Produktion von fetalem Hämoglobin

CRISPR-Cas9-Gentherapie bei Sichelzellanämie lässt hoffen

Stuttgart - 01.11.2023, 09:15 Uhr

Die typische Sichelzellen-Form eines Erythrozyten bei Sichelzellanämie. (Foto: SciePro / AdobeStock)

Die typische Sichelzellen-Form eines Erythrozyten bei Sichelzellanämie. (Foto: SciePro / AdobeStock)


Eine Knochenmarktransplantation kann die genetische Erkrankung Sichelzellanämie heilen. Weil Spender fehlen und lebensbedrohliche Nebenwirkungen auftreten können, wird an Alternativen geforscht. Patienteneigene Stammzellen mit der Genschere CRISPR-Cas9 zu modifizieren, ist ein vielversprechender Ansatz. 

Vor der Geburt werden Erythrozyten hauptsächlich in der Leber produziert. Fetales Hämoglobin besteht aus zwei Alpha-Globinen und zwei Gamma-Globinen. Personen mit der Erbkrankheit Sichelzellanämie sind pränatal noch gesund, da sich die für die Erkrankung verantwortliche Mutation im Gen für das Beta-Globin befindet. Ist das Kind geboren, werden die Erythrozyten im Knochenmark hergestellt. Das adulte Hämoglobin baut sich aus zwei Alpha-Globinen und zwei Beta-Globinen auf. Bei Patienten mit Sichelzellanämie wird nach der Geburt instabiles Hämoglobin produziert, das bei Sauerstoffmangel verklumpt. Die roten Blutzellen weisen die für die Erkrankung namensgebende Sichelzellform auf. Die deformierten Erythrozyten verstopfen Kapillaren und können zu schmerzhaften Durchblutungsstörungen (Sichelzellkrise, auch vasookklusive Krise) und hämolytischer Anämie führen. Ischämien schädigen innere Organe wie Milz, Leber, Lunge und Herz bereits im Jugend- und jungen Erwachsenenalter. Daher haben Personen mit Sichelzellkrankheit eine um 30 Jahre verkürze Lebenserwartung verglichen mit der (amerikanischen) Normalbevölkerung.

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Durch eine Knochenmarktransplantation kann die Sichelzell-Erkrankung kurativ behandelt werden. Jedoch sind geeignete Spender rar. Nach einer Knochenmarkspende kann es zu einer Graft-Versus-Host-Disease oder einer anderen Immunreaktion gegen die transplantierten Stammzellen kommen [1, 2, 4, 5].

Besser verträgliche autologe Stammzelltherapie?

Bei einer patienteneigenen Stammzellentherapie werden per Apharese Stammzellen der Sichelzellpatienten aus deren Blut filtriert. Im Labor wird mithilfe von Lentiviren als Vektoren das Gen mit der Punktmutation, die zur Sichelzellkrankheit führt, durch ein Gen ausgetauscht, das die Mutation nicht aufweist. Dadurch wird intaktes Hämoglobin produziert. Die genveränderten Stammzellen werden dem Sichelzellpatienten transplantiert.

Einerseits ist die Behandlung mit autologen Stammzellen besser verträglich als mit gespendeten, da es nicht zu Abstoßungsreaktionen oder der Graft-Versus-Host-Disease kommt. Andererseits verbleibt der Lentivirus in den Stammzellen und das Gleichgewicht zwischen Alpha- und Beta-Globin wird gestört. Die autologe Stammzellentransplantation benötigt aber keinen Spender und kann bei allen Patienten durchgeführt werden, deren Allgemeinzustand eine Knochenmarktransplantation erlaubt. Um die genveränderten Stammzellen annehmen zu können, muss das erkrankte Knochenmark des Patienten durch eine Chemotherapie zerstört werden [2, 4].

