Neurologie

ADHS bei Erwachsenen: Modediagnose oder oft unterschätzt?

24.09.2024, 07:00 Uhr

ADHS ist keine ausschließliche "Kinderkrankheit". Auch im Erwachsenenalter können die Symptome fortbestehen, und zu Problemen im Berufsalltag führen. (Foto: Elnur / AdobeStock) 

ADHS ist keine ausschließliche "Kinderkrankheit". Auch im Erwachsenenalter können die Symptome fortbestehen, und zu Problemen im Berufsalltag führen. (Foto: Elnur / AdobeStock)
 


Beim Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom (ADS) leiden Patienten unter Unaufmerksamkeit, Konzentrationsstörungen und Ablenkbarkeit. Bei der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) kommen zusätzlich motorische Hyperaktivität und Impulsivität hinzu [1]. Früher wurde angenommen, ADHS wäre eine Erkrankung, die nur Kinder und Jugendliche betrifft, heute weiß man, dass auch manche Erwachsene mit den Symptomen kämpfen ‒ und oft ist es eine Erleichterung, wenn eine Diagnose gestellt und das eigene Verhalten plötzlich verstanden wird.

ADS und ADHS gehören zur Gruppe der Verhaltensstörungen und emotionalen Störungen. Der Beginn ist typischerweise in Kindheit und Jugend. Etwa die Hälfte der Patienten sind auch noch als Erwachsene von der Erkrankung betroffen [2]. So liegt die Prävalenz im Kindes- und Jugendalter bei etwa 5% und im Erwachsenenalter bei etwa 2,5%. Die Symptomatik in der Kindheit und im Erwachsenenalter ist jedoch unterschiedlich ausgeprägt.

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Zunehmend berichten Influencer auf sozialen Plattformen über ihre ADHS-Erkrankungen sowie ihre Erfahrungen damit und treffen verallgemeinernde Aussagen über die Krankheit. Die Verallgemeinerungen berücksichtigen jedoch nicht die individuelle Situation ihrer Followerinnen und Follower, zudem handelt es sich bei den Influencern in der Regel um medizinische Laien. Psychologen und Psychiater warnen hier vor falschen Darstellungen der Erkrankung und irreführenden Gesundheitsinformationen, sowie vorschnellen Eigendiagnosen [3].

Diagnosekriterien: ADHS bei Erwachsenen

  • Symptombeginn in der Kindheit
  • mindestens sechs Anzeichen der drei Kernsymptome Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität oder Impulsivität
  • Probleme in mehr als einem Lebensbereich
  • starke Beeinträchtigung des Berufs- und Soziallebens

(modifiziert nach [6])

Dopaminerge Neurotransmission im Fokus

Pathophysiologisch spielt die Störung der dopaminergen Neurotransmission bei ADHS eine entscheidende Rolle. Genetische Polymorphismen von Dopamin-Transportern (DAT1) und Dopamin-D4-Rezeptoren (DRD4) werden mit ADHS assoziiert. In der Folge entsteht eine verminderte Neurotransmission bzw. ein Dopamin-Defizit in frontostriatalen Regionen des Gehirns [4]. Weiterhin sind die noradrenerge und die glutamaterge Neurotransmission pathophysiologisch involviert.

Genetische Veranlagung als Hauptrisikofaktor

Verschiedene Risikofaktoren beeinflussen die Ausprägung bzw. den Schweregrad der Erkrankung. Eine genetische Prädisposition mit verschiedenen Risikogenen spielt die größte Rolle. Weitere Faktoren sind z. B. Umweltgifte, Frühgeburt, niedriges Geburtsgewicht, mütterlicher Konsum von Alkohol und Nikotin während der Schwangerschaft, chronischer Stress und ein niedriger sozioökonomischer Status [4].

Unterschiedliche Symptomatik in Kindheit und Erwachsenenalter

Wie von dem Begriff Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung abgeleitet werden kann, sind Unaufmerksamkeit und Hyperaktivität zentrale Symptome. Besonders das Halten der Aufmerksamkeit fällt den Betroffenen schwer, sodass eine Beeinträchtigung des Alltags zum Beispiel in Schule oder Beruf vorliegt. Im beruflichen Kontext haben die ADHS-Betroffenen Probleme, sich zu konzentrieren, Termine einzuhalten oder sich selbst zu organisieren [5].

