Zulassung für Patienten ab zwölf Jahren

Mit JAK-3-Inhibitor Ritlecitinib gegen Alopecia areata

Stuttgart - 17.11.2023, 10:45 Uhr

Der kreisrunde Haarausfall ist für viele Erkrankten sehr belastend. Dennoch müssen Patienten für eine Therapie mit Ritlecitinib selbst aufkommen, denn durch § 34 SGB V wird die Erstattung von Arzneimitteln „zur Verbesserung des Haarwuchses“ ausgeschlossen. (Foto: Nadya Kolobova/AdobeStock)

Der kreisrunde Haarausfall ist für viele Erkrankten sehr belastend. Dennoch müssen Patienten für eine Therapie mit Ritlecitinib selbst aufkommen, denn durch § 34 SGB V wird die Erstattung von Arzneimitteln „zur Verbesserung des Haarwuchses“ ausgeschlossen. (Foto: Nadya Kolobova/AdobeStock)


Seit November 2023 ist das peroral verfügbare Immunsuppres­sivum Ritlecitinib (Litfulo®) zur Behandlung von Patienten mit schwerer Alopecia areata auf dem deutschen Markt erhältlich. Die Wirkung beruht auf einer irreversiblen Hemmung der Januskinase JAK3 und der Tyrosin-Proteinkinasen-Familie TEC. Bei vielen Betroffenen bessert sich die Autoimmunerkrankung und damit auch die Lebensqualität.

In Deutschland sind mehr als 1,5 Millionen, vorwiegend jüngere Menschen, von Alopecia areata betroffen. Der Haarverlust kann innerhalb weniger Wochen auftreten oder sich über mehrere Monate entwickeln. Die meist kreisrunden Kahlstellen betreffen in 80 % der Fälle den Kopfbereich und enthalten oft kein einziges Haar. Bei Männern ist zudem ein Haarverlust im Bartbereich möglich. Wimpern, Augenbrauen und sonstige Behaarung bleiben in der Regel erhalten. Wenn alle Kopfhaare ausgefallen sind, spricht man von einer Alopecia totalis. In Ausnahmefällen kann eine Alopecia areata auch im Bereich der Körperbehaarung auftreten. Als Erkrankungsursache wird eine genetisch bedingte Störung des Immunsystems vermutet, die zu einer Anreicherung von Entzündungszellen im Bereich der Haarzwiebeln führt. Über die Freisetzung von Zytokinen wird das Haarwachstum behindert oder bei völliger Zerstörung der Haarfollikel ganz unterbunden. 

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Die Alopezie-Behandlung erfolgt symptomorientiert mit peroralen Zink-Präparaten, Phototherapien und topischen Zubereitungen, beispielsweise auf Basis von Glucocorticoiden, Kontaktallergenen oder Thymuspeptiden. Obwohl die meisten Therapien bei 70 bis 75 % der Patienten zu einer zumindest zeitweisen Wiederbehaarung führen, werden sie dennoch kontrovers diskutiert, da auch die Spontanheilungsrate bei bis zu 80 % liegt. Insbesondere Personen, die unter einer schweren und anhaltenden Alopecia areata leiden und auf keine der genannten Therapieoptionen ausreichend ansprechen, sind durch die psychisch sehr belastende und stigmatisierende Erkrankung stark in ihrer Lebens­qualität eingeschränkt. Für diesen Personenkreis kommt der Januskinase-Inhibitor Baricitinib (Olumiant®) infrage, der 2022 für diese Indikation zugelassen wurde, sowie der neue Wirkstoff Ritlecitinib (Litfulo®).

Angriffspunkt Januskinasen

Januskinasen (JAK) leiten Signale von Zytokinen und Wachstumsfaktoren weiter, die unter anderem eine wich­tige Rolle bei immunologischen und inflammatorischen Prozessen spielen. Die JAK-Enzymgruppe umfasst die vier Mitglieder JAK1, JAK2, JAK3 und TYK2 mit sich überschneidenden Funktionen. Ebenso wie die Tyrosin-Proteinkinasen-Familie TEC, die beispielsweise bei hepatozellulären Karzinomen exprimiert wird, vermittelt auch JAK3 Signalwege, die an der Pathogenese der Alopecia areata be­teiligt sind. Offenbar wird über diese Kaskaden eine Aufhebung des Immunprivilegs von Haarfollikeln ausgelöst. Als Folge entfällt der Schutz gegenüber den körpereigenen Immunzellen, was zur Zerstörung der Follikel führt. Der Wirkstoff Ritlecitinib ist ein selektiver und irreversibler Inhibitor der erkrankungsauslösenden Tyrosinkinasen JAK3 und TEC. Nach peroraler Gabe kommt es bei Alopezie-Patienten zu einer signifikanten Verbesserung des Haarwachstums. Die Substanz wird einmal täglich in einer Dosierung von 50 mg unabhängig von den Mahlzeiten eingenommen.    

