Häufigste Ursachen mittels WHO-Datenbank ermittelt

Schwere kutane Arzneimittelreaktionen bei Kindern

22.08.2024, 17:50 Uhr

Vorsicht: Bislang gut vertragene Analgetika, Antipyretika oder Sekretolytika werden meist zu Unrecht für ein Stevens-Johnson-Syndrom bzw. eine toxische epidermale Nekrolyse verantwortlich gemacht. (Foto: RFBSIP / AdobeStock)

Vorsicht: Bislang gut vertragene Analgetika, Antipyretika oder Sekretolytika werden meist zu Unrecht für ein Stevens-Johnson-Syndrom bzw. eine toxische epidermale Nekrolyse verantwortlich gemacht. (Foto: RFBSIP / AdobeStock)


Schwere kutane Arzneimittelreaktionen kommen auch bei Kindern vor. Hierzu gehören das Stevens-Johnson-Syndrom und die toxische epidermale Nekrolyse – zwei gleiche Krankheitsbilder mit verschiedenen Schweregraden. Als Ursache steckt eine Reihe von Arzneimitteln dahinter. Welche davon das Risiko speziell bei Kindern erhöhen, zeigt eine Analyse der Pharmakovigilanz-Datenbank der WHO.

Das Stevens-Johnson-Syndrom (SJS) und die toxische epidermale Nekrolyse (TEN) sind seltene, mitunter aber lebensbedrohliche Reaktionen, die sich an Haut und Schleimhäuten abspielen. Klassifiziert werden das SJS und die TEN nach dem Anteil der betroffenen Körperoberfläche:

  • SJS: 10%
  • Überlappende SJS/TEN: 10 bis 30%
  • TEN: > 30%

Typische Merkmale beider Erkrankungen sind Blasenbildung und das Abschälen der Haut, meist begleitet von Fieber und Schmerzen. Das Ganze startet mit purpurnen Hautflecken und kokardenförmigen, das heißt in konzentrischen Ringen angeordneten Erythemen, die in Blasen übergehen. 

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Diese bilden sich zunächst auf Gesicht und Brustkorb und können sich dann großflächig über den Körper ausbreiten. Die Epidermis beginnt sich innerhalb von Tagen abzulösen, wodurch die Haut anfällig ist für Infektionen bis hin zu tödlich verlaufender Sepsis. Häufig finden sich auch erosive Schleimhautläsionen im Bereich von Mund, Lippen, Augen und Genitalien, aber auch die Magen-Darm- sowie die Bronchialschleimhaut können betroffen sein.

Als Komplikationen drohen unter anderem erheblicher Flüssigkeitsverlust, schwere Dehydration, Durchfall, ein hypovolämischer Schock und Nierenversagen [1, 2].

Pathogenese und Therapie

Die Pathogenese des Krankheitsbildes ist bislang noch nicht vollständig verstanden. Es handelt sich wahrscheinlich um eine T-Lymphozyten-vermittelte Überempfindlichkeitsreaktion (Typ-IV-Reaktion). Dabei stimuliert ein medikamentöses oder infektiöses Antigen im Hautgewebe T-Zellen. Hierauf wird Granulysin, ein kationisches Protein, freigesetzt, das zur Apoptose von Keratinozyten führt und als Folge davon zu flüssigkeitsgefüllten Bläschen und letztlich zur charakteristischen Hautablösung.

Während sich beim SJS weniger als 10% der Haut ablösen, sind bei der TEN mehr als 30% der Körperoberfläche betroffen [3]. Insgesamt tritt eine SJS/TEN bei Kindern deutlich seltener auf als bei Erwachsenen. Bei dieser jungen Altersklasse sind nur in der Hälfte der Fälle Medikamente der Auslöser. Vielmehr gelten vorangegangene Infektionen als Triggerfaktoren, und mitunter ist die Krankheit auch idiopathisch bedingt, dann kann keine spezifische Ursache gefunden werden [4, 5]. Die geschätzte Letalität der betroffenen Patienten unter 18 Jahren liegt in Deutschland laut einer Untersuchung bei etwa 6%. Damit ist die Prognose bedeutend besser als bei Erwachsenen [1, 6].

Abb.: Zeitlicher Verlauf und protopathischer Bias in der Prodromalphase der epidermalen Nekrolyse: Bereits früher angewendete, bisher gut vertragene Analgetika, Antipyretika oder Sekretolytika werden meist zu Unrecht für ein Stevens-Johnson-Syndrom bzw. eine toxische epidermale Nekrolyse verantwortlich gemacht. Diese Wirkstoffe können Auslöser von pädiatrischer SJS/TEN sein, müssen es aber nicht.

