Schwangerschaft und Multiple Sklerose

Welche MS-Arzneimittel sind sicher in der Schwangerschaft?

Frauen mit Multipler Sklerose erkranken meist im gebärfähigen Alter. Welche MS-Arzneimittel gelten als sicher in der Schwangerschaft – auch bei hochaktiven MS-Verläufen?

Welche MS-Arzneimittel sind sicher in der Schwangerschaft?

Multiple Sklerose (MS), zumindest die schubförmige MS, trifft Frauen etwa zwei- bis dreimal häufiger als Männer und beginnt in der Regel im Alter zwischen 20 und 40 Jahren – MS beeinflusst damit die Familienplanung erheblich. Zwar wirkt sich MS  „per se nicht negativ auf eine Schwangerschaft aus hinsichtlich Spontanaborten, Schwangerschaftsverlauf, Geburt und frühkindliche Entwicklung“, erklären die Autoren der 2023 aktualisierten S2k-Leitlinie zur Diagnose und Therapie der MS. Doch viele Patientinnen wenden krankheitsmodifizierende Therapien an: Wie beeinflussen MS-Arzneimittel eine Schwangerschaft und das Baby? Interferone (IFN) und Glatirameracetat (z. B. Copaxone®, Clift®) gelten als sicher während der Schwangerschaft – beide Arzneistoffe zeigen im Menschen weder ein teratogenes noch abortives Potenzial und „Beta-Interferone und Glatirameroide können nach Risiko-Nutzen-Abwägung bei Frauen mit hoher Krankheitsaktivität während der Schwangerschaft fortgeführt werden“, steht in der Leitlinie –, während Cladribin (Mavenclad®), Sphingosin-1-Phosphat(S1P)-Rezeptormodulatoren wie Fingolimod (Gilenya® und Generika), Siponimod (Mayzent®), Ozanimod (Zeposia®) und Ponesimod (Ponvory®) sowie Teriflunomid (Aubagio®) kontraindiziert sind.

Schwangere MS-Patientinnen mit und ohne Arzneimittel

Seit November 2006 sammelt und vergleicht das DMSKW – das deutschsprachige Multiple Sklerose Kinderwunschregister des Universitätsklinikums der Ruhr-Universität Bochum – Daten von schwangeren MS-Patientinnen mit und ohne DMT (Disease modifying Therapy, krankheitsmodifizierender Therapie). Bis Juni 2023 analysierten sie 3722 Schwangerschaften, 2885 mit krankheitsmodifizierender Therapie und 837 ohne DMT. Die meisten Frauen mit DMT (bei 2260 von 2885 Schwangerschaften: 78,3 %) beendeten ihre krankheitsmodifizierender Therapie im Median 7,4 Wochen vor der Schwangerschaft oder nach 4,4 Schwangerschaftswochen. Bei 11,3% der Schwangerschaften (327 von 2885) behielten die Frauen die krankheitsmodifizierende Therapie während der Schwangerschaft bei, sie waren am häufigsten auf Interferon-β (n=81), Glatirameracetat (n=88) und Natalizumab in Tysabri® (n=152) eingestellt, sechs Patientinnen wendeten Dimethylfumarat (z. B. Tecfidera®) an. Manche MS-Patientinnen starteten auch eine neue Behandlung während der Schwangerschaft. Die Wissenschaftler veröffentlichten ihre Analyse im Fachjournal „The Lancet Regional Health Europe“. 

Die meisten Schwangerschaften enden gut

Grundsätzlich gab es laut den Studienautoren nur „selten“ negative Schwangerschaftsausgänge: Insgesamt kamen bei 3722 Schwangerschaften vier Babys tot zur Welt (je ein Baby bei unexponierter Schwangerschaft, IFN-β, Fumarat, S1P-Rezeptormodulator), es gab fünf extrauterine Schwangerschaften (je ein Baby bei unexponierter Schwangerschaft, Fumarat, S1P-Rezeptormodulator, Natalizumab, CD20-AK), und in 21 Fällen entschieden sich die Schwangeren für einen elektiven Schwangerschaftsabbruch. Erfolgte der Abbruch auf eigenen Wunsch, gab es lediglich signifikante Unterschiede zwischen den Studiengruppen, wenn die Frauen in der Schwangerschaft kontraindizierte MS-Arzneimittel angewandt hatten, jedoch nicht, wenn es um Abbrüche aufgrund von Fehlbildungen oder wegen eines Risikos für die Mutter ging.

