Gehirndoping oder gefahr?

Was hinter dem Social-Media-Trend um Methylenblau steckt

Stuttgart - 11.09.2024, 17:53 Uhr

In Wasser gelöst erscheint Methylenblau in einer  intensiven, kobaltblauen Farbe. (Foto: kittisak/AdobeStock)

In Wasser gelöst erscheint Methylenblau in einer  intensiven, kobaltblauen Farbe. (Foto: kittisak/AdobeStock)


Manche Influencer auf TikTok und Youtube strecken derzeit ihre blauen Zungen in die Kamera. Der Farbstoff ist Methylenblau, eine Substanz, die vor allem aus dem Zellkulturlabor bekannt ist. Die Influencer verwenden den Farbstoff zum Gehirndoping. Handelt es sich bei dem Phänomen um einen harmlosen Spaß, einen gefährlichen Trend oder gar eine sinnvolle Anwendung? 

Bereits im Jahr 1876 synthetisierte der deutsche Chemiker Heinrich Caro erstmals Methylenblau. Seitdem  wurde der tiefblaue Farbstoff in vielen Einsatzbereichen getestet: Als Färbemittel von Papier, in der Histologie und Molekularbiologie. In der Medizin als Antimalariamittel, gegen psychische Erkrankungen wie bipolare Störungen [1] und zur Behandlung von chronischen Rückenschmerzen [2]. In einigen Studien zeigte Methylenblau Ansätze, den kognitiven Verfall von Alzheimer-Patienten und die Akkumulation fehlgefalteter Proteine im Gehirn zu reduzieren [3]. 

Die wichtigste Anwendung dürfte aber die   Behandlung von Methämoglobinämie sein. Unter anderem bei Vergiftungen mit Nitraten, nitrosen Gasen oder aromatischen Nitroverbindungen wird das Fe2+-Ion des Hämoglobins zu Fe3+ oxidiert. Das entstandene Methämoglobin hat seine Fähigkeit, Sauerstoff zu transportieren, verloren. Intravenös verabreichtes Methylenblau (1 bis 2 mg/kg Körpergewicht)  beschleunigt die NADPH-abhängige Reduktion des  
Fe3+ zurück zum Fe2+ [4]. 

Abb. 1 Auf TikTok beschreibt Influencer Jan-Lucca (iamjanlucca) in einem Video die angeblichen Wirkungen von  Methylenblau. Foto: Screenshot/TikTok iamjanlucca 

Anreicherung in den  Kraftwerken der Zelle 

In Wasser lösen sich die dunkel­grünen Kristalle und enthüllen ihr  
tiefes Blau. Durch seine aromatische Struktur hat Methylenblau lipophile Eigenschaften und kann Zellmembranen durchdringen. Es überwindet die Blut-Hirn-Schranke und akkumuliert in neuronalem Gewebe. Hier reichert es sich besonders in den Mitochon­drien an. 

Als alternativer Elektronenträger in der mitochondrialen Elektronentransportkette kann es die Entstehung von reaktiven Sauerstoffspezies (ROS) unterbinden. Dabei wird es zum farblosen Leukomethylenblau reduziert, das durch Übertragung freier Elektronen auf Cytochrom C wieder zurückoxidiert wird. Methylenblau hat damit das Potenzial, ROS-induzierte mitochondriale Schäden, die im Laufe eines Lebens unweigerlich akkumulieren, zu reduzieren. 

Bei vielen alters­bedingten neurodegenerativen Erkrankungen wie Alzheimer und Parkinson spielt zunehmende mitochondriale Dysfunktionalität eine Rolle, verursacht durch oxidativen Stress. Als regenerierbares Antioxidans übt Methylenblau  somit eine  neuroprotektive Wirkung aus und wird auch als Anti-Aging-Drug  bezeichnet [5 – 9].     

Neuroprotektiv und  gedächtnisfördernd? 

Die Influencer mit den blauen Zungen sprechen oft von gesteigertem Antrieb, erhöhter Konzentrationsfähigkeit und verbessertem Gedächtnis nach der Einnahme von Methylenblau. In Tierversuchen wurde bereits gezeigt, dass die Gedächtnisleistung von Ratten unter Einfluss von Methylenblau zunimmt. Auch Humanstudien lieferten Hinweise in diese Richtung (siehe auch „Methylenblau verbessert Gedächtnis“ von  Sarah Katzemich in DAZ 2016, Nr. 28, S. 35). 

