Vier Jahre nach dem ersten Lockdown

FDP drängt auf gründliche Aufarbeitung der COVID-19-Pandemie

Berlin - 22.03.2024, 09:15 Uhr

In London dient diese Mauer der Erinnerung an Menschen, die an COVID-19 verstorben sind. (Foto: imago images / ZUMA Wire)

In London dient diese Mauer der Erinnerung an Menschen, die an COVID-19 verstorben sind. (Foto: imago images / ZUMA Wire)


Vier Jahre nach dem Beginn des ersten Lockdowns in Deutschland fordert die FDP-Bundestagsfraktion in einem Brief an ihre Koalitionspartner erneut die Einsetzung einer Enquete-Kommission zur Untersuchung der Maßnahmen gegen die COVID-19-Pandemie. Union und die Linke haben ihre Unterstützung signalisiert. Unterdessen wird über ein internationales Pandemieabkommen verhandelt. Allerdings haben aktuell andere Krisenszenarien Vorrang. 

Die FDP-Bundestagsfraktion fordert eine Aufarbeitung der Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie. Bundestags-Vizepräsident Wolfgang Kubicki und FDP-Gesundheitsexperte Andrew Ullmann haben sich diese Woche für die Einsetzung einer Enquete-Kommission ausgesprochen: „Ohne Aufarbeitung kann die nächste Pandemie uns als Gesellschaft irreversibel und katastrophal schädigen. Das dürfen wir als Regierungskoalition nicht zulassen“, sagte Ullmann.

Kubicki zufolge hätten einige der damaligen Maßnahmen gegen die Pandemie – wie etwa die 2G-Beschränkung – schwerwiegende Schäden in der Gesellschaft verursacht. Es müssten „Gräben wieder zugeschüttet werden“. Heute vor genau vier Jahren begann in Deutschland der erste Lockdown als Reaktion auf die Pandemie.

„Gesellschaftliche Heilung“

Kubicki und Ullmann haben sich schriftlich an die Fraktionsführungen von SPD und Grünen gewandt und die Einsetzung einer Enquete-Kommission zur COVID-19-Pandemie gefordert. Darin heißt es: „Wenn wir nicht gründlich mit wissenschaftlicher Hilfe aufarbeiten, welche Maßnahmen notwendig und sinnvoll waren, welche Entscheidungsprozesse legitim und demokratisch angemessen waren, welche wirtschaftlichen Einschnitte vertretbar und effizient waren, dann kann es passieren, dass schnell das Vergessen Einzug hält und eine gesellschaftliche Heilung nicht eintreten kann.“

Es dürfe nicht noch einmal passieren, dass elementare parlamentarische Rechte und Pflichten an die Exekutive übergeben werden. Grundrechte seien aufgrund „schwacher Datenlage in Mitleidenschaft gezogen“, Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen stark beeinträchtigt worden. Zudem hätten die politisch Verantwortlichen gesellschaftliche Spaltungstendenzen befördert, so die beiden Liberalen. Nur mit einer umfassenden Aufarbeitung könne „gesellschaftliche Heilung“ einsetzen.

Für die Einberufung einer Enquete-Kommission wird die Unterstützung von mindestens einem Viertel der Mitglieder des Bundestags benötigt. Sie besteht aus Mitgliedern aller Bundestagsfraktionen und externen Sachverständigen.

Unterstützung von Linken und Union

Auch Gregor Gysi (Linke) hatte sich bereits im September 2023 gegenüber dem Mitteldeutschen Rundfunk (MDR) für die Einsetzung einer Enquete-Kommission zur Aufarbeitung der Pandemie-Bekämpfungsmaßnahmen ausgesprochen: „Eine Enquete-Kommission brauchen wir, in der wir mal alle Fragen im Zusammenhang mit Corona und Pandemie aufwerfen.“ Dazu zählt Gysi auch die Untersuchung zu möglichen Impfschäden. Einen Untersuchungsausschuss zum Thema, wie von der Fraktion der AfD gefordert, lehnte Gysi ab, da es in erster Linie nicht um persönliche Verantwortlichkeit und nachdrückliche Schuldzuweisung gehe. Vielmehr müssten Lehren für zukünftige Krisen entwickelt werden.