Abb.: Wirkmechanismus. Zytokine mit γc-Kette wie Interferon-g und Interleukin 15 bewirken durch Andocken an den entsprechenden Rezeptor die Phosphorylierung von STAT-Proteinen (Signaltransduktoren und Aktivatoren der Transkription) durch Janus­kinasen (JAK). Die phosphorylierten dimeren STAT-Proteine stimulieren nun ihrerseits die Replikation spezifischer Zielgene im Zellkern. Der JAK3-Inhibitor Ritlecitinib führt durch irreversible Bindung an die Adenosintriphosphat-(ATP)-Bindungsstelle zu einer reduzierten Phosphorylierung von STAT-Proteinen und unterbindet so die Aktivierung des nachgeschalteten Signalwegs mit Beteiligung von JAK3 (JAK* steht für JAK1, JAK2, JAK3 oder TYK2). Ein weiterer Ansatzpunkt von Ritlecitinib sind die Tyrosinkinasen der TEC-Familie. Auch hier bewirkt die Substanz eine irreversible Inhibition der Kinaseaktivität, was zu einer verringerten zytolytischen Aktivität von natürlichen Killerzellen und CD8-positiven T-Zellen führt. Insgesamt wird durch Ritlecitinib bei Patienten mit Alopecia areata eine Verbesserung der Erkrankungssymptome erreicht.

Cave Infektionen und Malignitäten!

Die Therapie mit dem immunsuppressiv wirkenden Ritlecitinib ist mit einem erhöhten Infektions­risiko assoziiert. In klinischen Studien kam es verstärkt zu Appendizitis, COVID-19-Infektionen einschließlich Pneumonien und zu Sepsis, ebenso zu Virus-Reaktivierungen, beispielsweise von Hepatitis-B- oder Herpes-zoster-Infektionen. In diesen Fällen sollte die JAK3/TEC-Inhibitor-Therapie zeitweise unterbrochen und eine effektive Behandlung eingeleitet werden. Eine eingehende Nutzen-Risiko-Abwägung vor dem Einsatz von Ritlecitinib ist angeraten bei Personen mit chronischen, rezidivierenden oder opportunistischen Infektionen, potenzieller Tuberkulose- oder Mykosen-Exposition sowie bei Personen mit Grunderkrankungen, die für eine Infektion prä­disponieren. 

Zudem sind JAK-Inhibitoren wie Ritlecitinib mit der Entwicklung von malignen Erkrankungen, einschließlich Lymphomen und nicht-melanozytärem Hautkrebs assoziiert. In der Vergangenheit kam es im Verlauf der Anwendung anderer JAK-Inhibitoren verstärkt zu schweren kardiovaskulären Ereignissen wie Myokardinfarkten, Schlaganfällen, tiefen Venenthrombosen und Lungenembolien. Derzeit kann nicht ausgeschlossen werden, dass auch Ritlecitinib mit diesen Nebenwirkungen verbunden ist. 

Kontradindiziert in Schwangerschaft und Stillzeit

Ritlecitinib ist während der Schwangerschaft kontraindiziert. Im Tier­experiment zeigte sich Reproduktionstoxizität und in hohen Dosen Teratogenität. Frauen im gebärfähigen Alter müssen während und bis zu einem Monat nach Beendigung der Behandlung eine zuverlässige Verhütungs­methode anwenden. Der JAK3/TEC-Inhibitor geht zumindest im Tier­experiment in die Muttermilch über. Da ein Risiko für den gestillten Säugling derzeit nicht ausgeschlossen werden kann, gilt auch für die Anwendung während der Stillzeit eine Kon­tra­indikation. 

Vor Beginn einer Therapie mit Ritlecitinib sollten in Übereinstimmung mit den geltenden Impfempfehlungen alle Immunisierungen auf den aktuellen Stand gebracht werden, da keine Studien zum An­sprechen auf Impfungen während der immunsuppressiven Behandlung durchgeführt wurden. Die Gabe von attenuierten Lebendimpfstoffen ist während oder unmittelbar vor Beginn der Therapie zu vermeiden. 

Ritlecitinib wird über eine ganze Reihe von Biotransformationsenzymen wie Glutathion-S-Transferasen und CYP450-Isoenzymen metabolisiert. Keiner dieser Clearance-Wege trägt zu mehr als 25 % der Biotransformation von Ritlecitinib bei, sodass das Interaktionspotenzial für entsprechende Inhibitoren und Induktoren insgesamt gering ausfällt. Bei gleichzeitiger Anwendung von Substraten von CYP3A oder CYP1A2 sowie des Kationentransporters OCT1 ist Vorsicht geboten, da Ritlecitinib bekanntermaßen diese Enzyme bzw. diesen Transporter hemmt.             

