Was wir von unseren Nachbarn lernen können
Das Apothekenwesen in Frankreich unterscheidet sich in vielen Ausprägungen vom deutschen Status Quo. Es ist einerseits strenger reguliert, weil es stärker in das staatliche Gesundheitssystem eingebunden ist. Andererseits zeichnet es sich durch innovative Versorgungsmodell und Vergütungsstrukturen aus.
Digitale Effizienz dank der Carte Vitale
Das Herzstück des französischen Gesundheitssystems ist die „carte vitale“, die jeder Versicherte besitzt. Sie enthält neben den Versichertenstammdaten auch administrative Informationen wie z. B. die Befreiung von Vorauszahlungen bei Invalidität oder bei Langzeiterkrankungen und ermöglicht die Übermittlung dieser Daten an die Krankenkassen, wodurch die Erstattung erleichtert wird. Gleichzeitig verbindet sie Apotheken direkt mit der staatlichen Krankenversicherung („sécurité sociale“). Die Abrechnung erfolgt zügig, da dispensierte Arzneimittel digital erfasst und mit dem gescannten Rezept direkt an die Krankenkasse übermittelt werden. In der Regel ist binnen fünf bis zehn Tagen das Geld auf dem Konto der Apotheke. Praktisch ist das vor allem, weil die meisten Großhändler Monatsrechnungen stellen.
Ein weiterer Vorteil dieses Systems: Während in Deutschland Apotheker insbesondere bei Hochpreisern kurz vor dem Monatswechsel in Vorleistung gehen müssen und sich teils über ein Jahr nach der Abgabe noch mit Retaxationsforderungen der Krankenkassen auseinandersetzen müssen, reduziert die digitale Abwicklung in Frankreich die Bürokratie erheblich. Der Patient spürt dies ebenfalls: Dank des Systems des „tiers payant“ muss er die meisten Kosten gar nicht vorstrecken. Als „tiers payant“ (übersetzt: zahlender Dritter) bezeichnet man das Abrechnungssystem in Frankreich. Patienten können dort medizinische Leistungen und Medikamente erhalten, ohne wie bei der deutschen PKV die Kosten vorstrecken zu müssen. Stattdessen rechnet die Apotheke immer direkt mit der staatlichen Krankenversicherung und gegebenenfalls einer Zusatzversicherung („mutuelle“) ab, sodass Patienten nur einen eventuellen Eigenanteil zahlen müssen.
Interessant ist auch die strikte Regelung, welche Medikamente erstattungsfähig sind. Diese Entscheidung hängt vom „service médical rendu“ (SMR), also dem nachgewiesenen medizinischen Nutzen, ab, der von der „sécurité sociale“ festgelegt wird. Während homöopathische Mittel seit 2021 aus der Erstattung ausgeschlossen sind, profitieren Arzneimittel mit einem hohen SMR von einer nahezu vollständigen Kostenübernahme. Einige „mutuelles“ bieten jedoch auch eine Erstattung für Medikamente mit unzureichendem medizinischem Nutzen („SMR insuffisant“) an, was die Kosten für bestimmte Gruppen von Patient verringern kann.
Prävention als wirtschaftlicher Anreiz
Das französische Vergütungssystem setzt auf Vielfalt. Die einzelnen Komponenten der Vergütung von Apotheken in Frankreich sind:
- Abgabehonorare: Diese Honorare werden für jedes eingelöste Rezept gezahlt und variieren je nach Art des Medikaments und Patientenprofil. Beispielsweise gibt es ein spezifisches Honorar für Rezepte mit sogenannten „spezifischen“ Medikamenten oder für Patienten unter drei Jahren und über 70 Jahren.
- Packungshonorare: Für jede abgegebene Arzneimittelpackung wird ein Honorar gezahlt, das die Dispensierung als solche zusätzlich honorieren soll.