Die Hyperaktivität zeigt sich bei Kindern in Form von motorischer Unruhe, wodurch auch der Begriff des „Zappel­philipps“ geprägt wurde. Bei Erwachsenen liegt eher eine innere Unruhe bzw. Anspannung vor. Weitere Symptome von ADHS können Desorganisiertheit mit vermindertem Fokus, Impulsivität und Monotonieintoleranz sein. Mögliche Folgen für die Betroffenen sind ein vermindertes Selbst­wertgefühl, Stress und die Entwicklung einer depressiven Symptomatik [5]. Die Ausprägung der ADHS-Symptomatik kann sich dabei mit dem Alter verändern. Bei Erwachsenen bleibt vor allem die Aufmerksamkeitsstörung und die Impulsivität bestehen. Bei vielen der Betroffenen sind die Symptome im Erwachsenenalter jedoch schwächer ausgeprägt als in der Kindheit [6].

Häufige psychiatrische Komorbiditäten

Differenzialdiagnostisch ist es wichtig, andere psychische Erkrankungen auszuschließen, die mit ADHS verwechselt werden können. Andererseits liegen bei ADHS-Betroffenen häufig psychiatrische Komorbiditäten vor [7]. Im Erwachsenenalter können Begleiterkrankungen wie Depressionen oder Suchterkrankungen zur Diagnose einer zugrunde liegenden ADHS beitragen. Weitere mögliche Komorbiditäten können Angststörungen, das Borderline-Syndrom und bipolar-affektive Erkrankungen sein. Eine unbehandelte ADHS kann diese Begleiterkrankungen begünstigen. Manche Betroffene versuchen ihre Symptome mit Alkohol, Drogen, einem riskanten Fahrstil oder Extremsport zu lindern [6].

Die Diagnose wird oft spät gestellt

Die Diagnosekriterien im Erwachsenenalter sind vergleichbar mit denen im Kindesalter (s. Kasten „Diagnosekrite­rien“). Zwar ist die Diagnosestellung ab Beginn des Schul­alters möglich, doch wird sie oftmals erst später gestellt. Es handelt sich dabei um eine klinische Diagnose mit einer Befragung der Betroffenen, der Eltern und gegebenenfalls weiterer Bezugspersonen. Zusätzliche apparative Untersuchungen sind möglich, aber nur unterstützend [5].

Als Hilfestellungen können Tests wie der WURS- oder der HASE-Test durchgeführt werden. Die Wender Utah Rating Scale (WURS) dient der retrospektiven Diagnostik kindlicher ADHS-Symptome. Beim HASE-Test (Homburger ADHS-Skalen für Erwachsene) werden die verschiedenen Ausprägungen von ADHS abgefragt wie Hyperaktivität, Impulsivität, Desorganisiertheit und Unaufmerksamkeit. Es ergibt sich ein Score-Wert, der die Diagnose stützen kann [8].

ADHS-Symptome bei Erwachsenen

Im Erwachsenenalter können neben den Kernsymptomen des ADHS noch weitere Symptome auftreten:

  • Unaufmerksamkeit: Einschränkung der Leistungs- und Konzentrationsfähigkeit
  • psychomotorische Hyperaktivität: innere Unruhe, Anspannung
  • Impulsivität: vorschnelles, unüberlegtes Handeln
  • weitere mögliche Symptome: geringes Selbstwert­gefühl, starke Gefühls- und Stimmungsschwankungen, geringe Frustrationstoleranz, Probleme in ­sozialen Beziehungen

Therapie richtet sich nach Schweregrad

Die leitliniengerechte Therapie von ADHS orientiert sich an der Ausprägung der Symptomatik und der Präferenz der

Betroffenen. In leichten Fällen werden in der Regel keine Stimulanzien eingesetzt, sondern psychologische Maßnahmen wie zum Beispiel Psychoedukation. Ab einer mittelgradigen Symptomatik können auch Arzneimittel eingesetzt werden. Die S3-Leitlinie „ADHS bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen“ wird zurzeit überarbeitet [9]. Die Fertigstellung ist für Anfang 2026 geplant.

