Wandel in der pharmazeutischen Chemie

Wie sich die moderne Wirkstoffentwicklung auf Wissenschaft, Lehre und Gesellschaft auswirkt

Stuttgart - 22.03.2024, 17:50 Uhr

Ein Arzneimittel-Target mit passendem Molekülkomplex kann durch Computersimulationen identifiziert werden. (Foto: D Theron/peopleimages.com/AdobeStock)

Ein Arzneimittel-Target mit passendem Molekülkomplex kann durch Computersimulationen identifiziert werden. (Foto: D Theron/peopleimages.com/AdobeStock)


Ein Credo des Curriculums für das Pharmaziestudium ist stets, dass man nicht nur für die Apotheke ausbildet, sondern (auch) für die pharmazeutische Industrie, also die Wirkstoffforschung, das Inverkehrbringen und alles, was damit zusammenhängt. Tatsächlich sind es ja die Wirkstoffinnovationen, die einen Pharmazeuten begeistern können: neue Targets, neue Modalitäten, neue Mechanismen, neue Strukturen, neue klinische Studien. Bei den Schritten in der Entwicklung eines Arzneimittels hat sich allerdings in den letzten Jahrzehnten ein schleichender, aber in vielen Bereichen disruptiver Wandel vollzogen.

Die Indikationen der neuen Zell- und Gentherapien oder viralen Therapeutika, die als „neue Modalitäten“ (new modalities) bezeichnet werden, sind teilweise selbst belesenen Pharmazeuten kaum untergekommen. Mit Casgevy (Exagamglogene autotemcel) wurde von der amerikanischen Zulassungsbehörde FDA jetzt auch die erste CRISPR/Cas9-basierte Gentherapie bei Sichelzellanämie zugelassen. Wie sehr sich die Wirkstoffforschung insgesamt geändert hat, zeigt sich am Anteil der sogenannten neuen Modalitäten an den Neuzulassungen [1]. Diese haben auch numerisch seit 2022 die small molecules überholt (s. Abb. 1). Zu den neuen Modalitäten zählt man z. B. Antikörper, Proteine, Zelltherapien, Gentherapien, bearbeitete Nucleinsäuren (DNA und RNA, mRNA), onkolytische Viren oder Mikrobiome. Die Tabelle zeigt Beispiele für „neue Modalitäten“, die sich in der Entwicklung befinden (nach [4]).

Was den Umsatz betrifft, der mit diesen Arzneimitteln generiert wird, so ist das Verhältnis noch klarer: Nahezu die komplette Liste der Top 50 der umsatzstärksten Arznei­mittel besteht aus „neuen Modalitäten“ [5]. Viele Apotheken haben diese umsatzstarken Arzneimittel für besondere Patientengruppen indes noch nie gesehen.

Abb. 1: Anteil der sogenannten neuen Modalitäten an den neu zugelassenen Wirkstoffen (eigene Auswertung D. Böcker, basierend auf [2, 3]).

Was der Wandel für die Wirkstofffindung bedeutet

In der pharmazeutischen Industrie hat es in den letzten Jahrzehnten einen kompletten Shift gegeben. Die Blockbuster-Indikationen der 1990er-Jahre wie der Bluthochdruck sind aus dem Fokus der Forschung geraten. Mit den drei Wirkstoffklassen ACE-Hemmer/Angiotensin-Rezeptorblocker, Thiazide/Thiazid-Artige und Calciumkanal-Blocker, gegebenenfalls auch in Kombination, ist der Bluthochdruck in vielen Fällen wirksam und nebenwirkungsarm behandelbar. 

Die Messlatte für neue Wirkstoffe liegt somit hoch: Einen Zusatznutzen über bestehende Therapien hinaus zu finden, der dazu auch noch den Preis der Neuentwicklung rechtfertigen würde, scheint schwierig, wenngleich genau das mit dem RNA-Interferenz-Therapeutikum Zilebesiran nun durch die halbjährliche Applikation gelingen könnte. Ähnlich ist es bei den Antibiotika: Hier muss für jede Indikation/Infektionsart getrennt eine teure Zulassung erwirkt werden, danach verschwindet das Antibiotikum bestenfalls in der Reserve für Resistenzen. Damit ist offensichtlich kein Geld zu verdienen: Die Forschung kommt zum Erliegen, obwohl die Resistenzentwicklung langfristig erheblich mehr Kosten mit sich bringen wird [6]. Dass das „Gesetz zur Bekämpfung von Lieferengpässen bei patentfreien Arzneimitteln und zur Verbesserung der Versorgung mit Kinderarzneimitteln“ (ALBVVG) einige Millionen Euro für einen höheren Erstattungspreis von Reserveantibiotika vorsieht, wird sicherlich nicht ansatzweise dazu führen, dass die abgeschaffte Forschung in diesem Bereich wieder aufgebaut wird. 

