihre Beschäftigten“ verursache.

Die deutsche Pharmaindustrie verfolgt diese Entwicklungen mit besonderer Aufmerksamkeit. Sie ächzt nicht erst seit der sogenannten Zeitenwende unter Mehrbelastungen: Spätestens seit der Verabschiedung des GKV-Finanzstabilisierungsgesetzes ist man dort nicht allzu gut auf die gegenwärtige Bundesregierung zu sprechen. In Habecks Papier nun wird sie als „starke Treiberin der Innovation“ bezeichnet – Balsam für die Seele. Die „Attraktivität des Pharmastandorts Deutschland“ soll gesteigert werden, indem „die Rahmenbedingungen für eine starke, nachhaltige und international wettbewerbsfähige Pharmaindustrie verbessert werden“. Genannt wird in diesem Zusammenhang unter anderem die „Weiterentwicklung des EU-Vergaberechts für kritische Arzneimittel“.

EU will Produktion zurückholen – aber wie?

Hinzu kommt: Auch in der EU arbeitet man derzeit an Gesetzesvorhaben und Richtlinien, die für die arzneimittelherstellende Industrie von Bedeutung sind. So kam die EU-Kommission am Mittwoch beispielsweise mit einem Papier um die Ecke, das den Arzneimittelmangel ins Visier nimmt. Sie sieht unter anderem einen „freiwilligen Solidaritätsmechanismus für Arzneimittel“ zwischen den Mitgliedsstaaten vor. Insgesamt sei das Ziel, die Produktion wieder verstärkt in die EU zu holen. Ohnehin plant die Kommission derzeit ein großes Pharmapaket. Die Pharmaindustrie zeigte sich von den Plänen bislang allerdings wenig beeindruckt. Am 3. Oktober veröffentlichte der europäische Pharmaverband EFPIA eine Stellungnahme, in der er erklärte, „dass die Vorschläge in ihrer jetzigen Form den Zugang der Patienten zu Arzneimitteln und die Innovation in der EU beeinträchtigen würden“.

Industriestrategie „mehr als überfällig“

Auch die deutschen Verbände sind kritisch gegenüber den Plänen aus Brüssel, aber auch Berlin. Der Verband der forschenden Pharma-Unternehmen (Vfa) erklärte bezüglich Habecks Debattenvorschlag, eine Industriestrategie sei „mehr als überfällig“. Präsident Han Steutel sagte laut einer Pressemitteilung vom Mittwoch, es sei richtig, Innovationskraft ins Zentrum zu rücken und die neuen geopolitischen Realitäten ins Kalkül einzubeziehen. Der Verband fordert „erstens einen klaren Kompass hinsichtlich des uneingeschränkten Schutzes geistigen Eigentums, zweitens klare, effiziente und schnelle bürokratische Prozesse in der Genehmigung von Investitions- und Forschungsvorhaben, und drittens einen stabilen, planbaren und innovationsfreundlichen Gesundheitsmarkt“. Die Ankündigungen Habecks müssten aber auch umgesetzt werden. Zudem regte Steutel „die Einsetzung eines konkreten Gesprächsformats zwischen der Bundesregierung und der Pharmabranche zur Stärkung des Standorts“ an.

Deutschland gegenüber Nachbarstaaten „unsolidarisch“

Pro Generika unterstützt den Ansatz des Wirtschaftsministeriums ebenfalls, wie Geschäftsführer Bork Bretthauer gegenüber der DAZ erklärte. „Besonders wichtig ist, dass Robert Habeck die geopolitischen Risiken und ihre Folgen für die Versorgung hierzulande klar hervorhebt.“ Die Pandemie habe vielen die Augen geöffnet. Es sei richtig, dass das Ministerium „die Versorgungssicherheit bei besonders wichtigen Arzneimitteln – von denen bekanntlich die allermeisten Generika sind – unter anderem durch Anpassung des EU-Vergaberechts vorantreiben will“.

Bretthauer begrüßt mit Blick auf die Pläne aus Brüssel, dass es dort „beim Thema Engpässe endlich vorangeht“, beispielsweise indem in einem koordinierten Verfahren wichtige Arzneimittel beschafft und eingelagert werden sollen. Kritik äußerte er in diesem Zusammenhang an Deutschland, das sich in dieser Frage „gegenüber unseren europäischen Nachbarn unsolidarisch verhalten“ hätte, „indem es vorgeprescht ist und Generikaunternehmen mit dem ALBVVG sechs Monate Lagerhaltung ausschließlich für Deutschland auferlegt hat“. Das würde mögliche Engpassprobleme in anderen Ländern verschärfen.

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Gut findet Pro Generika demnach auch, dass die „hiesige Produktion lebenswichtiger Arzneimittel mit Investitionszuschüssen unterstützt werden soll“. Allerdings müssten die höheren Produktionskosten sich auch in den Erstattungspreisen spiegeln, ansonsten hätte man „Zombiefabriken“, die „dauerhaft finanziell unterstützt werden müssen“.