- Pauschale Vergütungen: Pauschalen werden für spezifische Dienstleistungen gezahlt, wie z. B. den Austausch von Medikamenten durch Biosimilars oder die Ausgabe von Darmkrebs-Screening-Tests. Zum Beispiel wird die Ausgabe eines solchen Screening-Kits mit 5 Euro auf dem französischen Festland und mit 5,25 Euro in den Überseegebieten vergütet.
- Notdienstvergütungen: Apotheker, die Nachtdienste, Sonn- oder Feiertagsdienste übernehmen, erhalten eine zusätzliche Vergütung, ähnlich dem Nacht- und Notdienstfonds in Deutschland.
- Präventions- und Diagnosemaßnahmen: Die Durchführung von Schnelltests, wie z. B. einem Angina-Test, wird mit 10 Euro vergütet.
Gibt es in der Vergütung noch Ähnlichkeiten zu Deutschland, so ist ein zentraler Unterschied der präventive Fokus französischer Apotheken. Seit Jahren sind sie integraler Bestandteil der Impfstrategie des Landes. Was 2019 mit Grippeimpfungen begann, hat sich inzwischen auf zahlreiche weitere Impfstoffe ausgeweitet, darunter COVID-19, Tetanus und Pneumokokken. Sogar Impfpassberatung und -dokumentation gehören zu den Aufgaben der Apotheker. Seit August 2023 dürfen französische Approbierte nach einer entsprechenden Ausbildung sämtliche im Impfpass vorgesehenen Impfungen nicht nur verabreichen, sondern auch verschreiben. Lediglich Lebendimpfstoffe bei immunsupprimierten Personen sind davon bislang ausgenommen.
Dieser präventive Charakter der französischen Apotheken zeigt, wie gezielte Vergütungsanreize das Gesundheitssystem entlasten können. Noch werden Apotheken in Deutschland häufig als reine Abgabestellen dargestellt. Frankreich hat das Spektrum der Apotheken aktiv um medizinische Dienstleistungen erweitert – ein Modell, das auch in Deutschland langfristig wirtschaftlich attraktiv ist, um den steigenden GKV-Ausgaben entgegenzuwirken und gleichzeitig die wohnortnahe Versorgung durch Apotheken aufzuwerten.
Der Supermarkt als Mitbewerber
Einer der spannendsten Unterschiede zwischen beiden Ländern betrifft die sogenannte „Parapharmacie.“ Dieser Begriff umfasst alle Produkte, die nicht apotheken- oder rezeptpflichtig sind, von Kosmetika bis zu Nahrungsergänzungsmitteln. Anders als in Deutschland können solche Artikel in Frankreich auch in großen Supermarktketten wie Carrefour, Cora oder E. Leclerc verkauft werden. Während E. Leclerc eigene Parapharmacies in seinen „hypermarchés“ betreibt, haben von approbierten Apotheker betriebene Parapharmacies einen entscheidenden Vorteil: Dort bekommen Patient eine individuell auf ihre Bedürfnisse abgestimmte Beratung.
Ein zusätzlicher Unterschied ist die französische Mehrwertsteuer TVA („taxe sur la valeur ajoutée“). In Frankreich liegt diese für erstattungsfähige verschreibungspflichtige Medikamente bei lediglich 2,1 Prozent. Mit 5,5 Prozent besteuert werden Säuglingsmilch, Babynahrung und Hilfsmittel. Nicht erstattungsfähige Arzneimittel liegen bereits bei 10 Prozent, während Produkte aus der Parapharmacie mit 20 Prozent besteuert werden. Diese steuerliche Differenzierung begünstigt den Verkauf erstattungsfähiger Arzneimittel und lenkt die Patienten gezielt in die Apotheken.