Regulierungsmaßnahmen waren hingegen für Hersteller der neuen Antidiabetika ein Glücksfall: Hier verlangte die FDA kardiovaskuläre Sicherheitsstudien, was die Forschung zunächst zu gefährden schien. Erst durch die überraschend positiven Ergebnisse aus den klinischen Studien und die günstigen metabolischen Effekte haben sich für die Hemmer des SGLT-2-Transportproteins (Sodium-Glucose-Co-transporter 2, SGLT-2-Hemmer) mit der Behandlung der Herz­insuffizienz umsatzstarke neue kardiovaskuläre Indikationen ergeben. Gleiches gilt für die GLP-1-Agonisten. Beispiele, in denen sich die weitergehende pharmakotherapeutische Forschung ebenso gelohnt hat wie die ursprüngliche Wirkstoffentwicklung. Diese Fälle sind geradezu ein Paradebeispiel dafür, dass die Pharmakotherapie auch in der Industrie eine gewichtige Rolle spielt. Und deshalb in die Ausbildung der Pharmazeuten gehören sollte. Es sind aber die spezifischen Therapien, die zunehmend in den Fokus rücken. Häufig sind dies im Moment Onkologika. Maligne Erkrankungen sind trotz klinisch optimierter Chemotherapie-Regime eine bleibende Herausforderung und oft schwer zugänglich. Hier lohnt sich die Forschung, hier ist ein echter Therapiefortschritt und wirtschaftlicher Erfolg prinzipiell möglich.

Tab.: Die als neue Modalitäten bezeichneten Large-molecules-Ansätze werden für viele Therapiestrategien entwickelt. Im Bereich Antikörper, rekombinante Proteine bzw. Zelltherapien wurden Präparate bereits in den Markt eingeführt (modifiziert nach [4].
KategorieBeschreibungBeispiel für „neue Modalitäten“
AntikörperHerstellung von Antikörpern in großem Maßstab, die spezifische Targets erkennen
  • monoklonale Antikörper (mAb)
  • Antikörper-Wirkstoff-Konjugate (antibody-drug conjugates, ADC)
  • bispezifische Antikörper (bispecific antibody, bsAb)
Proteine und Peptidenatürliche oder künstlich hergestellte Proteine, die fehlende oder abnorme Proteine ersetzen oder eine andere Funktion beeinflussen sollenrekombinante Proteine
ZelltherapienRegulierung der Funktion der Immunzellen und regenerative Medizin zur Krankheitsbekämpfung
  • Zelltherapien
  • CAR-T-Zellen
  • Stammzellen
  • T-Zell-Rezeptoren (TCR)
  • Immuntherapien mit natürlichen Killerzellen (NK), die chimäre Antigenrezeptoren (CAR) exprimieren (CAR-NK)
  • Tumor-infiltrierende Lymphozyten (TIL)
GentherapienEinführung oder Modifizierung von DNA in Zielgewebe
  • Gen-Augmentation
  • Gen-Editierung
NukleinsäurenInjektion von gentechnisch veränderter DNA oder RNA
  • DNA- und RNA-Therapien
  • RNA-Interferenz (RNAi)
  • Messenger-RNA (mRNA)
andere „neue Modalitäten
  • Viren, die auf Tumorzellen abzielen und sie lysieren
  • Behandlung durch eine Wiederherstellung gesunder Darmmikrobiota
  • gezielte Protein-Degradation durch Ubiquitinierung
  • onkolytische Viren
  • Mikrobiom
  • heterobifunktionale Moleküle aus zwei aktiven und einer verlinkenden Untereinheit (Proteolysis targeting chimera, PROTAC)

 