Gamma-Globin reaktivieren mittels CRISPR-Cas9-Editierung

Ein weiteres Verfahren, mit dem die Sichelzellanämie wahrscheinlich therapiert werden kann, ist die Reaktivierung des fetalen Gamma-Globins. Dessen Produktion wird nach der Geburt von den Proteinen BCL11A und LRF/ZBTB7A aktiv unterdrückt. Die Proteine binden an den Promoter der HBG1- und HBG2-Gene und verhindern so die Expression des Gamma-Globins.

Wie kann die Bindung von BCL11A und LRF/ZBTB7A am Promoter der HBG1- und HBG2-Gene blockiert werden, sodass Sichelzellpatienten fetales Hämoglobin herstellen? Diese Frage stellte sich ein Forschungsteam am St. Jude Children’s Research Hospital in Memphis. Wenn die beiden Gene wieder exprimiert werden, so würde fetales Hämoglobin im Knochenmark produziert und das fehlerhafte Beta-Globin als Hämoglobin-Baustein (teilweise) verdrängt [3].

Pilotstudie zur Genschere bei Sichelzellanämie erfolgreich

Mit der Genschere CRISPR-Cas9 gelang es den Forschern, eine entsprechende Mutation einzuführen: Eine im Labor ermittelte Guide-RNA lotst die Genschere an die gewünschte Lokation der DNA, an der geschnitten werden soll. Der Promoter der HBG1- und HBG2-Gene kann auf diese Weise verändert werden, sodass die beiden Proteine BCL11A und LRF/ZBTB7A nicht mehr binden. Die Genabschnitte können dann gelesen werden und es werden fetales Hämoglobin und Erythrozyten in Normalform gebildet.

Bei drei Patienten mit Sichelzellanämie wurde dieses Verfahren nun in einer klinischen Pilotstudie angewandt. Zwei Männer und eine Frau (21, 22 und 24 Jahre alt), die bereits mehrmals in den vergangenen Jahren eine Sichelzellkrise oder massive Durchblutungsstörungen mit Ischämien erlitten hatten, nahmen an der Studie teil. Den Studienteilnehmern wurden zunächst Stammzellen aus dem Blut filtriert. Der Promotor an den HBG1- und HBG2-Genen wurde im Labor verändert und die Stammzellen wieder in die Patienten infundiert. Wie bei anderen Knochenmarktransplantationen musste das erkrankte Knochenmark zuvor zerstört werden. Bei dieser Studie wurde hierfür das Zytostatikum Busulfan verwendet.

Bei allen drei Patienten wurde nach dem Eingriff Gamma-Globin produziert. Der Anteil fetalen Hämoglobins am Gesamt-Hämoglobin lag bei 19 bis 26,8 % am Ende der sechs bis 18-monatigen Follow-up-Periode. Symptome der Erbkrankheit wie die Sichelzellkrise oder Infarkte konnten in ihrer Häufigkeit gesenkt werden: In der Follow-up-Periode erlitten die Teilnehmer jeweils eine vasookklusive Krise (9, 12 und 17 Monate nach der Transplantation) und keine dokumentierten Infarkte. Die Studienteilnehmerin hatte in den zwei Jahren vor der Gentherapie 25 Sichelzellkrisen erlebt und im Nachbeobachtungszeitraum nur eine. Nebenwirkungen der Therapie führt das Autorenteam auf das Zytostatikum Busulfan zurück. Das Forschungsteam will die Arbeiten mit mehr Patienten fortsetzen [3].