Bei starker Hautablösung von etwa 30% der Körperoberfläche müssen die Betroffenen intensivmedizinisch versorgt werden. Falls ein bestimmtes Arzneimittel hinter der schweren Hautreaktion steckt, ist dieses unbedingt abzusetzen und zukünftig zu meiden. 

Zudem erfolgt eine supportive Therapie mit entsprechenden Lokalmaßnahmen (antiseptische Lösungen oder Gele mit Octenidin, Chlorhexidin, Polihexanid), Schmerztherapie, Wundversorgung (Debridement, Feuchtigkeitscremes, antibakterielle Salben, wirkstofffreie, nicht klebende Netzgaze) sowie augenärztlicher Mitbetreuung. Bei fortschreitender Hautreaktion mit neuen Erythemen und Blasen kann eine kurzzeitige immunmodulierende Therapie mit Cyclosporin A hilfreich sein – in einer Dosierung von 3 bis 5 mg/kg Körpergewicht/Tag für insgesamt zehn Tage. Auf drohende Superinfektionen ist zu achten [1].

Einblick dank WHO-Datenbank

Stellt sich die Frage: Welche konkreten Arzneimittel erhöhen das Risiko für SJS/TEN bei Kindern? Die meisten pädiatrischen Daten beziehen sich bisher nur auf kleine Fallserien und retrospektive Studien. Bislang gab es keine große, internationale Pharmakovigilanzstudie, die allein in der pädiatrischen Bevölkerung durchgeführt wurde. Nun liegen die publizierten Analysenergebnisse aller gemeldeten Fälle aus der WHO-Pharmakovigilanz-Datenbank (VigiBase) vor [2] – die weltweit größte Pharmakovigilanz-­Datenbank mit derzeit über 30 Millionen Berichten über vermutete unerwünschte Wirkungen von Arzneimitteln aus 150 Ländern. Sie wird laufend mit eingehenden Meldungen aktualisiert – von Angehörigen der Gesundheitsberufe (Ärzten und Apothekern), Verbrauchern, Pharmaunternehmen und Rechtsanwälten an die jeweiligen nationalen Zentren.

Gefahr: Falsche Verdächtige

Um den Auslöser der SJS/TEN festzustellen, muss der genaue Beginn des Krankheitsbildes korrekt bestimmt werden. Das ist meist nicht erst der Tag der Blasenbildung, sondern eine Hautrötung oder unspezifische Prodromalsymptome wie Unwohlsein, Fieber oder Schüttelfrost bereits ein bis drei Tage vor den sichtbaren Haut- und Schleimhautläsionen. Zur Behandlung dieser Beschwerden werden oft fiebersenkende Arzneimittel wie Paracetamol oder NSAR verabreicht, die dann irrtümlicherweise als Auslöser angeschuldigt werden, wenn Blasen der Haut und Erosionen der Schleimhaut hinzukommen (protopathischer Bias).

Eingeschlossen in die Analyse wurden die SJS/TEN-Fälle von Personen unter 18 Jahren, im Zeitraum von Januar 1967 bis Anfang Juli 2022. Von den 2.248.727 in VigiBase gelisteten unerwünschten Arzneimittelwirkungen bei Kindern wurden 7342 als pädiatrische SJS/TEN codiert. Im Mittel waren die Betroffenen neun Jahre alt, die Krankheit setzte im Durchschnitt fünf Tage nach Medikamentengabe ein, und insgesamt starben 237 (3,2%) Kinder.

Signifikante statistische Pharmakovigilanzsignale für SJS/TEN wurden für 165 Arzneimittel beobachtet. Zu den primär verdächtigen Medikamenten zählen 

  • Antibiotika: Unter ihnen sind Penicilline (13,6%) die am häufigsten gemeldeten und Sulfonamide (11,7%) die mit dem stärksten Pharmakovigilanzsignal. 
  • Auch Antiepileptika gehören zu den Spitzenreitern mit Carbamazepin (11,7%) auf Rang 1, gefolgt von Lamotrigin (10,6%). Diese Ergebnisse decken sich mit vorangegangenen Studien. Neu herausgestellt wurde, dass alle Klassen von Antiepileptika und Antibiotika (z. B. auch Makrolide und Cephalosporine) mit pädiatrischer SJS/TEN assoziiert sind. Nach diesen beiden führenden Arzneimittelklassen wurden vor allem 
  • Paracetamol und zahlreiche nichtsteroidale Antirheumatika (NSAR) als Auslöser gemeldet (Vorsicht: protopathischer Bias, siehe Abb. und Kasten), darüber hinaus unter anderem 
  • antiretrovirale Arzneimittel, 
  • einige Antimykotika (u. a. Fluconazol, Voriconazol), 
  • Sulfasalazin, 
  • Protonenpumpenhemmer (Omeprazol, Lansoprazol) sowie 
  • Antihistaminika (Famotidin). 

