Kleine Patienten – großes Risiko

Dosierung von Levetiracetam-Lösung kann problematisch sein

09.12.2024, 12:30 Uhr

Gerade bei Verordnungen für kleine Kindern sollte darauf geachtet werden, dass ein geeignetes Präparat mit passender Dosierspritze verschrieben wurde (Foto: Kadmy/AdobeStock).  

Gerade bei Verordnungen für kleine Kindern sollte darauf geachtet werden, dass ein geeignetes Präparat mit passender Dosierspritze verschrieben wurde (Foto: Kadmy/AdobeStock). 
 


Aufgrund der Besonderheiten der pädiatrischen Therapie gelten Kinder als besonders gefährdet für Nebenwirkungen und Medikationsfehler. Nur ein Bruchteil unserer Arzneimittel ist für Kinder zugelassen. Deshalb müssen diese viel zu oft mit Arzneimitteln und Darreichungsformen behandelt werden, die für ihre Altersgruppe nicht zugelassen (Off-label-Use) oder geeignet sind. Darüber hinaus werden die kleinen Patienten nicht optimal therapiert, wenn passende Präparate nicht bekannt sind oder gefunden werden. Hierbei kann auch eine entsprechende Produktvielfalt zum Verhängnis werden, wie im aktuellen Fall aus CIRS-NRW deutlich wird

Ist es also ein Glücksfall in der Pädiatrie, wenn ein Präparat nicht nur in einer für Kinder akzeptablen Formulierung (z. B. Saft oder Lösung) vorhanden ist, sondern aufgrund der Verfügbarkeit diverser Dosierhilfen zugleich passgenau für verschiedene Altersstufen dosiert werden kann? Am Beispiel von Levetiracetam wird deutlich, dass ein solches „Idealszenario“ durchaus mit Risiken behaftet sein kann.

Überdosierungen von Levetiracetam

Aufgrund von Medikationsfehlern wurde zu dem Antiepileptikum Levetiracetam im Jahr 2016 ein Rote-Hand-Brief herausgegeben. Europaweit kam es in mehreren Fällen versehentlich zu bis zu zehnfachen Überdosierungen im Zusammenhang mit Levetiracetam-Lösung zum Einnehmen. Eine Überdosierung kann zu schwerwiegenden Nebenwirkungen wie beispielsweise herabgesetztem Bewusstsein, Atemdepression und Koma führen. Die Mehrzahl der Fälle trat bei Kindern im Alter zwischen sechs Monaten und elf Jahren auf. Eine Überdosierung wurde entweder durch die Verwendung einer nicht geeigneten Applikationsspritze (Beispiel: Verwechslung einer 1-ml- mit einer 10-ml-Applikationsspritze) oder durch ein Missverständnis bezüglich der korrekten Abmessung der Dosis verursacht.

Bunte Vielfalt

Ursächlich war das breite Sortiment von Levetiracetam-haltigen Lösungen bzw. die nicht ausreichende Unterscheidbarkeit der Präparate. So war und ist z. B. Keppra®-Lösung in drei verschiedenen Varianten auf dem Markt. Die Konzentration ist jeweils dieselbe (100 mg/ml), die drei Präparate unterscheiden sich aber hinsichtlich des Anwendungsalters und der beigelegten Dosierspritze sowie der entsprechenden Graduierung (s. Tab.).

Tab.: Drei Packungsgrößen sind von Keppra® 100 mg/ml Lösung zum Einnehmen erhältlich, Anwendungsgebiet: „Zur Zusatz­behandlung – partieller Anfälle mit oder ohne sekundäre Generalisierung bei Erwachsenen, Kindern und Säuglingen ab 1 Monat mit Epilepsie.“
ArtikelbezeichnungApplikationshilfeHinweise zum AnwendungsalterMenge/EinheitNormgröße/ Farbcode
Keppra® 100 mg/ml Lösung zum Einnehmen1-ml-Dosierpipette mit Skalierungsschritten von jeweils 0,05 ml (entsprechend 5 mg)für Säuglinge ab 1 Monat bis unter 6 Monaten150 ml

N2

blau

Keppra® 100 mg/ml Lösung zum Einnehmen3-ml-Dosierpipette mit Skalierungsschritten von jeweils 0,1 ml (entsprechend 10 mg)für Säuglinge und kleine Kinder ab 6 Monaten bis unter 4 Jahren150 ml

N2

grün

Keppra® 100 mg/ml Lösung zum Einnehmen10-ml-Dosierpipette mit Skalierungsschritten von jeweils 0,25 ml (entsprechend 25 mg)für Kinder ab 4 Jahren, Jugendliche und Erwachsene300 ml

N3

orange

Maßnahmen zur sicheren Anwendung

Infolge der gemeldeten Überdosierungen wurden Maßnahmen getroffen, um sicherzustellen, dass zukünftig die jeweils richtigen Dosierspritzen bei der Bemessung der Dosierung von Keppra®-Lösung bei Kindern verwendet werden.

