Was ist das Guillain-Barré Syndrom?
Die weltweite jährliche Inzidenz des Guillain-Barré Syndrom liegt bei ein bis zwei pro 100.000 Personenjahre. Weltweit erkranken etwa 100.000 Menschen pro Jahr. Betroffen sind Personen jeden Alters, jedoch nimmt die Inzidenz mit steigendem Alter zu und erreicht ihren Höhepunkt zwischen 50 bis 70 Jahre. Männer erkranken häufiger als Frauen [1, 2].
Muskelschwäche und Lähmungen als Leitsymptome
Die Symptome und der Schweregrad des Guillain-Barré Syndrom sind sehr unterschiedlich. Die Erkrankung beginnt häufig mit einer Schwäche der unteren Extremitäten. Betroffene Patienten haben Probleme mit dem Aufstehen aus dem Sitzen sowie dem Treppensteigen. Zunehmend kommt es dann auch zur Schwäche der Muskulatur der oberen Extremitäten. Patienten erreichen meist innerhalb von zehn bis 14 Tagen den Höhepunkt der Beeinträchtigung. Während Patienten mit leichten Verlaufsformen noch eine gute Gehfähigkeit aufweisen, kommt es bei schweren Verlaufsformen zu einer Lähmung aller vier Extremitäten (Tetraplegie), sowie zu Atemlähmung und Lähmung der Schlund- und Rachenmuskulatur. Sind die Hirnnerven betroffen, treten am häufigsten Fazialisparesen auf, manchmal auch Augen- oder Zungenmuskelparesen. Etwa ein Drittel der Patienten klagen über Myalgien und radikuläre Schmerzen. Auch das vegetative Nervensystem ist betroffen, was zu Hypotonie und Störungen der Schweißproduktion führt. Treten Herzrhythmus- oder Überleitungsstörungen auf, kann dies für den Patienten besonders gefährlich werden [2, 3].
Zuerst Infektion, dann GBS?
In den meisten Fällen handelt es sich beim Guillain-Barré Syndrom um eine postinfektöse Erkrankung und zwei Drittel der Patienten berichten über prodromale gastrointestinale oder respiratorische Symptome. Der am häufigsten identifizierte pathogene Auslöser ist Campylobacter jejuni. In etwa einem von 1000 Fällen führt eine Infektion mit diesem Keim zu GBS. Andere Erreger, die mit Guillain-Barré Syndrom in Verbindung gebracht werden, sind das Epstein-Barr-Virus (EBV), das Zytomegalievirus (CMV), das Hepatitis-E-Virus (HEV), Mycoplasma pneumoniae, Haemophilus influenzae, das Influenza-A-Virus und das Zika-Virus.
Es gibt auch epidemiologische Belege für einen Zusammenhang zwischen einigen Impfstoffen und einer späteren GBS Diagnose. Zu diesen gehören der Grippeimpfstoff, der rekombinante Zoster-Impfstoff (RZV) und die Adenovirus-Vektor-Impfstoffe gegen SARS-CoV-2. Die European Academy of Neurology/Peripheral Nerve Society (EAP/PNS) kommt jedoch in ihrer Leitlinie zum Schluss, dass die Vorteile der Impfung das geringfügig erhöhte Risiko eines Guillain-Barré Syndrom nach der Impfung deutlich überwiegen. Zuletzt besteht in den ersten sechs Wochen nach einem chirurgischen Eingriff ein erhöhtes Risiko ein Guillain-Barré Syndrom zu entwickeln, vor allem wenn es sich um einen orthopädischen oder gastrointestinalen Eingriff aufgrund einer aktiven Malignität handelt.
Möglicherweise spielen auch genetische Faktoren eine Rolle in der Immunbiologie des Guillain-Barré Syndrom. In einer Metaanalyse konnte ein mäßiger Zusammenhang zwischen GBS und einem Polymorphismus des Tumornekrosefaktorgens festgestellt werden. Inwieweit GBS genetisch bedingt ist, muss aber erst noch in groß angelegten Studien untersucht werden [3].
Wie kommt es zu Lähmungen?
Beim Guillain-Barré Syndrom handelt es sich um eine immunologisch bedingte entzündliche Erkrankung der peripheren Nerven und Nervenwurzeln, die zur Demyelinisierung der Nerven führt. Dadurch können Nervenimpulse nur noch schwach oder gar nicht mehr übertragen werden. Das GBS wurde traditionell in zwei Formen unterteilt: die akute inflammatorische demyelinisierende Polyradikuloneuropathie (AIDP) und die akute motorische axonale Neuropathie (AMAN). Allerdings wird diese Aufteilung in letzter Zeit zunehmend infrage gestellt und die neuen EAN/PNS-Leitlinien unterstützen die Unterscheidung zwischen AIDP und AMAN nicht mehr. Bereits in den 1940ern wurde in postmortalen Nervenbiopsien eine auffällige Lymphozyteninfiltration festgestellt. Heute ist klar, dass sowohl angeborene als auch zelluläre Immunmechanismen am Guillain-Barré Syndrom beteiligt sind [2, 3]. Ein Forscherteam der ETH Zürich konnte kürzlich die Ursache des GBS aufklären. Mittels hochempfindlicher Messverfahren wies das Forschungsteam nach, dass bei Patienten mit Guillain-Barré Syndrom T-Lymphozyten ins Nervengewebe eindringen und auf die Myelinscheide reagieren. Diese autoreaktiven T-Lymphozyten tragen eine krankheitsspezifische Signatur, die bei gesunden Menschen nicht zu finden ist. Des Weiteren gelang es den Forschern in einer Patientenuntergruppe nach einer Virusinfektion T-Lymphozyten zu identifizieren, die sowohl auf die Selbstantigene der Myelinscheide als auch auf die Virusantigene reagierten, was für einen direkten Zusammenhang zwischen GBS-Erkrankung und vorausgegangener Virusinfektion spricht [4]. Letztlich ist der Ausfall der Nervenleitung und das damit verbundene Spektrum an neurologischen Symptomen auf eine Schädigung der Neurone oder der Glia oder beider zurückzuführen. Die gestörte Reizweiterleitung ist reversibel, es besteht die Möglichkeit einer raschen Erholung, einer Demyelinisierung mit langsamerer Erholung oder einer axonalen Degeneration mit langwieriger und häufig unvollständiger Erholung. Auch eine Kombination aller drei Varianten ist möglich [3].