Unter den neueren, in den letzten zehn Jahren berichteten Medikamenten finden sich Clonazepam, Albendazol, Vancomycin und Colchicin. Ein Blick auf Impfstoffe zeigt: Generell ist der Zusammenhang zwischen Impfstoffen und SJS/TEN umstritten. Abweichend von anderen Studien [7 bis 10] wurden in der aktuell publizierten Analyse zwar viele pädiatrische Fälle nach Impfungen gemeldet, jedoch ohne signifikantes Pharmakovigilanzsignal [2].

Tab.: Häufigste medikamentöse Ursachen für pädiatrische SJS/TEN laut WHO-­Pharmakovigilanz-Datenbank, aufgeschlüsselt nach Arzneimittelklassen
AuslöserBeispiele
AntiepileptikaLamotrigin, Carbamazepin, Phenobarbital, Phenytoin
SulfonamideCotrimoxazol
andere AntibiotikaPenicilline, Makrolide, Cephalosporine
NSARPropionsäure-Derivate, Acetylsalicylsäure
SonstigeParacetamol

Zusammenfassend lässt sich sagen: Aufgrund der WHO-Pharmakovigilanz-Studie kann das Spektrum von Arzneimitteln aktualisiert werden, das potenziell mit SJS/TEN in der pä­diatrischen Bevölkerungsgruppe verknüpft ist. Eine große Stärke der Studie ist die zugrunde liegende große, internationale Kohorte von betroffenen Kindern, die untersucht wurde. Zugleich ist zu beachten, dass die Möglichkeit besteht, dass ein Arzneimittel fälschlicherweise als Auslöser verdächtigt wurde. Die Gefahr des falschen Verdachts besteht vor allem für fiebersenkende Mittel, die gegen die Frühsymptome einer SJS/TEN eingesetzt werden, aber nicht der Grund für dieses Krankheitsbild sind, sondern ein zuvor verabreichtes Arzneimittel, ein Infekt oder eine idiopathische Ursache dahinterstecken. 

Literatur

[1] Bataille P. Drugs associated with epidermal necrolysis in children: A World Health Organization pharmacovigilance database analysis. J Eur Acad Dermatol Venereol. 2024 Apr 29; doi: 10.1111/jdv.20054

[2] Mockenhaupt, M. Schwere kutane Arzneimittelreaktionen bei Kindern. Monatsschr Kinderheilkd 171, 439–451 (2023); https://doi.org/10.1007/s00112-023-01753-3

[3] Benedetti J. Stevens-Johnson syndrome (SJS) and toxic epidermal necrolysis (TEN). MSD Manual Professional Edition; https://www.msdmanuals.com/professional/dermatologic-disorders/hypersensitivity-and-inflammatory-skin-disorders/stevens-johnson-syndrome-sjs-and-toxic-epidermal-necrolysis-ten; Abruf: 01.06.2024

[4] Welfringer-Morin A et al. Comparison of idiopathic and drug-induced epidermal necrolysis in children. Br J Dermatol. 2023 Oct 25;189(5):631-633; doi: 10.1093/bjd/ljad226

[5] Ramien M, Goldman JL. Pediatric SJS-TEN: Where are we now? F1000Res. 2020 Aug 13:9: F1000 Faculty Rev-982; doi: 10.12688/f1000research.20419.1

[6] Mockenhaupt M et al. Stevens–Johnson syndrome and toxic epidermal necrolysis: assessment of medication risks with emphasis on recently marketed drugs. The EuroSCAR-study. J Invest Dermatol. 2008 Jan;128(1):35-44; doi: 10.1038/sj.jid.5701033

[7] Raucci U et al. Stevens-johnson syndrome associated with drugs and vaccines in children: a case-control study. PLoS One. 2013 Jul 16;8(7): e68231; doi: 10.1371/journal.pone.0068231

[8] Chahal D et al. Vaccine-induced toxic epidermal necrolysis: A case and systematic review. Dermatol Online J. 2018 Jan 15;24(1):13030/qt7qn5268s

[9] Su JR et al. Erythema multiforme, Stevens Johnson syndrome, and toxic epidermal necrolysis reported after vaccination, 1999-2017. Vaccine. 2020 Feb 11;38(7):1746-1752; doi: 10.1016/j.vaccine.2019.12.028

[10] Ball R et al. Stevens-Johnson syndrome and toxic epidermal necrolysis after vaccination: reports to the vaccine adverse event reporting system. Pediatr Infect Dis J. 2001 Feb;20(2):219-23¸doi: 10.1097/00006454-200102000-00022


Dr. Ines Winterhagen, Apothekerin
redaktion@daz.online


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