Die Einsetzung einer Enquete-Kommission wird auch von der Unionsfraktion unterstützt. Der gesundheitspolitische Sprecher der Union im Bundestag Tino Sorge (CDU) hatte bereits gegenüber der FAZ geäußert, dass begangene Fehler aufgearbeitet werden müssten, um für zukünftige Gesundheitskrisen gewappnet zu sein.

Ringen mit den Ampel-Partnern

Bereits Ende 2022 hatte die FDP-Bundestagsfraktion erstmals die Einsetzung einer Corona-Enquete-Kommission gefordert. Im März 2023 hatte sie dazu ein Positionspapier vorgelegt.

Der gesundheitspolitische Sprecher der Grünen, Janosch Dahmen, hatte die damaligen Forderungen der FDP scharf kritisiert und Bundestagsvize Kubicki in die Nähe von AfD-Positionen gerückt. Kubicki habe während der Pandemie „immer wieder extreme Positionen vertreten und durch eine zum Teil AfD-nahe Rhetorik versucht, eine gesellschaftliche Spaltung herbeizureden“. Es bestehe die Gefahr, im Rahmen einer intensiven Aufarbeitung, „dass es am Ende eher ein Kampf um Deutungshoheiten und nachträgliche Schuldzuweisungen wird und damit weiteres Vertrauen der Bevölkerung verloren geht“, hatte Dahmen im April 2023 gegenüber der „Neuen Osnabrücker Zeitung“ erklärt.

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) signalisierte damals seine Unterstützung für die Einsetzung einer Enquete-Kommission. Gegenüber der „Zeit“ hatte er Ende März 2023 eingeräumt, „dass man im Nachhinein den einen oder anderen Weg, der damals beschritten wurde, anders beschreiten würde“.

Pandemievertrag der WHO

Neben der erneuten Forderung zur Einsetzung einer Enquete-Kommission hat sich die FDP-Fraktion auch für die Unterzeichnung des Internationalen Vertrags zur Pandemieprävention und -vorsorge ausgesprochen. Im Mai 2021 hatte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) beschlossen, ein internationales Vertragswerk ihrer Mitglieder für ein koordiniertes Vorgehen im Falle einer Pandemie zu entwickeln. Die FDP warnte vor einem Scheitern und hat ein eigenes Positionspapier dazu vorgelegt. Das berichtete der „Tagesspiegel Background"-Newsletter am Donnerstag.

Die Verhandlungen des zwischenstaatlichen Verhandlungsgremiums (Intergovernmental Negotiation Body) laufen seit diesem Montag. Er setzt sich aus Vertreter:innen der 194 Mitgliedsstaaten der WHO zusammen, wobei die EU stellvertretend für ihre nationalen Mitglieder verhandelt. Im Mai soll das Abkommen verabschiedet werden.

EU: Neue Krisen haben Priorität

Die EU hatte bereits zum Jahresbeginn klargemacht, dass der Pandemie-Prävention vor dem Hintergrund neuer Krisen keine Priorität mehr zukommt. Sie benötigt Geld für die Unterstützung der Ukraine im Krieg gegen Russland. Aber auch die eigene Aufrüstung und Kosten für die „Abwehr“ von Migrant:innen belasten den EU-Haushalt. Zur Kompensation wurden dem EU4Health-Programm im Januar eine Milliarde Euro entzogen, die für die Pandemieprävention vorgesehen waren. Das Programm war als Reaktion auf die COVID-19-Pandemie ins Leben gerufen worden.


Michael Zantke, Redakteur, DAZ
redaktion@daz.online


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1 Kommentar

Alle etblierten Parteien sollten keine Aufarbeitung fordern

von Christian Wiechering am 27.03.2024 um 19:33 Uhr

Inzwischen fordert nicht nur die FDP, sondern auch die Grünen eine Aufarbeitung der Pandemie. Dabei sollten diese, wenn sie vorhaben, eine ehrliche Aufarbeitung durchzuführen, besser auf diese Forderung verzichten.