Broad Institute als Taktgeber und 3D-drug-design-Methoden

Das gemeinnützige Broad Institute, das mit dem Massachusetts Institute of Technology (MIT), der Harvard University und deren Lehrkrankenhäusern kooperiert, war nicht nur maßgeblich am Human Genome Project und an der CRISPR-Cas9-Genschere beteiligt, sondern gibt auch in der Erforschung neuer Therapien häufig das Tempo vor [7, 8]. Zwar findet mit jedem neuen Ergebnis eine zunehmende Spezialisierung und Ausfransung statt, die dort erforschten Therapieansätze basieren aber im Wesentlichen auf den immer gleichen Methoden der Genomik und Biomedizin und sollten Pharmazeuten in der Ausbildung entsprechend vermittelt werden. Es gibt kaum noch ein nennenswertes forschendes pharmazeutisches Unternehmen, das nicht mit dem Broad Institute kooperiert, und auch in der Breite der Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten setzen die Unternehmen auf vielfältige Kooperationen. Erfolgversprechende Ansätze werden unterstützt, von den Herstellern aufgekauft und dann mit industriellen Ressourcen entwickelt. Im günstigsten Fall winkt die Zulassungsreife.

Computergestützte Wirkstoffforschung

Heutige Wirkstoffforscher arbeiten computergestützt mit biochemischen Methoden. Targets sind klassischerweise Rezeptoren und Enzyme, zunehmend verlagert sich das Geschehen aber auf die genomische Ebene [9]. Mit nur einer Behandlung können Krankheiten im Idealfall dauerhaft und vollständig geheilt werden. Ein Beispiel für diese Single-shot-Gentherapien ist Onasemnogene abeparvovec (Zolgensma®) gegen spinale Muskelatrophie. Es schleust eine funktionierende Kopie des Survival-of-motor-neuron-1(SMN1) -Gens mittels Adenoviren ein. Atidarsagene autotemcel (Libmeldy®) gegen metachromatische Leukodystrophie fügt mittels Lentiviren eine korrekte Genkopie für das Enzym Arylsulfatase A (ARSA) in das Erbgut von zuvor isolierten Blutstammzellen ein. 

Diese Therapien der Gegenwart und Zukunft erfordern von der Wirkstofffindung bis zur Anwendung vollkommen neue Methoden, die Pharmazeuten beherrschen sollten. Diese Schnittmenge aus pharmazeutischer Chemie, pharmazeutischer Biologie und Biochemie wird häufig nicht abgedeckt. Dennoch bleiben auch die small molecules der klassischen pharmazeutischen Chemie wichtig. Sie haben einige unschlagbare Vorteile: orale Verfügbarkeit, höhere Stabilität und preisgünstige Herstellung. Antibiotika, antivirale Wirkstoffe und Chemotherapeutika sind Beispiele dafür, dass mit small molecules auch eine kurative Wirkung erreicht werden kann. Ob small molecules oder neue Modalitäten: 3D-drug-design-Methoden aus der theoretischen Chemie, chemischen Biologie und Medizinalchemie sind bei der Suche nach neuen Wirkmechanismen und Wirkstoffen mittlerweile absoluter Standard und sollten vermittelt werden.

Und die klassische pharmazeutische Chemie?

Die pharmazeutische und medizinische Chemie fokussiert sich auf die Entwicklung neuer Wirkstoffe und die Analytik (z. B. für die Qualitätskontrolle). Die instrumentelle Analytik hat sowohl im Arzneibuch als auch in der Praxis gegenüber nasschemischen Verfahren deutlich an Bedeutung gewonnen. Viele Apotheken leisten sich bereits Infrarotspektrometer, um die Wareneingangsprüfung effizient und verlässlich durchzuführen. In der Industrie und akademischen Forschung sind ganze Geräteparks mit HPLC-Geräten, Massenspektrometern und NMR-Geräten Standard. 

Während die pharmazeutischen Chemiker in der Wirkstoffentwicklung durchaus exzellente Studien und Synthesen durchführen, gibt es zusätzlich kostengünstige Quellen für Testsubstanzen. Spezialisierte Synthesefirmen bieten weltweit geschätzte 50 Millionen verschiedene Substanzen kommerziell an. Diese bestehenden Moleküle können auf ihre Eignung als Wirkstoff erforscht werden: Neben dem In-vitro-High-Throughput-Screening großer Substanzdatenbanken hat sich ein virtuelles Screening als Tool für die Small-molecules-Leitstruktursuche etabliert (in silico drug discovery). Somit ist die Suche nach neuen Wirkstoffen nicht mehr auf bereits existierende Substanzen beschränkt. 