Doppelstrukturen vermeiden

Auch der Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie (BPI) steht den Plänen der EU-Kommission zwiespältig gegenüber. An dem Maßnahmenpaket gegen Lieferengpässe begrüße man „insbesondere die regulatorischen Flexibilitäten, die es den Mitgliedstaaten ermöglichen, Ausnahmeregelungen zu treffen, um schneller Arzneimittel für Patientinnen und Patienten verfügbar zu machen“, hieß es gegenüber der DAZ. Sinnvoll sei zum einen, dass Leitlinien zum EU-Vergaberecht erstellt werden sollen, es komme aber auf die genaue Ausgestaltung an, und zum anderen, dass eine strategische Allianz geschaffen werden soll, wobei aber die Industrie miteinbezogen werden müsse. „Wichtig ist, Doppelstrukturen auf EU-Ebene und in den jeweiligen Mitgliedstaaten zu vermeiden und die Prozesse so gut es geht zu harmonisieren.“

Wie auch Pro Generika sieht der BPI insbesondere die Pläne zur Bevorratung kritisch. Dies habe man bereits beim Lieferengpassbekämpfungsgesetz (ALBVVG) deutlich gemacht, so der BPI. „Wenn betreffende Arzneimittel, Wirkstoffe sowie Vorprodukte nicht lieferbar sind, können sie auch nicht gehortet werden.“ Die Bevorratungspflichten seien nur mit bürokratischem Mehraufwand verbunden und verhinderten, dass Arzneimittel beispielsweise in andere Länder geliefert werden, wo sie fehlen und dringend gebraucht werden.

Herausforderungen sind nicht neu

Mit Blick auf Habecks Strategiepapier stellt der BPI fest, es sei „seit langer Zeit ein großer Fortschritt, dass die pharmazeutische Industrie von der Politik nicht nur primär unter Kostenaspekten bewertet wird, sondern in ihrer volkswirtschaftlichen und sozialen Bedeutung anerkannt wird (Wertschöpfung, Versorgung und Gesunderhaltung der Bevölkerung)“. Hingewiesen wird darauf, dass die Herausforderungen, die in vielen Branchen derzeit sichtbar würden, für die pharmazeutische Industrie nicht neu seien. Deswegen sei bereits viel Produktion in asiatische Länder abgewandert, „um ansatzweise kostendeckend zu wirtschaften“. Nachdem der Wirtschaftsminister die Probleme erkannt habe, bedürfe „es noch eines ausreichenden Tempos seitens der Regierung“. Der BPI empfiehlt demnach, „den Schwerpunkt hier nicht auf neue bürokratische Details, sondern mehr auf ökonomische Gesetzmäßigkeiten zu richten“.

Der Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands der Arzneimittel-Hersteller (BAH), Hubertus Cranz, sagte gegenüber der DAZ, dass man die Bemühungen auf europäischer Ebene grundsätzlich begrüße. Allerdings müssten sich beispielsweise das erweiterte Mandat der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) zur Bekämpfung von Lieferengpässen noch in der Praxis bewähren. Was in den Plänen der EU-Kommission aber unberücksichtigt bleibe, „dass durch sich abzeichnende neue legislative Maßnahmen wie bspw. die Revision der kommunalen Abwasserrichtlinie sich die Versorgungssituation durch erhebliche zusätzliche Belastungen der Arzneimittelhersteller nochmals verschlechtern dürfte“. Es fehle Brüssel „der Mut, Korrekturen an den eigenen Vorschlägen vorzunehmen“. Überhaupt ist der BAH kritisch: Ohne eine „umfassende Reform bei der Preisbildung im Bestandsmarkt“ werde sich die Lage hinsichtlich der Lieferengpässe nicht wirklich verbessern lassen, so Cranz.


Matthias Köhler, DAZ-Redakteur
redaktion@daz.online


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1 Kommentar

Lieferengpässe

von Dr. Joachim Siegert am 25.10.2023 um 18:45 Uhr

Es erscheint dringend geboten nicht nur bei den direkten Kosten den billigsten Lieferanten in dieser Welt auszusuchen, sondern auch die Umweltbelastungen und Ausbeutung von (Zwangs-)Arbeitern die damit verbunden sein können. Ein übermäßiger CO2 Ausstoß an anderer Stelle führt auch hier zu einer weiteren Klimaänderung, auch in Asien in die Flüsse eingeleitete Umweltgifte landen irgendwann an unseren Küsten.
Wenn ich nicht direkt auf den Umweltschutz vor Ort und die Arbeitsbedingungen vor Ort Einfluss nehmen kann sollten wir wenigstens dadurch entstehende Gewinne über Einfuhrzölle abschöpfen, um mit diesen Geldern Umweltprobleme und Migrationsfolgen abzumildern.

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