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Die Arbeit mit dem WHO-Kit für Notfalleinsätze
80 Wirkstoffe müssen ausreichen
Bei humanitären Krisen, beispielsweise nach einem Erdbeben, entsenden Hilfsorganisationen Teams aus Ärzten, Apothekern und anderem Personal, um die Betroffenen medizinisch zu versorgen. Im Gepäck haben die Teams in der Regel den fertig gepackten Interagency Emergency Health Kit der WHO (IEHK). Er enthält die nötigen Arzneimittel und medizinischen Geräte. Apotheker ohne Grenzen schulen für die Arbeit mit dem WHO-Kit.
„Mit 80 Medikamenten in der Nothilfe die Basisgesundheitsversorgung aufrechterhalten“ lautet der Titel der Schulung der Apotheker ohne Grenzen (AoG). Dr. Carina Vetye begrüßt rund 60 Teilnehmer zu der Online-Veranstaltung, in der sie den Aufbau des Interagency Emergency Health Kit erklärt. Zuerst beschreibt sie ihren Zuhörern jedoch die Situation, auf die sie sich vorbereiten, mit einem Bild: „Wenn wir in einer Feldküche 10.000 Menschen mit Essen versorgen müssen, servieren wir dann jedem sein Lieblingsessen? Nein, damit könnten wir keine 500 Menschen versorgen. In so einer Situation gibt es Erbsensuppe mit Brot, und das Ziel ist, dass jeder einen Teller bekommt.“ Als Beispiel, mit dem sie dieses Bild auf die Arzneimittelversorgung überträgt, wählt Vetye die Schmerzmittel: Über 160 analgetische Wirkstoffe stehen uns in Deutschland zur Verfügung. Jeder Patient bekommt das Analgetikum, das für seinen Schmerz, sein Alter, seinen Gesundheitszustand am besten geeignet ist. Der IEHK enthält gerade einmal vier Analgetika, jeweils in nur einer Darreichungsform und einer Stärke.
Da müssen Ärzte und Apotheker von gewohnten Therapien abweichen, sich mit fremden Therapieschemata auseinandersetzen, und viel improvisieren. Genau das sollen die teilnehmenden Pharmazeuten in der AoG-Schulung lernen. Eine Fähigkeit, die auch bei uns in Ausnahmesituationen von Nutzen sein kann. So erzählt Vetye, dass sie 2015 in der Versorgung großer Flüchtlingsunterkünfte mit dem IEHK-Approach gearbeitet hat, um die Angekommenen zu versorgen.
Ein Kit für 10.000 Betroffene
Ein Interagency Emergency Health Kit ist für die Versorgung von 10.000 von einer Notsituation betroffenen Menschen für die Dauer von drei Monaten konzipiert. Nicht für 10.000 Kranke, betont die Referentin, es brauche ja nicht jeder Betroffene medizinische Versorgung. Die Zusammensetzung des Kits ist standardisiert, er ist vorgepackt in beschrifteten, nummerierten Kartons. Jedes Mitglied eines internationalen Einsatzteams findet sich so in den Kisten zurecht, weiß was enthalten und wo es zu finden ist. Die Zusammenstellung wird unter Mitarbeit großer Hilfsorganisationen von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) festgelegt. 2024 wurde der Kit überarbeitet – die Schulung ist also sowohl für erfahrene Einsatzhelfer als auch für Neulinge in der Nothilfe wichtig.
Keine Therapie chronischer Erkrankungen
Der Kit enthält Medikamente für die Akutversorgung und kleinere medizinische Eingriffe. Die Ärzte können also eine Wunde desinfizieren und nähen, aber keine große Operation durchführen. Er enthält Arzneimittel zur Behandlung von Infektionen, Durchfallerkrankungen, Schmerzen und anderen akuten Erkrankungen, keine Dauermedikation gegen Bluthochdruck, Hauterkrankungen, HIV/AIDS etc., keine Impfungen, keine Kontrazeptiva, keine Zytostatika. Die Katastrophenhilfe dient dem Gap-Filling, also dem kurzzeitigen Überbrücken einer Situation mit Personal und Material, in der die Gesundheitsversorgung vor Ort aufgrund der Notsituation nicht handlungsfähig ist.
Aufbau in Modulen
Ein IEHK ist nochmals in Module unterteilt. Jeder Kit enthält zehn Basismodule und ein ergänzendes Modul (supplementary module), die jeweils einzeln gepackt sind. Die Basismodule, jedes für die Versorgung von 1000 Betroffenen ausgelegt, enthalten Verbrauchsmaterialien und Arzneimittel, die auch von weniger qualifiziertem Personal in einfachem Setting angewendet werden können, zum Beispiel die bei uns in dieser Form nicht existierenden Community Health Worker. Medikamente enthalten sie ausschließlich in Form von Tabletten und Cremes. Im ergänzenden Modul finden sich dann zum Beispiel Parenteralia, kühlpflichtige Arzneimittel, Betäubungsmittel, Psychopharmaka oder Medikamente zur Postexpositionsprophylaxe nach sexuellem Missbrauch, also Darreichungsformen und Wirkstoffe, die durch Ärzte verordnet und oft im klinischen Setting verabreicht werden müssen.