Auch schwierig zu besorgende Naturstoffe, Naturstoffderivate oder noch gar nicht synthetisierte Moleküle können in 3D-Simulationen auf eine mögliche Rezeptorbindung oder Enzymhemmung hin untersucht werden. Auf den mathematischen Grundlagen der 1960er-Jahre aufbauend und mit modernen Weiterentwicklungen und hoher Rechenleistung kombiniert, können mittlerweile viele Eigenschaften kleiner, aber auch größerer Moleküle wie Antikörper bereits am Computer abgeschätzt werden. Wird sich die Substanz bei einem pH-Wert von 7,4 lösen (logS-Berechnung)? Wird sie voraussichtlich oral bioverfügbar sein (Lipinski/Ghose-Regel) [10]? Kann sie die Blut-Hirn-Schranke durchdringen? Ist sie metabolisch stabil? Wie dürften ihre Hauptmetaboliten aussehen? An welchen Targets kann sie binden (target fishing)? Zu welchen Neben- und Wechselwirkungen kann es durch all diese Target-Bindungen kommen (systems approaches)? Kann man neue Kernstrukturen (scaffolds) finden? Welche Substrukturen sind an der Bindung beteiligt und welche davon sind absolut essenzielle funktionelle Gruppen? Wie könnte man die Struktur derivatisieren, um die Wirkung zu verbessern? Ziel all dieser Berechnungen und Beantwortung dieser Fragen ist es, sich mittels In-vitro- und später In-vivo-Versuchen auf die Substanzen zu konzentrieren, die gute Chancen auf das Bestehen der präklinischen Phase haben, und die Arzneistoffentwicklung so zu beschleunigen. Auch im Design von neuen Modalitäten, etwa in der Entwicklung Antikörper-basierter Wirkstoffe, sind 3D-Simulationen fest verankert [11].

Vorhersagetools mit variierender Qualität

Eine Vielzahl kommerzieller, aber auch frei zugänglicher Vorhersagetools laden ein ins „prediction paradise“. Doch welche dieser Tools sind robuste wissenschaftliche Entwicklungen und welche vielleicht weniger geeignet? Eine kritische Bewertung mit unabhängigen Daten zur Validierung und vor allem In-vitro-Experimente bestätigen die Vorhersagekraft solcher Tools – oder auch nicht. Im Zeitalter von big data und künstlicher Intelligenz dürfen wir auf die Entwicklungen der nächsten Jahre gespannt sein und sie idealerweise auch seitens der Universitäten mitgestalten. Bei der Europin Summer School in Drug Design im September 2023 in Wien waren sich jedoch Forscher aus Industrie und Akademie einig: Die besten Methoden brauchen eine exzellente Datenbasis, um aussagekräftige Modelle zu generieren. Und genau an dieser Datenbasis muss man noch viel arbeiten. Die derzeit verfügbaren Datenbanken sind noch zu inhomogen und unvollständig.

Neue didaktische Möglichkeiten für Studium und Ausbildung

Blickt man auf die zuvor beschriebenen Entwicklungen, so ist klar, dass Pharmazeuten heutzutage auch in der pharmazeutischen Chemie ganz anders ausgebildet werden sollten. Hier soll weniger mit Pipette und Nasschemie gearbeitet werden, als vielmehr im voll ausgestatteten, teils automatisierten Analytiklabor und am PC. „Hands on“ heißt es also in der Analytik. Von einer professionellen Probenvorbereitung über die Auswahl, Etablierung und Validierung der Messmethode bis zur korrekten statistischen Auswertung der Ergebnisse muss alles gelernt werden.

 Auch die computerbasierten Methoden sollten in das Curriculum des Pharmaziestudiums fest verankert werden. Allein die Visualisierung von Wirkstoffmolekülen in den Bindetaschen ihrer Targets, die rationale, 3D-Struktur-basierte Erklärung von Struktur-Aktivitäts-Beziehungen und die Ableitung von Off-Target-Effekten durch strukturelle Ähnlichkeiten lassen Vorlesungen in pharmazeutischer Chemie noch spannender werden. „Moleküle zum Anfassen“ eröffnen didaktische Möglichkeiten, Bioaktivitäten direkt mit Molekülstrukturen zu korrelieren und eine Verständnisbrücke von der Biochemie und Physiologie in die Pharmakologie zu bauen. Durch die Kenntnis der Möglichkeiten und Grenzen dieser Methoden können Absolventen in verschiedenen Berufsfeldern punkten: Klassische Wirkstoffentwicklung, aber auch pharmazeutisch-technologische Fragestellungen sowie Beobachtungen aus der Pharmakovigilanz lassen sich dadurch gezielt bearbeiten. Die Methoden lassen sich ausgezeichnet auch auf andere Substanzklassen wie Umweltchemikalien oder Nahrungsinhaltsstoffe anwenden. Somit wird auch die Forschung und Tätigkeit in diesen interdisziplinären Bereichen gestärkt.