Diagnose nach Kriterienkatalog
Da die Symptome und der Schweregrad dieser sehr unterschiedlich sind, kann die Diagnose von GBS schwierig sein, vor allem in den ersten Tagen. Nach den Empfehlungen der EAN/PNS erfolgt die Diagnose nach den folgenden Merkmalen. Zusätzliche diagnostische Tests sollten je nach Differenzialdiagnose in Betracht gezogen werden [1]:
- erforderliche Merkmale: Fortschreitende Schwäche der Arme und Beine, fehlende oder verminderte Sehnenreflexe in den betroffenen Gliedmaßen, progressive Verschlechterung über einen Zeitraum von nicht mehr als vier Wochen
- Merkmale, die die Diagnose unterstützen: relative Symmetrie, relativ milde/abwesende sensorische Symptome und Anzeichen, Hirnnervenbeteiligung (insbesondere beidseitige Gesichtslähmung), autonome Dysfunktion, respiratorische Insuffizienz (aufgrund von Muskelschwäche), Schmerzen (muskulär/radikulär in Rücken oder Gliedmaßen), kürzlich aufgetretene Infektion (< 6 Wochen), (möglicherweise auch Operation)
- Laborbefunde, die die Diagnose unterstützen: im Liquor erhöhtes Protein; normales Protein schließt die Diagnose nicht aus, weiße Blutkörperchen normalerweise < 5×106/l
- Nervenleitfähigkeitsuntersuchungen (NCS) im Einklang mit Polyneuropathie. NCS kann in den ersten Tagen der Erkrankung normal sein
Immunglobuline und Plasmaaustausch
Die Therapie des Guillain-Barré Syndrom erfolgt mittels intravenöser Immunglobulin-Gabe und Plasmaaustausch. Darüber hinaus haben sich keine anderen Verfahren oder Medikamente als wirksam für die Behandlung des GBS erwiesen. Bei GBS kann eine rasch fortschreitende Schwäche auftreten, die innerhalb von Stunden bis Tagen auftritt und im weiteren Verlauf zu Ateminsuffizienz führt. Wird ein drohendes Atemversagen nicht erkannt, kann dies zum Tod oder zu einer hypoxiebedingten Behinderung führen. Bei Patienten mit GBS, die eine laufende Infektion haben, kann eine antimikrobielle oder antivirale Behandlung in Betracht gezogen werden; vorangegangene Infektionen sind jedoch in der Regel vor dem Auftreten der Schwäche abgeklungen.
Die meisten Patienten mit GBS, selbst diejenigen, bei denen zum Zeitpunkt des Ausbruchs Arme und Beine gelähmt waren oder lange Zeit mechanisch beatmet werden mussten, erholen sich weitgehend, insbesondere im ersten Jahr nach Ausbruch der Krankheit. Wiederkehrende GBS - Episoden sind selten und betreffen nur ca. 2 bis 5% der Patienten. Trotz der im Allgemeinen positiven Aussichten für Patienten mit GBS kommt es in 3 bis 10% der Fälle zum Tod, am häufigsten aufgrund von kardiovaskulären und respiratorischen Komplikationen [5].
Literatur
[1] Van Doorn PA, van den Bergh PYK, Hadden RDM et al. European Academy of Neurology/Peripheral Nerve Society Guideline on diagnosis and treatment of Guillain-Barré syndrome. Eur J Neurol 2023 Dec;30(12):3646-3674, doi: 10.1111/ene.16073. Epub 2023 Oct 10. PMID: 37814552
[2] Malin JP und Sindern E. Das akute Guillain-Barré-Syndrom, Dtsch Arztebl 1996; 93(28-29): A-1895 / B-1539 / C-1409
[3] Bellanti R, Rinaldi S. Guillain-Barré syndrome: a comprehensive review. Eur J Neurol 2024;31(8):e16365, doi: 10.1111/ene.16365. Epub 2024 May 30. PMID: 38813755; PMCID: PMC11235944
[4] Keller M. Die Ursache des Guillain-Barré-Syndroms aufgeklärt, Pressemitteilung der ETH Zürich am 19. Januar 2024, https://ethz.ch/de/news-und-veranstaltungen/eth-news/news/2024/01/die-ursache-des-guillain-barre-syndroms-aufgeklaert.html
[5] Leonhard SE, Mandarakas MR, Gondim FAA et al. Diagnosis and management of Guillain-Barré syndrome in ten steps. Nat Rev Neurol 2019;15(11):671-683,
doi: 10.1038/s41582-019-0250-9. Epub 2019 Sep 20. PMID: 31541214; PMCID: PMC6821638