Es gab nämlich am 3.7.2020 eine fatale Fehlentscheidung für den Verlauf der Pandemie im Bundestag, die von beiden Parteien mitgetragen wurde, und die dann auch im Februar 2021 nicht mehr korrigiert wurde, obwohl es bis dahin sehr viele neue Erkenntnisse gegeben hat.

Zu den Ergebnissen, die man spätesten im Februar 2021 mit hätte Berücksichtigen müssen, gehören 1 Studie aus Deutschland und ein Kommentar des DKFZ, die man wahrscheinlich ignoriert hat, weil sonst die Frage gekommen wäre, warum man sich nicht schon im Juli 2020 zum Wohle des Volksgesundheit entschieden hat.

Studie des Universitätsklinikum Heidelberg 10.9.2020
"Vitamin D Deficiency and Outcome of COVID-19 Patients "
https://www.mdpi.com/2072-6643/12/9/2757
Wichtigster Satz der Studie:
"Bei unseren Patienten war ein Vitamin-D Mangel bereinigt um Alter, Geschlecht und Komorbiditäten mit einem 6-fach höheren Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf und einem ~ 15-fach höheren Sterberisiko verbunden"

Kommentar des DKFZ zur Studie 19.10.2020 Veröffentlicht 27.11.2020
Vitamin D Insufficiency May Account for Almost Nine of Ten COVID-19 Deaths: Time to Act. Comment on: “Vitamin D Deficiency and Outcome of COVID-19 Patients”. Nutrients 2020, 12, 2757
https://www.mdpi.com/2072-6643/12/12/3642

Es geht also um eine offizielle Empfehlung zur Vitamin-D Supplementation, die nach neusten Studienergebnissen mit einer etwa 80% niedrigeren COVID-19 Mortalität verbunden ist.

Preventive Vitamin D Supplementation and Risk for COVID-19 Infection: A Systematic Review and Meta-Analysis
>>In den an HCWs durchgeführten RCTs betrug die Gesamtrisikoreduzierung in der mit Vitamin D ergänzten Bevölkerung etwa 80 % <<
https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC10935157/

Bevor im Juni 2020 eine allgemeine Information der Bevölkerung zum Thema Covid-19 und
Vitamin-D vom Bundestag abgelehnt wurde hatten schon mehrere ander europäische Länder (Frankreich, England, Schottland, Irland und Wales) ihre Bevölkerung darüber informiert, man hätte also auch anders entscheiden können.

Hier die Ablehnung des Antrages im Bundestag vom 3.7.2020
Schwere Verlaufsformen bei Infektion mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 reduzieren, Vitamin-D-Mangel in der Bevölkerung beseitigen, Immunabwehr stärken
Link zum Antrag ist in Entscheidung zu finden
Entscheidung Bundestag 3.7.2020
3 Absatz "Antrag der AfD abgelehnt"
In diesem Absatz sind auch die Links zum eigentlichen Antrag der AFD enthalten
https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2020/kw27-de-diabetes-strategie-701742

Diese Entscheidung hat Norbert Häring in seinem Blog kommentiert:
Die tieferen Gründe hinter dem Vitamin-D-Desaster der Tagesschau
https://norberthaering.de/medienversagen/vitamin-d-desaster/

Der 2te Antrag von der gleichen Partei zu dem Thema, der im Februar 2021 abgelehnt wurde, war nicht annehmbar, aber eine andere Partei hätte zu dem Zeitpunkt durchaus einen vernünftigen Antrag dazu stellen können. Das wurde aber versäumt.

Bei einer ehrlichen Aufarbeitung der Pandemie müsste man sich auch mit mit diesem Thema beschäftigen. Da aber dann die etabliereten Parteien in einem schlechten Licht dastehen würden, sollten sie besser keine Aufarbeitung fordern.

Ch.Wiechering
Kiel






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