Gesellschaftliche Implikationen – compassionate use

Die Kosten für Generika sinken in Deutschland und Österreich seit Jahren. Während häufige Generika bedingt durch Rabattverträge, Festbeträge und Preismoratorien die Gesellschaft teilweise nur noch einige Cent kosten (und deshalb bei Erhöhung der Herstellungs- oder Lieferkosten zu diesem Preis nicht mehr geliefert werden), sind es bei den anfangs beschriebenen Single-shot-Gentherapien über zwei Millionen Euro pro Patient. Wie kann eine Gesellschaft, die sich nicht einmal Amoxicillin-Kindersäfte für ein paar Euro leisten kann (oder will), mit diesem Trend umgehen? Sicher ist, dass wir mit den neuen biomedizinischen Therapieformen hochwirksame Ansätze gegen Krankheiten sehen werden, die noch vor kurzer Zeit undenkbar schienen. Wer soll solche Therapien erhalten? Jeder? Oder nur Patienten unter einer gewissen Altersgrenze? Bedarf es einer Zusatzversicherung? Was ist ethisch vertretbar, was ist die Gesellschaft bereit, für die Heilung einer Krankheit zu zahlen? 

Auch im Nachbarland Österreich ist diese Debatte angekommen. Es wird gerade die Einführung eines zentralen Bewertungs­boards für teure Arzneimittel diskutiert, die einheitliche Regelungen für alle Patienten im Lande bringen soll. Fluch aufgrund wirtschaftlicher Faktoren bei der Entscheidungsfindung oder Segen für Patienten aus Regionen, die noch keinen Zugang zu bestimmten Medikamenten haben? Errechnet man die gesellschaftlichen Gesamtkosten einer Krankheit zum heutigen Stand und zahlt diese Summe dann jetzt und sofort für eine Gentherapie? Können alle Länder dieser Welt diese Therapien bezahlen oder kommt es dann zu einer „Gesundheitsmigration“? Sozialer Sprengstoff, zu dem sich Gesundheitspolitiker, Ethiker, aber auch Pharmazeuten äußern müssen. Ist ein Arzneimittel gegen schwere oder lebensbedrohliche Erkrankungen in einem Land nicht zugelassen und sind alle verfügbaren Therapiemöglichkeiten einschließlich der Aufnahme in klinische Studien ausgeschöpft, dann kann der sogenannte compassionate use ein Ausweg sein. Da die Regularien für diese Arzneimittel-Härtefallprogramme kompliziert und von Land zu Land uneinheitlich sind, haben Aliu et al. ein Rahmenwerk für die Vereinheitlichung vorgestellt [9, 12].

Beispiele für einen ethischen Spagat gibt es viele. Schon in der COVID-19-Pandemie stellte sich die Frage, ob Patienten nicht zugelassene Arzneimittel vorzeitig erhalten sollen, wenn dadurch ihr Leben gerettet werden kann [13]. Wie bewertet man die Verlosung einer teuren Gentherapie durch den pharmazeutischen Hersteller [14]? Studenten, die zu neuen Vordenkern heranreifen sollen, müssen von ihren Universitäten entsprechende Angebote erhalten, um sich hiermit auseinandersetzen zu können.