Gesteigerte Cytochrom-C-Aktivität und verbesserte ATP-Produktion der Mitochondrien in neuronalem  Gewebe könnten diesen Effekt erklären. Neben seiner Rolle in der mitochondrialen Atmungskette hat Methylenblau einige weitere pharmakologische Wirkungen. So inhibiert es  Monoaminooxidasen (MAO), Stickstoffmonoxid-Synthasen (NOS) und Guanylylcyclasen (GC). Patienten, die mit serotonergen Wirkstoffen, beispielsweise mit Antidepressiva aus den Klassen der selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) oder selektiven Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SNRI) behandelt werden, sollten daher lieber die Finger vom  Methylenblau lassen. Im schlimmsten Fall kann eine Kombination beider Wirkstoffe ein Serotonin-Syndrom auslösen [10]. 

Auch Personen mit  Glucose-6-phosphat-Dehydrogenase- Mangel sollten die Einnahme von  Methylenblau vermeiden. Sie verfügen über zu wenig NADPH, das für die Umwandlung von Methylenblau zu Leukomethylenblau notwendig ist. Methylenblau folgt einer hormetischen Dosis-Wirkungsbeziehung. In hohen Dosen kehrt sich die antioxidative in eine prooxidative Wirkung um, förderliche Effekte für die kognitive Leistung bleiben dann aus [5, 8]. Dies ist auch den Biohackern bei ihren Selbstversuchen nicht entgangen. 

Abb. 2 Methylthioniniumchlorid (oder Methylenblau), ursprünglich im 19. Jahrhundert als Farbstoff entwickelt, wurde im Laufe der Jahrzehnte vielfältig eingesetzt. Heute erlebt es eine Renaissance als Gehirndoping.

Vorsicht im HV

 Für Apothekerinnen und Apotheker stellt sich die Frage: Darf Methylenblau einfach abgegeben werden?  Grundsätzlich gibt es für Chemikalien in Apotheken keinen Kontrahierungszwang. Das bedeutet, es liegt im  Ermessen des Apothekers, ob und in welcher Menge der Stoff verkauft wird – natürlich unter Beachtung der gesetzlichen Vorgaben (z. B. Abgabeverbote). Es sollte zunächst erfragt werden, für welchen Zweck der Kunde den Stoff verwenden möchte. Darüber hinaus muss die Apotheke sicherstellen, dass der Käufer weder sich selbst noch andere gefährdet. Es ist daher ratsam, den Kunden umfassend über mögliche Gefahren aufzuklären. Falls Unsicherheiten bestehen, sollte die Abgabe aus Sicherheitsgründen verweigert werden. Wird jedoch entschieden, eine Chemikalie abzugeben, empfiehlt es sich, die besprochenen Details schriftlich festzuhalten,  z. B. über eine formlose Empfangs­bestätigung, die vom Kunden unterschrieben wird. Diese beinhaltet Informationen zur Bezeichnung und Menge der Chemikalie, dem Verwendungszweck sowie Datum und Namen des Abgebenden [12]. 

Toxikologie des Methylenblaus

Die prooxidative Wirkung zeigte sich auch in einer zweijährigen toxikologischen Studie an Ratten und Mäusen. In mehreren Dosisgruppen zwischen 2,5 und 50 mg/kg Körpergewicht wurde den Tieren über zwei Jahre lang an fünf Tagen in der Woche Methylenblau verabreicht. Zwar trat in keiner Gruppe eine erhöhte Sterblichkeit auf, doch die Tiere der höchsten Dosisgruppen zeigten am Ende der Studie Zeichen von Anämie und Methämoglobinämie. Tatsächlich lebten Mäuse der Dosisgruppen länger als Tiere der Kontrollgruppe. 

Dieser Effekt blieb bei Ratten aus. Unter männlichen Mäusen war allerdings die Rate an Dünndarmtumoren dosisabhängig erhöht. Bei männlichen Ratten traten nach lebenslanger Methylenblau-Behandlung vermehrt Tumore der Bauchspeicheldrüse auf [11]. Von der Internationalen Agentur für Krebsforschung (IARC) wird Methylenblau in Kategorie 3 eingestuft, nicht klassifizierbar hinsichtlich seiner Karzinogenität für den Menschen.                     

Gehirndoping mit Methylenblau?  