Zulassung in Großbritannien

Die britische Regulierungsbehörde für Arzneimittel und Gesundheitsprodukte (MHRA) hat am 16. November 2023 eine erste Gentherapie gegen Sichelzellanämie und Beta-Thalassämie, „exa-cel“ (britischer Handelsname: CasgevyTM), zugelassen. Auch bei exa-cel von Vertex Pharmaceuticals und CRISPR Therapeutics handelt es sich um eine CRISPR/Cas9-Therapie, die zur Bildung von fetalem Hämoglobin führen soll. Prof. Dr. Selim Corbacioglu, Leiter der Abteilung für Pädiatrische Hämatologie, Onkologie und Stammzelltransplantation am Universitäts­klinikum Regensburg, hat an der Zulassungsstudie mitgewirkt und gibt zu bedenken, dass aufgrund der relativ kurzen Nachbeobachtungszeit Nebenwirkungen weiterhin denkbar seien. Es sei nicht bekannt, „ob die Patienten womöglich nach einigen Jahren plötzlich doch wieder Transfusionen benötigen oder Schmerzkrisen bekommen, weil die Zellen verschwunden sind.“ Hürden der Gentherapie sieht er darin, dass man aktuell nicht sicher ist, ob die Genschere nicht auch andere DNA-Abschnitte verändert. Auch muss bedacht werden, dass die Patienten ihre Fruchtbarkeit verlieren [7, 10]. Bei der US-amerikanischen Food and Drug Administration (FDA) wurde am 8. Juni 2023 ein Zulassungsantrag für exa-cel eingereicht. Die Zulassungsentscheidung wird am 8. Dezember 2023 erwartet. Bei der europäischen Zulassungsbehörde EMA läuft aktuell noch das Bewertungsverfahren für exa-cel.

mRNA-Arzneimittel in der präklinischen Forschung

Für die rund acht Millionen Sichelzellpatienten weltweit steht möglicherweise bald eine weitere Therapieoption zur Verfügung: Mittels mRNA sollen, bis jetzt nur im Tierversuch, Gene direkt im Knochenmark editiert werden, sodass keine Stammzellentransplantation nötig wäre. Drew Weissman, der zusammen mit Katalin Karikò den diesjährigen Medizin-Nobelpreis erhält, hat an der proof-of-concept-Studie mitgearbeitet [3, 5].

Mit Erbinformationen vorbeugen und heilen

RNA mit großem therapeutischem Potenzial

Der monoklonale Antikörper Crizanlizumab wurde 2020 zur Prävention von Sichelzellkrisen in der EU zugelassen. 2023 wurde die Zulassung allerdings zurückgezogen, nachdem der klinische Nutzen in einer Phase-III-Studie nicht bestätigt werden konnte [6].

Literatur

[1] Gesellschaft für Pädiatrische Onkologie und Hämatologie . AWMF-Leitlinie 025/016 „Sichelzellkrankheit“. 2. Auflage vom 2. Juli 2020, www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/025-016.html

[2] Sichelzellanämie. Doc Check Flexikon, flexikon.doccheck.com/de/Sichelzellan%C3%A4mie

[3] Sharma A et al. CRISPR-Cas9 Editing of the HBG1 and HBG2 Promoters to Treat Sickle Cell Disease. New England Journal of Medicine 2023, doi: 10.1056/NEJMoa2215643

[4] Sichelzellanämie: Genschere schaltet Produktion von fetalem Hämoglobin an und lindert Symptome. Deutsches Ärzteblatt 2023, www.aerzteblatt.de/nachrichten/145668/Sichelzellanaemie-Genschere-schaltet-Produktion-von-fetalem-Haemoglobin-an-und-lindert-Symptome

[5] A cure for sickle cell disease is taking shape. Nature portfolio 2023, www.nature.com/articles/d42473-023-00151-3

[6] Media Gelbe Liste. ADAKVEO® (Crizanlizumab): Widerruf der EU-Zulassung aufgrund fehlender therapeutischer Wirksamkeit. Novartis 15. Juni 2023, https://media.gelbe-liste.de/documents/rote-hand-brief-zu-adakveo-(crizanlizumab).pdf 

[7] Pressemitteilung von Vertex. FDA Accepts Biologics License Applications for exagamglogene autotemcel (exa-cel) for Severe Sickle Cell Disease and Transfusion-Dependent Beta Thalassemia. 8. Juni 2023, news.vrtx.com/news-releases/news-release-details/fda-accepts-biologics-license-applications-exagamglogene

 

Dieser Text wurde am 23. November 2023 überarbeitet (Paragraf "Zulassung in Großbritannien" hinzugefügt)


Juliane Russ, M.Sc., Volontärin


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