Konsequenzen für die Apotheke

Der Trend zu immer mehr hochpreisigen Wirkstoffen war bei der Preisbildung in Deutschland in 2004 noch nicht absehbar. Er hat im Gegensatz zu den Aussagen berufener Politiker oder Gesundheitsökonomen zwar die Umsätze in den Apotheken massiv erhöht, nicht aber die Gewinne, denn mit einer seit 20 Jahren gleichbleibenden Marge ist in 2023 nicht mehr viel zu verdienen. Im Gegenteil: Retaxrisiko und Vorfinanzierung führen dazu, dass viele deutsche Apotheken Biologicals-Verordnungen ablehnen. Diese konzentrieren sich dann in wenigen Apotheken. Gentherapien werden vermutlich nie eine öffentliche Apotheke erreichen. Hier erfordert die Applikation teilweise die vorherige Entnahme von Stammzellen, was zur ausschließlichen Anwendung in hoch spezialisierten Zentren führt. Preise von über zwei Millionen Euro dürften dann bezüglich des Handling-Risikos auch verwegenen Apothekern Magenschmerzen bereiten. Klar ist aber auch: Kurative Gentherapien und andere biomedizinische Ansätze haben die Wirkstoffforschung revolutioniert. Lehre, Studium und Fortbildung müssen nun dringend nachziehen, damit auch die Apothekerinnen und Apotheker mit dem Grundverständnis dafür ausgestattet werden.

In der Apotheke erfordern die neuen Therapien wie aktuell schon die orale Antitumortherapie eine höhere Spezialisierung, sofern eine weitergehende Beratung, Medikationsanalyse oder Nachsorge gewünscht sind. In den USA hat das dazu geführt, dass spezialisierte Apotheken Einzelverträge mit Versicherungen und Herstellern geschlossen haben. Sie sorgen durch intensive Information und Betreuung der Patienten für hohe Adhärenz und eine erfolgreichere Therapie mit diesen teuren Arzneimitteln, erhalten im Umkehrschluss aber auch eine ganz andere (höhere) Vergütung [15]. Wünschenswert ist ein solches Szenario der „Ausschleusung in spezialisierte Groß-Apotheken“ sicherlich nicht. Wie geht man mit diesen Herausforderungen aber um? In Deutschland und Österreich überlässt man de facto die Beratung bei speziellen Medikationen gerne dem Arzt und beschränkt sich auf die reine Abgabe. Eine optimierte Therapie endet aber nicht mit der Abgabe in einer Apotheke, sondern beginnt erst dann. Die Apotheken brauchen also Experten für bestimmte Indikationen: HIV, Parkinson, Herzinsuffizienz sind nur einige Beispiele. Durch spezialisierte Apothekerinnen und Apotheker und deren Beratung können wesentlich bessere Therapieergebnisse erzielt werden. Diese in den USA schon lange etablierten health-system specialty pharmacists werden für das Gesundheitssystem also umso relevanter, je teurer die angewendeten Arzneimittel sind [16]. Die Apothekerschaft sollte auch hierzu rechtzeitig Antworten finden und diese Ansätze und Gedanken in die Ausbildung integrieren.

Computersimulation und moderne Analytik in der Lehre

Die Herangehensweise der pharmazeutischen Forschung hat sich in den letzten 25 Jahren grundlegend geändert. Die „neuen Modalitäten“ bestimmen die Wirkstofflisten und dominieren die Pipelines. Wer jetzt nicht auf den Zug aufspringt, wird gnadenlos abgehängt. Entsprechend deutlich muss sich auch die Ausbildung anpassen. Ein zeitgemäßes Curriculum der pharmazeutischen Chemie umfasst heute eben auch die Integration computerassistierter Methoden wie die In-silico-Simulationen und legt einen weiteren Schwerpunkt auf moderne instrumentelle Analytik. Es wird so ein tiefes molekulares Verständnis für die Basis von Arzneistoffwirkungen und –nebenwirkungen geschaffen. Die Schnittmenge zu den „neuen Modalitäten“ und somit zu biochemischen Methoden ist wesentlich größer geworden.

Ähnlich radikal haben sich auch die anderen pharmazeutischen Disziplinen geändert. Intensive Kenntnisse in der Pharmakotherapie, die auf dem biomedizinischen Wissen der anderen pharmazeutischen Disziplinen fußen, kommen den Therapieerfolgen in neuen Indikationen – und somit auch unmittelbar dem Patienten zugute. Die soziale und therapeutische Verantwortung der Apotheke nimmt zu.