Biohacker, die auf Methylenblau zur Steigerung ihrer kognitiven Leistung setzen, haben damit nur teilweise recht. In niedrigen Dosen zeigt Methylenblau neuroprotektive und gedächtnisfördernde Eigenschaften. Doch wie so oft macht allein die Dosis das Gift. Ab etwa 2 mg/kg Körper­gewicht können unerwünschte Wirkungen auf­treten. Dazu gehören Übelkeit, Erbrechen, Bauch- und Brustschmerzen. Außerdem kann es zu hämolytischer Anämie und Hypotension kommen. 

Haut und Schleimhäute verfärben sich blau, und auch der Urin nimmt eine dunkelblaue Farbe an [4]. Die methylenblauen Influencer berichten von einem breiten Dosisbereich. Während manche eine Dosis von wenigen mg alle paar Tage empfehlen, konsumieren andere täglich über 100 mg. Bei einer solchen Praktik sollte unbedingt auf die pharmazeutische Reinheit der Substanz geachtet werden. Industrielles Methylenblau ist zwar günstig, enthält aber auch mehrere Prozent Verunreinigungen. Einschlägige Onlineshops bieten Methylenblau-Lösungen in verzierten Tropffläschchen an, angeblich in „pharma grade“-Qualität. Dazu gibt es andere Lifestyle-Produkte wie methylenblaue Hautcremes. Pharmakologisch betrachtet ist Methylenblau eine vielfältige Substanz mit interessanten Eigenschaften. Sie wirkt neuroprotektiv und scheint in niedrigen Dosen Gedächtnis und Konzentrationsfähigkeit zu fördern, indem sie den oxidativen Metabolismus des Gehirns optimiert. Einige vielversprechende klinische Anwendungen bei schweren neuropsychiatrischen Erkrankungen werden erforscht. Methylenblau gilt allgemein als gut verträglich, es kann jedoch zu Interaktionen mit Antidepressiva kommen. 

Das Phänomen von Influencern, die in sozialen Medien für die Einnahme von Methylenblau werben, scheint auf den ersten Blick harmlos, birgt jedoch auch Risiken. Ein limitierender Faktor bei der Dosierung ist die hormetische Wirkung. Für den Laien unüberschaubare pharmakologische Zusammenhänge und die unklare Qualität vieler Produkte sollten zur Vorsicht mahnen. 


Ulrich Schreiber, MSc Toxikologie, DAZ-Autor
redaktion@daz.online


Diesen Artikel teilen:


Das könnte Sie auch interessieren

Neuer Social-Media-Trend wirft Fragen auf

Wundermittel Methylenblau?

Erste Studienergebnisse lassen von einer Therapieoption bei Alzheimer träumen

Methylenblau verbessert Gedächtnis

Methylenblau verhindert Resistenzen und Weiterverbreitung

Rückbesinnung auf altes Malariamittel

Potenzielle Gefahr lebensbedrohlicher Methämoglobinämie

FDA warnt vor oralem Benzocain

Eisenmangel mit Floradix® ausgleichen

Auf die Eisenbilanz kommt es an

Eisen mit Floradix® niedrig dosiert substituieren

Ernährung alleine reicht nicht immer

1 Kommentar

Methylenblau - welche Qualität darf es sein?

von Chris am 12.09.2024 um 7:40 Uhr

In den letzten Jahren hatte ich für Rezeptur und Defektur ausreichend oft mit Methylenblau oder Methylthioniniumchlorid zu tun. Es ist und war sehr schwierig eine "Pharma-Ware" zu bekommen!
Eine uns als Ph.Eur.-Qualität (mit CoA) verkaufte Ware fiel bei den Quecksilber- und Eisenwerten komplett durch und musste vernichtet werden.
Seit man auch auf die Schwermetallverunreinigungen achtet, gibt es kaum noch Monographieware. Die Schwermetalle werden als Katalysatoren in der Synthese gebraucht und wir lassen extern darauf untersuchen. Viele der früher gebräuchlichen "Farbstofflösungen" (Castellani etc.) sind auf Grund nicht verfügbarer Qualität aus der Rezeptur verschwunden.

» Auf diesen Kommentar antworten | 0 Antworten

Kommentar abgeben

 

Ich akzeptiere die allgemeinen Verhaltensregeln (Netiquette).

Ich möchte über Antworten auf diesen Kommentar per E-Mail benachrichtigt werden.

Sie müssen alle Felder ausfüllen und die allgemeinen Verhaltensregeln akzeptieren, um fortfahren zu können.