Stimulanzien sind erste Wahl

Die Stimulanzien Methylphenidat (z. B. Concerta®, Medikinet®, Ritalin®) und Lisdexamfetamin (z. B. Elvanse®) gehören zu den Wirkstoffen der ersten Wahl. Lisdexamfetamin, ein Prodrug von Dexamfetamin, ist allerdings erst dann indiziert, wenn auf eine vorherige Therapie mit Methylphenidat unzureichend angesprochen wurde. Die Stimulanzien bewirken einen Anstieg der Dopamin-Konzentration im synaptischen Spalt und sind zur Behandlung von Kindern und Erwachsenen mit ADHS indiziert. Allerdings ist bei der Darreichungsform von Methylphenidat nur die retardierte Form für Erwachsene zugelassen. Bei Kindern ist auch die nicht retardierte Variante mit einer schnelleren Anflutung des Wirkstoffs verfügbar. Eine ein- und ausschleichende Dosierung ist bei Therapiebeginn bzw. Therapieende notwendig [4].

Auf Grund des Abhängigkeitsrisikos und des Missbrauchspotenzials unterliegen die Stimulanzien dem Betäubungsmittelgesetz. Man nimmt aber an, dass das Suchtpotenzial für andere Suchtstoffe bei unbehandeltem ADHS größer ist als durch die bestimmungsgemäße medikamentöse Therapie. Diese wirkt sich eher protektiv auf mögliche Begleit­erkrankungen aus [10]. Nebenwirkungen der Stimulanzien sind unter anderem Schlafstörungen, Unruhe, Anspannung und eine Verminderung des Appetits. Daher sollte das Gewicht regelmäßig kontrolliert werden. Die letzte Dosis sollte vor 16.00 Uhr eingenommen werden, um Schlafstörungen zu minimieren. Psychiatrische Komorbiditäten können sich in Folge der Therapie verschlechtern. Dies muss engmaschig vom behandelnden Psychiater überprüft werden [4].

Angesichts der sympathomimetischen Wirkung der Stimulanzien empfiehlt sich eine regelmäßige Kontrolle von Puls, Blutdruck und EKG. Die Kombination der Stimulanzien mit Monoaminoxidase(MAO)-Hemmern ist kontraindiziert, da das Risiko einer hypertensiven Krise besteht. Bei älteren Patienten sollte der Einsatz gerade aufgrund des kardiovaskulären Nebenwirkungsprofils vorsichtig erfolgen [4].

Atomoxetin und Guanfacin

Wenn Stimulanzien zum Beispiel auf Grund einer Sucht­anamnese nicht eingesetzt werden können, kann auf den selektiven Noradrenalin-Reuptake-Inhibitor Atomoxetin (z. B. Strattera®) oder den α2A-Rezeptor-Agonist Guanfacin (Intuniv®) ausgewichen werden. Im Vergleich zum schnellen Wirkeintritt von Methylphenidat stellt sich ein Effekt bei Atomoxetin erst im Laufe einer Woche ein. Bis zum vollen Effekt kann es etwa einen Monat dauern. Zu beachten sind Interaktionen von Atomoxetin mit CYP2D6-Inhibitoren wie zum Beispiel Fluoxetin, da diese die Plasmakonzentration von Atomoxetin erhöhen können. Guanfacin ist derzeit nur für Kinder und Jugendliche im Alter von sechs bis 17 Jahren zugelassen, so dass der Einsatz bei Erwach­senen off-label erfolgt [4].

Nicht-medikamentöse Therapieansätze

Ziel der nicht-medikamentösen Therapie ist, dass die Patienten einen besseren Umgang mit ihrer Erkrankung erlernen und so ihre Selbstwirksamkeit gesteigert wird. Im Rahmen der Psychoedukation wird im Detail über die Erkrankung und das therapeutische Vorgehen aufgeklärt [5].

In der Psychotherapie können neben Selbstorganisation auch Emotionsregulation und Impulskontrolle erlernt werden. So können auch negative Folgen der Erkrankung wie zum Beispiel soziale Konflikte besser bewältigt werden. Bei Erwachsenen spielt die kognitive Verhaltenstherapie eine besondere Rolle [9]. Auch achtsamkeitsbasierte Verfahren und körperbezogene Physiotherapie können in das multi­modale Therapiekonzept miteinbezogen werden [5].