WHO-Liste als Grundlage
Nach welchen Kriterien erfolgt die Wirkstoffauswahl für den IEHK? Grundvoraussetzung ist, so erklärt Vetye in der Schulung, dass ein Wirkstoff in der Essential Medicines List der WHO gelistet ist. Diese enthält aktuell 591 Wirkstoffe, die laut WHO für eine gesundheitliche Basisversorgung benötigt werden. Rund 80% aller Länder bauen ihre Gesundheitsversorgung auf der WHO-Liste auf. Meist sind dies Staaten mit geringem Durchschnittseinkommen, in denen die Bevölkerung nicht krankenversichert ist. Das medizinische Personal ist hier entsprechend erfahren darin, mit den wenigen dort verzeichneten Wirkstoffen zu behandeln. Deutsche Ärzte und Apotheker, die es gewohnt sind, eine Vielfalt an Wirkstoffen in verschiedenen Darreichungsformen und Dosierungen zur Verfügung zu haben, müssen sich dagegen erst auf die beschränkte Auswahl einstellen.
Dr. Carina Vetye zieht abseits vom Thema Nothilfe an dieser Stelle ein trauriges Resümee: „Wir haben es noch nicht mal geschafft, dass diese wenigen Medikamente der WHO-Liste überall auf der Welt verfügbar sind. In Argentinien sind wir froh, wenn wir 200 Wirkstoffe haben, mit denen wir arbeiten können. Um es wieder mit der Erbsensuppe zu vergleichen: Auch außerhalb von Katastrophensituationen bekommen wir es nicht hin, dass jeder Mensch auf der Erde wenigstens einen Teller Suppe bekommt.“
Aus der Essential Medicines List werden dann die Wirkstoffe ausgewählt, mit denen die IEHK bestückt werden, aktuell 80 Substanzen. Auch hier ein Beispiel: Von 48 Antibiotika, welche die WHO als essenziell in ihrer Liste aufführt, stehen in der Katastrophenhilfe gerade einmal elf zur Verfügung.
Handbuch für deutschsprachige Einsatzkräfte
Zurück zur Schulung der zukünftigen Einsatzkräfte: Wer kennt sich aus in der Anwendung und Dosierung von Albendazol gegen Wurmerkrankungen, Hydralazin und Methyldopa bei einer hypertensiven Krise? Vetyes Fragen in die Teilnehmerrunde lösen meist ein ratloses Kopfschütteln aus. Aus unseren Apotheken kennen wir andere Wirkstoffe als die international gebräuchlichen aus der WHO-Liste. Damit startet der praktische Teil der Schulung: Patientenbeispiele werden vorgestellt, passende Therapien gesucht, Dosierung und Anwendungshinweise durchgesprochen, wie sie mit dem Inhalt des Interagency Emergency Health Kits durchführbar sind.
Für deutschsprachige Einsatzkräfte hat Dr. Carina Vetye ein Handbuch zur Arbeit mit dem IEHK erarbeitet, das sie den Schulungsteilnehmern zur Verfügung stellt. Zu jedem der 80 enthaltenen Wirkstoffe enthält das Manual eine ausführliche Monographie mit Indikationen, Dosierungen, Hinweisen zur Applikation, zur Anwendung in der Schwangerschaft, Nebenwirkungen, Kontraindikationen, Wechselwirkungen, Lagerbedingungen, und nicht zuletzt der Information, wo in den Kisten des Interagency Emergency Health Kit der jeweilige Wirkstoff zu finden ist. Zu den Monographien wird man sowohl aus einem Wirkstoff- als auch aus einem Indikations-Register geleitet. Auch international gebräuchliche Abkürzungen von Wirkstoffnamen und Fertigarzneimittelnamen, die von Ärzten oft synonym verwendet werden, können in Vetyes Manual nachgeschlagen werden.
Das Handbuch kann auch unabhängig von den AoG-Schulungen unter der ISBN 978-3-00-079734-7 erworben werden. Wenn Sie auf DAZ.online den Webcode U3LC8 eingeben, gelangen Sie direkt zur Bestellseite.
Üben, üben, üben!
Vetyes Handbuch enthält das gebündelte Fachwissen, das man als pharmazeutische Einsatzkraft braucht. Doch beim ersten Patientenfall wird klar: man muss lernen, damit zu arbeiten. „Das ist wie bei der Feuerwehr“, erklärt Vetye, „die können auch nicht erst vor dem brennenden Haus anfangen, die Gebrauchsanweisung für Geräte zu lesen.“ Eine Stunde lang diskutieren die Teilnehmenden also, wie sie Patienten mit Brandwunden, Gestationsdiabetes, Masern oder Krätze im Nothilfe-Einsatz behandeln würden. Der Arbeitsauftrag von Vetyes ist klar: Alle sollen selbstständig weiter üben, beispielsweise an Patientenfällen aus ihren Apotheken, und ermitteln, wie die Erkrankten mithilfe des IEHK versorgt werden könnten.
1 Kommentar
Wo bleibt die WHO-Liste "Version Germany"?
von Christian Fehske am 17.10.2024 um 8:19 Uhr
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