Vertrautes, fremdes Berufsbild
Die apothekerliche Berufsausübung in Frankreich ist strikt reguliert. Apotheker dürfen nur dann eine Apotheke eröffnen oder führen, wenn sie approbiert und in der Apothekerkammer, dem „ordre des pharmaciens“, registriert sind. Zudem ist die Anzahl der angestellten Approbierten in einer Apotheke gesetzlich geregelt und vom Umsatz der Apotheke abhängig. Liegt der Nettoumsatz zwischen 1,3 Millionen und 2,6 Millionen Euro, ist beispielsweise für Inhaber ein zusätzlicher angestellter Apotheker vorgeschrieben. Darüber hinaus ist für jede weitere Umsatztranche von 1,3 Millionen Euro ein zusätzlicher „pharmacien adjoint“, ein dem deutschen Filialleiter entsprechender Approbierter notwendig.
In den Apothekenteams arbeiten neben approbierten Apothekern auch „préparateurs en pharmacie“, die vergleichbar sind mit den deutschen PTA, Studierende sowie Spezialisten wie Kosmetikberater oder Ernährungsexperten. Durch diese klare Rollenverteilung können französische Apotheken effizient organisiert werden und sich als vielseitige Gesundheitsdienstleister positionieren.
Interessant ist auch die Regelung, dass Apotheken von einem oder mehreren Inhabern als „société en nom collectif“ (kurz: SNC, entspricht der deutschen OHG) oder sogar als Gesellschaft mit beschränkter Haftung geführt werden dürfen, solange diese Gesellschaft nicht mehr als eine Apotheke betreibt. Filialverbünde wie in Deutschland gibt es in Frankreich nicht. Zwar bewahrt das die Unabhängigkeit der Apotheken, erschwert jedoch Skaleneffekte, die im Wettbewerb mit großen Marktteilnehmern hilfreich wären.
Eine Apotheke, die einen Jahresumsatz von 1,5 Millionen Euro Umsatz macht, könnte somit auch von zwei Inhabern geführt werden, ohne dass ein weiterer Apotheker angestellt werden müsste. Dann würden vermutlich beide Inhaber einen Großteil ihrer Zeit in der Offizin verbringen und mehr in der Apotheke statt an der Apotheke arbeiten.
Niederlassungsfreiheit mit Grenzen
Während in Deutschland Apotheken prinzipiell überall eröffnen dürfen, ist die Niederlassung in Frankreich ebenfalls reguliert. Die Anzahl der Apotheken wird nach Einwohnerzahlen und Mindestabständen der Apotheken untereinander kalkuliert. So soll eine gleichmäßige Versorgung gewährleistet werden. Folglich müssen viele Apotheker oft jahrelang auf eine freie Stelle warten. Überversorgungen wie in manchen deutschen Städten sind in Frankreich hingegen selten.
Ein weiteres spannendes Detail findet sich im „code de la santé publique“, dem französischen Gesundheitsgesetzbuch, das auch Regelungen enthält, die in Deutschland in der Apothekenbetriebsordnung stehen. Vorgeschriebene Mindestflächen für Apotheken sucht man dort vergeblich. So finden sich beispielsweise in Paris Apotheken mit nur 50 m² Fläche, deren begrenzter Raum oft durch Kommissionierautomaten im Keller kompensiert wird. Flexibilität bei den räumlichen Anforderungen kann die Investitionskosten senken, ohne die Versorgungsqualität zu beeinträchtigen.
Fazit: der Blick nach vorn
Trotz aller Unterschiede teilen beide Länder ähnliche Herausforderungen. Der Fachkräftemangel betrifft Frankreich genauso wie Deutschland, und die Digitalisierung des Apothekenwesens ist in beiden Ländern ein zentrales Thema.
Die französische Praxis, Apotheken stark in die Prävention einzubinden, könnte auch rechts des Rheins als Vorbild dienen, wie Apotheken ihre Relevanz auch in Zukunft festigen können. Gleichzeitig zeigt Frankreich, dass ein strenger Regulierungsrahmen und klare Vorgaben Innovationen nicht zwangsweise verhindern müssen – au contraire!