Nicht-medikamentöse Therapieansätze bei ADHS

  • Psychoedukation: Aufklärung über die Erkrankung und die Therapie
  • psychosoziale Intervention: Einbeziehen von Bezugspersonen des Alltags
  • Psychotherapie: kognitive Verhaltenstherapie, Einzel- und Gruppentherapie
  • weitere mögliche Maßnahmen: Achtsamkeits­training, körperbezogene Physiotherapie

Forschung zu Ernährung bei ADHS

Aus dem Feld der Nutritional Psychiatry gibt es mittlerweile Hinweise, dass die Ernährung und speziell künstliche Farbstoffe wie Azo-Lebensmittelfarbstoffe einen Risiko­faktor bei der Entstehung von ADHS darstellen können. Für konkrete Ernährungsempfehlungen fehlen aber noch belastbare Studiendaten [11].

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass ADHS im Erwachsenenalter oft nicht erkannt wird. Die Symptome können vielfältig sein und unterscheiden sich von der Symptomatik im Kindesalter. Begleiterkrankungen wie Depressionen oder Suchterkrankungen können zur Diagnosestellung führen. Aufklärungskampagnen über Social-Media-Kanäle können einerseits helfen, dass Betroffene sich in ärztliche Behandlung begeben, andererseits können sich dadurch auch gesunde Menschen fälschlicherweise als erkrankt einstufen. Insgesamt stehen viele Therapieansätze zur Verfügung, die über die rein medikamentöse Therapie hinausgehen. Gerade bei mittelschweren bis schweren Ausprägungen ist ein multimodaler Therapieansatz aus Pharmako- und Psychotherapie wichtig.

Literatur

[1] Neuy-Bartmann A. Willkommen in der Welt der ADHS. Informationen der ADHS Deutschland e. V., Stand 21. August 2024, www.adhs-deutschland.de/adhs-adhs-ads/adhs

[2] Steffen A et al. Diagnoseprävalenz psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland: eine Analyse bundesweiter vertragsärztlicher Abrechnungsdaten der Jahre 2009 bis 2017. Versorgungsatlas-Bericht 2018, doi: 10.20364/VA-18.07

[3] Ketzler A. ADHS-Selbstdiagnosen durch TikTok – sie sind „eher negativ“. Stand 22. August 2024, www.wa.de/deutschland-welt/tiktok-selbstdiagnose-soziale-medien-aerzte-psychologen-adhs-warnen-vor-gefaehrlichem-trend-92637961.html

[4] Geisslinger G et al. Mutschler. Arzneimittelwirkungen. 11. Auflage 2020, Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft Stuttgart

[5] Krankheitsbild ADHS bei Erwachsenen. Informationen des Medical Park Chiemseeblick, Stand 20. August 2024, psychosomatik.medicalpark.de/adhs

[6] Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung (ADHS). Informationen des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG), Stand 20. August 2024, www.gesundheitsinformation.de/adhs-bei-erwachsenen.html

[7] ADS/ADHS und Komorbiditäten – das Eisbergphänomen. Informationen der neurologischen Praxis Wiesbaden, Stand 21. August 2024, www.neuro-wiesbaden.de/ads-adhs-und-komorbiditaeten/

[8] Homburger ADHS-Skalen für Erwachsen, Informationen der Testzentrale, Stand 22. August 2024, www.testzentrale.de/shop/homburger-adhs-skalen-fuer-erwachsene-93680.html

[9] ADHS bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Langfassung der S3-Leitlinie, Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie e. V. (DGKJP), Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e. V. (DGPPN), Deutsche Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin e. V. (DGSPJ), Stand 21. August 2024, https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/028-045

[10] Leopoldt D. Die Therapie der ADHS. DAZ 2021, Nr. 1, S. 34

[11] Hyperaktivität und Zusatzstoffe – gibt es einen Zusammenhang? Stellungnahme Nr. 040/2007 des BfR vom 13. September 2007, mobil.bfr.bund.de/cm/343/hyperaktivitaet_und_zusatzstoffe_gibt_es_einen_zusammenhang.pdf


Oliver Nossek, Apotheker


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