Es erfordert also nicht weniger als einen Paradigmenwechsel an den Universitäten, um den Anforderungen an die Wirkstoffe der Gegenwart gerecht zu werden. Das Curriculum sollte dramatisch entstaubt und angepasst werden. Fortbildungen und lebenslanges Lernen sind Voraussetzung dafür, dass der Apotheker hoch spezialisierte Therapien erforschen, entwickeln, zulassen und am Patienten begleiten können. Kommt die pharmazeutische Chemie nach dem Studium nie wieder vor und beschränken sich die Fortbildungen auf Vorträge von Medizinern und Pharmakotherapeuten, dann war sie auch zuvor gänzlich überflüssig. Andernfalls muss sie im Studium dringend an die neue Realität angepasst werden und in Fortbildungen weiterleben. Wir plädieren für fortwährende Updates einer modernen pharmazeutischen Chemie als Grundlage für ein umfassendes Therapieverständnis und einer internationalen Wettbewerbsfähigkeit der jungen Kolleginnen und Kollegen.

Literatur

[1] Senior M. Fresh from the biotech pipeline: fewer approvals, but biologics gain share. Nat Biotechnol 2023;41(2):174–182

 [2] Novel Drug Approvals for 2022. Stand: 11. Dezember 2023, US Food & Drug Administration, www.fda.gov/drugs/new-drugs-fda-cders-new-molecular-entities-and-new-therapeutic-biological-products/novel-drug-approvals-2022

 [3] 2022 Biological License Application Approvals. Stand: 11. Dezember 2023, US Food & Drug Administration, www.fda.gov/vaccines-blood-biologics/development-approval-process-cber/2022-biological-license-application-approvals

 [4] Brochu M, Ghen L, Bush B. New Drug Modalities 2023, Boston Consulting Group 2023. www.bcg.com/publications/2023/latest-industry-report-on-new-drug-modalities.

 [5] The 50 best-selling pharmaceuticals of 2022: COVID-19 vaccines poised to take a step back. Drug Discovery & Development, Stand: 5. Dezember 2023, www.drugdiscoverytrends.com/50-of-2022s-best-selling-pharmaceuticals/

 [6] Poudel AN, Zhu S, Cooper N, Little P, Tarrant C, Hickman M et al. The economic burden of antibiotic resistance: A systematic review and meta-analysis. PLoS One 2023;18(5):e0285170

 [7] Lander ES. Initial impact of the sequencing of the human genome. Nature 2011;470(7333):187–197

 [8] Gostimskaya I. CRISPR-Cas9: A History of Its Discovery and Ethical Considerations of Its Use in Genome Editing. Biochemistry (Mosc) 2022;87(8):777–788

 [9] Spreafico R, Soriaga LB, Grosse J, Virgin HW, Telenti A. Advances in Genomics for Drug Development. Genes (Basel) 2020;11(8)

[10] Ghose AK, Viswanadhan VN, Wendoloski JJ. A knowledge-based approach in designing combinatorial or medicinal chemistry libraries for drug discovery. 1. A qualitative and quantitative characterization of known drug databases. J Comb Chem 1999;1(1):55–68

[11] Fernández-Quintero ML, Pomarici ND, Fischer A-LM, Hoerschinger VJ, Kroell KB, Riccabona JR et al. Structure and Dynamics Guiding Design of Antibody Therapeutics and Vaccines. Antibodies (Basel) 2023;2(4)

[12] Aliu P, Sarp S, Reichenbach R. An 8-Factor Regulatory Framework to Facilitate Patient Compassionate Use Access. JAMA Health Forum 2022;3(12):e224627

[13] Aliu P, Sarp S, Fitzsimmons P. Increasing Use of Compassionate Use/Managed Access Channels to Obtain Medicines for Use in COVID-19. Clin Pharmacol Ther 2021;110(1):26–28

[14] Kerpel-Fronius S, Baroutsou V, Becker S, Carlesi R, Collia L, Franke-Bray B et al. Development and Use of Gene Therapy Orphan Drugs-Ethical Needs for a Broader Cooperation Between the Pharmaceutical Industry and Society. Front Med (Lausanne) 2020;7:608249

[15] Peter ME, Zuckerman AD, Cherry E, Schlundt DG, Bonnet K, Shah N et al. Exploring healthcare providers‘ experiences with specialty medication and limited distribution networks. PLoS One 2022;17(8):e0273040

[16] Zuckerman AD, Whelchel K, Kozlicki M, Simonyan AR, Donovan JL, Gazda NP et al. Health-system specialty pharmacy role and outcomes: A review of current literature. Am J Health Syst Pharm 2022;79(21):1906–1918


Dr. Olaf Rose, PharmD, Autor, DAZ.online
redaktion@daz.online


Dr. Dietmar Böcker


Prof. Dr. Daniela Schuster


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