Zulassungsinhaber wurden aufgefordert

  • Farbkodierungen und Piktogramme zu verwenden, um verschiedene Packungsgrößen voneinander zu unterscheiden
  • klar anzugeben, für welches Patientenalter die entsprechende Packungsgröße indiziert ist (Warnhinweis auf der Vorderseite der Verpackung sowie im Etikett)
  • auf der Verpackung/dem Etikett klar anzugeben, welche Applikationsspritze mit einer bestimmten Packungsgröße zu verwenden ist

Entwickelt wurde folgender Farbcode (siehe Abb.):

  • Blau für die 150-ml-Packung mit der 1-ml-Dosierspritze, geeignet für Kinder bis zu einem halben Jahr;
  • Grün für die 150-ml-Packung mit der 3-ml-Dosierspritze, geeignet für Kinder bis zu vier Jahren;
  • Orange für die 300-ml-Packung mit der 10-ml-Dosier­spritze, geeignet ab einem Alter von vier Jahren.
Abb.: Verschiedene Varianten von Keppra®-Lösung zum Einnehmen Durch die Farbcodes für die unterschiedlichen Packungen soll klar erkennbar sein, welche Größe mit welcher Spritze zu verwenden ist und für welche Altersgruppe sie sich eignet. [EMA]

Die betroffenen Zulassungsinhaber überarbeiteten die Gebrauchsinformation, um die Verständlichkeit der Dosierungsempfehlungen zu verbessern und Missverständnissen vorzubeugen. Zudem wurden wichtige Empfehlungen für Angehörige von Gesundheitsberufen sowie Patienten herausgegeben, die im Kasten „Empfehlungen“ dargestellt sind.

CIRS-Fall 266321: Falsches Präparat mit ungeeigneter Dosierhilfe verordnet

Altersgruppe des Patienten: 0 bis 1 Jahr

Was ist passiert?

  • Verordnung Keppra® 100 mg/ml LSE 300 ml PZN 10228804, enthält eine 10 ml Spritze und ist lt. Packungsbeilage ab 4 Jahren geeignet
  • drei Packungsgrößen erhältlich: 150-ml-Flasche mit 1-ml- (N2) bzw. 3-ml-Applikationsspritze N2), 300-ml-Flasche mit 10-ml-Applikationsspritze (N3) (s. Tab.)

Was war das Ergebnis?

Änderung der Verordnung seitens der Apotheke mit Sondervermerk für die Krankenkasse

Wo sehen Sie Gründe für dieses Ereignis und wie hätte es vermieden werden können?

Medikament wurde schon vom Krankenhaus so verordnet mit der Bemerkung, das Arzneimittel sei nicht für Kinder unter 4 Jahren zugelassen (Aussage der Mutter) sowie 2-ml-Spritzen separat dazugegeben

Anzeige gegen Unbekannt

Doch auch die Umsetzung solch umfangreicher Maßnahmen stellt keine Garantie für eine sichere Arzneimitteltherapie dar, wie auch der CIRS-Fall „Falsches Präparat mit ungeeigneter Dosierhilfe verordnet“ mit der Fall-Nr. 266321 (siehe Kasten „CIRS-Fall 266321“) verdeutlicht. Einem Säugling wurde vom Krankenhaus und offenbar auch vom weiterversorgenden Arzt eine Keppra®-Lösung, die eigentlich für Kinder ab vier Jahren vorgesehen ist, verordnet. Den Eltern wurde mitgeteilt, dass das rezeptierte Präparat nicht für Kinder unter vier Jahren geeignet sei und zur Dosierung die zusätzlich mitgegebene 2-ml-Dosierspritze verwendet werden solle. Entscheidend ist hierbei, dass in der Klinik und offenbar auch in der weiterversorgenden Arztpraxis entweder nicht bekannt war, dass Keppra®-Lösung zum Einnehmen in verschiedenen Varianten auf dem Markt verfügbar ist oder dass das für Säuglinge geeignete Präparat mit passender Dosierspritze für den Verordner möglicherweise nicht auffindbar war.

Unbekannt ist, ob bei der Verordnung auf ein elektronisches Verordnungssystem zurückgegriffen wurde. Möglicherweise war die genutzte Arzneimitteldatenbank nicht aktuell oder es lagen andere Probleme in Bezug auf die Nutzbarkeit oder Übersichtlichkeit vor. Damit entsprechende Lösungen erarbeitet werden können, sollte der Verordnungsfehler seitens der Apotheke unbedingt an die Klinik bzw. Praxis zurückgemeldet werden. Hierbei sollte noch einmal erwähnt werden, dass zukünftig auf die Mitgabe einer zusätzlichen, nicht zum Produkt zugehörigen, Dosierspritze zu verzichten ist, da dies zusätzliche Verunsicherung bei den Eltern hervorrufen kann. Zudem kann auf Arzneimitteldatenbanken, wie z. B. „ZAK® – Zugelassene Arzneimittel für Kinder“, die unabhängig von der Verordnungssoftware genutzt werden können, verwiesen werden. ZAK® enthält Arzneimittel, die für mindestens eine pädiatrische Altersgruppe vom Neu­geborenen bis zum Jugendlichen zugelassen sind. Die in der Datenbank enthaltenen Informationen dienen dazu, der behandelnden Ärztin oder dem behandelnden Arzt das Auffinden der für die Behandlung von Kindern relevanten Informationen zu erleichtern. Sie unterstützt zudem die Auswahl einer altersgerechten Darreichungsform. 