Neue Arzneimittel 2023

In der bisher monatlich erschienenen DAZ-Beilage „Neue Arzneimittel“ stellte Apothekerin Dr. Monika Neubeck neue Wirkstoffe ausführlich vor und ordnete sie in die bestehenden Therapieoptionen ein. Seit Januar 2023 finden Abonnen­tinnen und Abonnen­ten der DAZ die neuen Arzneistoffe auf DAZ.online unter www.deutsche-apotheker-zeitung.de/pharmazie/arzneimittel.
Neu hinzugekommen sind: 

  • Nirsevimab
  • Cipaglucosidase alfa und
  • Ivosidenib

Dort steht Ihnen auch ein Archiv mit allen seit 2000 eingeführten Wirkstoffen zur Ver­fügung. Die für die Offizin bedeutsamen Wirkstoffe stellen wir in der Print-Ausgabe der DAZ regelmäßig in unserer Rubrik „Neue Arzneimittel“ vor.

Zulassungsstudie ALLEGRO

Die Zulassung von Ritlecitinib beruht auf der randomisierten, doppelblinden Phase-IIb/III-Studie ALLEGRO mit 718 Erwachsenen und Jugendlichen ab zwölf Jahren [2]. Die Teilnehmer litten seit mehr als zehn Jahren unter einer schweren Alopecia areata mit mindestens 50%igem Kopfhaarverlust. Sie erhielten Ritlecitinib in verschiedenen Dosierungen oder Placebo. In die Auswertung wurden 261 Patienten einbezogen, die mit der therapeutisch relevanten Dosis von 50 mg Ritlecitinib oder Placebo behandelt worden waren. Primärer Endpunkt war das Erreichen eines Wertes von maximal 20 auf der Skala „Severity of Alopecia Tool“ (SALT), entsprechend einer mindestens 80%igen Bedeckung der Kopfhaut mit Haaren.

Innerhalb von 24 Therapiewochen wurde dieser Endpunkt bei etwa 23 % der Patienten aus der Verumgruppe erreicht, im Vergleich zu 1,6 % unter Placebo, entsprechend einer hochsignifikanten Überlegenheit der Ritlecitinib-Therapie (p < 0,0001). Bei mehr als 13 % der Teilnehmer aus der JAK3/TEC-Inhibitor-Gruppe war sogar eine Bedeckung von mindestens 90 % feststellbar, was als Remission eingestuft wurde. Der entsprechende Wert für eine Bedeckung der Kopfhaut von mindestens 80 bzw. 90 % lag in der Placebogruppe bei 1,5 %. Nach 24 Wochen berichteten 49 % der Teilnehmer aus dem Ritlecitinib-Arm, dass sich ihr Erkrankungszustand nach eigener Einschätzung mäßiggradig bis stark verbessert hatte, im Vergleich zu 9 % der Patienten unter Placebo. 

Abb: Ritlecitinib ist wie alle JAK-Inhibitoren ein niedermolekularer Wirkstoff. Die absolute perorale Bioverfügbarkeit beträgt ca. 64%.

Ritlecitinib nur bei schwerer Alopezie

Obwohl etwa die Hälfte der Patienten mit der Ritlecitinib-Behandlung zufrieden war, ist der durch den JAK3/TEC-Inhibitor erzielte therapeutische Fortschritt nach derzeitigem Kenntnisstand gering. In der zulassungs­relevanten Studie erreichte etwa ein Viertel der Teilnehmer nach 24 Wochen eine mindestens 80%ige Bedeckung der Kopfhaut. Die Effektivität des JAK1/2-Inhibitors Baricitinib liegt allerdings in einem sehr ähnlichen Bereich. Direkt vergleichende Untersuchungen mit Ritlecitinib und dem derzeit ausschließlich für erwachsene Alopezie-Patienten zu­gelassenen Wirkstoff wären für eine fundiertere Einschätzung wünschenswert. 

In längerfristigen Untersuchungen sollten zudem das Anhalten der Wirkung und die Langzeitsicherheit von Ritlecitinib geprüft werden. Ein besonderes Augenmerk ist dabei auf die mit JAK-Inhibitoren assoziierten Risiken zu richten, darunter schwere Infektionen, kardiovaskuläre Ereignisse, maligne Erkrankungen, thrombotische Ereignisse sowie eine er­höhte Gesamt­sterblichkeit. Dieses grundsätzlich für die hochwirksamen JAK-Inhibitoren bereits bekannte Gefahrenpotenzial ist ursächlich dafür, dass Ritlecitinib nur bei Patienten mit schweren Alopecia-areata-Formen eingesetzt werden sollte.

Literatur

[1] Fachinformation zu Litfulo®, Stand September 2023

[2] King B, Zhang X, Harcha WG, Szepietowski JC et al. Efficacy and safety of ritlecitinib in adults and adolescents with alopecia areata: a randomised, double-blind, multicentre, phase 2b-3 trial. Lancet 2023;401(10387):1518-1529, doi: 10.1016/S0140-6736(23)00222-2

[3] EPAR summary for the public. Litfulo® Ritlecitinib. Informationen der Europäischen Arzneimittel-Agentur, EMA/342745/2023


Apothekerin Dr. Monika Neubeck


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