Die Datenbank kann über www.zak-kinderarzneimittel.de/ aufgerufen und nach einem Login über DocCheck kostenlos genutzt werden.

Empfehlungen

... für Angehörige der Gesundheits­berufe

  • Ärzte sollten daher die dem Alter entsprechende Dosis immer in Milligramm und unter Angabe der äquivalenten Milliliter-Menge verordnen.
  • Apotheker sollten sicherstellen, dass die geeignete Packungsgröße von Levetiracetam Lösung zum Ein­nehmen abgegeben wird.
  • Bei jeder Verordnung sollten Ärzte und Apotheker den Patienten und/oder den Betreuern das korrekte Abmessen der Dosis des Arzneimittels erklären.
  • Bei jeder Verordnung sollten Ärzte und Apotheker die Patienten oder die Betreuer daran erinnern, ausschließlich die mit dem Arzneimittel mitgelieferte Applikationsspritze zu verwenden. Die Applikationsspritze sollte entsorgt werden, sobald die Arzneimittelflasche leer ist und sollte nicht aufbewahrt werden.

... für Patienten

  • Eltern bzw. Betreuer sollten überprüfen, ob sie die richtige Dosierspritze bei der Bemessung der Dosis verwenden.
  • Es sollte immer nur jene Dosierspitze verwendet werden, die dem Arzneimittel beigepackt ist.
  • Sobald die Flasche leer ist, sollte die Spritze weggeworfen (und nicht aufgehoben) werden, um spätere Verwechslungen zu vermeiden.
  • Falls Unklarheiten oder Bedenken hinsichtlich der richtigen Anwendung des Arzneimittels bestehen, sollte umgehend Rücksprache mit einem Arzt oder Apotheker gehalten werden.

Die Apotheke als Sicherheitsbarriere

Erneut sind Ärzte und Apotheker gefordert, sich mit diesen Änderungen auseinanderzusetzen und Patienten bzw. Eltern hierüber aufzuklären. Die Rolle der Apotheke als wichtige Sicherheitsbarriere wird im aktuellen CIRS-Fall mehr als deutlich. Die Fehlverordnung wurde durch das pharmazeutische Personal erkannt und der Medikationsfehler hat den Säugling nicht erreicht. Damit dies grundsätzlich sichergestellt ist, gilt es bei jeder Verordnung konsequent zu hinterfragen: „Handelt es sich um

  • den richtigen Patienten
  • das richtige Medikament
  • die richtige Dosierung
  • die richtige Applikationsart
  • den richtigen Einnahmezeitpunkt
  • die richtige Dokumentation?“

Zudem darf ein entscheidender Beratungshinweis bei keiner Abgabe einer Levetiracetam-Lösung fehlen: „Die Applikationsspritze sollte entsorgt werden, sobald die Arzneimittelflasche leer ist und sollte nicht aufbewahrt werden, um spätere Verwechslungen zu vermeiden.“

CIRS-NRW

 

CIRS-NRW steht für „Critical-Incident-Reporting-System Nordrhein-Westfalen“. Es handelt sich um ein internetgestütztes Berichts- und Lernsystem zur anonymen Meldung von kritischen Ereignissen in der Patientenversorgung. CIRS-NRW soll dazu beitragen, dass über kritische Ereignisse offen gesprochen und aus ihnen gelernt wird. Somit sollen Wege zur Vermeidung von Risiken diskutiert und Lösungsstrategien erarbeitet werden. Die Apothekerkammern Nordrhein und Westfalen-Lippe sind Partner von CIRS-NRW – gemeinsam mit den Ärztekammern, den Kassenärztlichen Vereinigungen und der Krankenhausgesellschaft NRW. Die Professionen Arzt und Apotheker treffen insbesondere im Medikationsprozess aufeinander. Die beidseitige Sensibilisierung für Medikationsfehler sowie die gegenseitige Kenntnis der organisatorischen Strukturen in Arztpraxis und Apotheke tragen zur Erhöhung der Arzneimitteltherapie­sicherheit bei. Das sektoren- und professionsübergreifende Berichts- und Lernsystem CIRS-NRW ist in Deutschland einzigartig: www.cirs-nrw.de


Carina John, PharmD, Autorin DAZ.online
redaktion@daz.online


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