Bei 8,2% der Schwangerschaften, die vor der 22. Schwangerschaftswoche mit der Studie begonnen hatten, kam es zu Spontanaborten (245 von 2.977): z. B. 6,4% bei nicht exponierten Schwangeren, 7,9% unter IFN-β, 7,0% unter Glatirameracetat, 3,4% unter Teriflunomid, 8,3 und 11,3% unter Dimethylfumarat und S1P-Rezeptormodulatoren, 10,0 und 11,0 und 9,2% unter den Antikörpern Alemtuzumab, Natalizumab und gegen CD20-B-Zellen. Die Unterschiede waren zwischen den DMT-exponierten und nicht exponierten Schwangeren jedoch nicht signifikant. Waren die Frauen bereits vor der sechsten Schwangerschaftswoche in der Studie (n=381), lag die Fehlgeburtenrate mit 20,2% (77 von 381) zwar deutlich höher, doch auch hier gab es keine signifikanten Unterschiede zwischen den beiden Studiengruppen, prozentual am häufigsten kam es sogar unter nicht exponierten Schwangeren zu einem Abort (27,8%). Zur Erinnerung: Das Risiko einer Fehlgeburt ist in den ersten Wochen einer Schwangerschaft am höchsten.

Neugeborene leichter bei Geburt

Die Wissenschaftler interessierten sich auch für das Geburtsgewicht und die Größe des Babys während der Schwangerschaft – ein geringes Geburtsgewicht sowie ein für das Gestationsalter zu kleines Baby zählen zu den Risikofaktoren für fetale und neonatale Todesfälle und auch für spätere Erkrankungen wie Diabetes mellitus und kardiovaskuläre Erkrankungen. Verglichen mit der Gesamtkohorte der deutschen Bevölkerung waren die Neugeborenen der MS-Patientinnen leichter bei der Geburt, Mädchen um 92 g und Jungen um 115 g (40. Schwangerschaftswoche). Das deckt sich mit früheren Untersuchungen, die ebenfalls ein geringeres Geburtsgewicht der Neugeborenen von Frauen mit MS verglichen mit Neugeborenen von gesunden Frauen gefunden hatten. Analysiert man die Therapien, hatte eine S1P-Rezeptormodulator-Exposition den ausgeprägtesten Effekt auf ein reduziertes Geburtsgewicht (-132 g; KI = -205 g bis -60 g), wendeten die Patientinnen im letzten Trimenon Natalizumab an, so waren die Neugeborenen ebenfalls leichter bei Geburt (-74 g; KI = -138 g bis -9,4 g) – vor allem im letzten Drittel der Schwangerschaft legen Babys normalerweise nochmals gut an Gewicht zu (150 bis 200 g/ Woche).

Klein für Gestationsalter

Bei Frauen mit MS und ohne krankheitsmodifizierende Therapie während der Schwangerschaft waren 17,6% der Neugeborenen klein für das Gestationsalter, unter hochwirksamen DMT waren es 22% – verglichen mit 10% in Deutschland. „Unsere Daten stützen die anhaltende Diskussion über fetale Wachstumsverzögerungen, die auf MS selbst zurückzuführen sein könnten, wie zuvor sowohl bei exponierten als auch nicht exponierten MS-Patientinnen berichtet wurde“, schreiben die Studienautoren. Bestimmte Mechanismen könnten eine rein MS-bedingte fetale Wachstumsverzögerung erklären. So könnte eine neuronale Dysfunktion der Beckenorgane zu suboptimalen intrauterinen Bedingungen führen, Harnwegs- und andere Infektionen oder ein Vitamin-D-Mangel der Mutter oder andere Begleiterkrankungen. Darüber hinaus konnten die Studienautoren den größten Effekt auf ein verhältnismäßig zu kleines Gestationsalter vor allem unter S1P-Rezeptormodulator- und CD20-Antikörper-Exposition beobachten (27,4 und 24,1%) – das Risiko war statistisch signifikant unter S1P-Rezeptormodulatoren um 65% höher (OR = 1,65, KI = 1,07-2,50), unter CD20-Antikörpern 54% höher (OR = 1,54, KI = 1,01-2,32), jeweils verglichen mit nicht exponierten Frauen, wobei unter B-Zell-depletierenden Antikörpern den Wissenschaftlern zufolge das durchschnittliche Geburtsgewicht noch mit dem der deutschen Bevölkerung übereinstimmte.

Gab es häufiger schwere Fehlbildungen?

Die Studienautoren geben die Häufigkeit von schweren angeborenen Fehlbildungen (MCA, major congenital Anomalies) mit 3,8% an, was „leicht“ über dem Hintergrundrisiko für die allgemeine deutsche Bevölkerung liege (2,8%). Allerdings sei der Vergleich, wie häufig es zu schweren angeborenen Fehlbildungen komme, schwierig, erklären die Wissenschaftler, da unterschiedliche Methoden angewendet würden. Nach krankheitsmodifizierender Therapie aufgeschlüsselt war die Prävalenz für schwere angeborene Fehlbildungen unter Teriflunomid (12%; n=3 von 25) und Alemtuzumab (10,5%; n=2 von 19) am höchsten. Allerdings sei bislang keine Teratogenität der beiden Arzneimittel bekannt, und es waren nur wenige Frauen den beiden Arzneimitteln während der Schwangerschaft ausgesetzt – zu wenige, um eine Teratogenität abschließend zu beurteilen. Die Europäische Arzneimittelagentur EMA fordert Daten von mindestens 1000 im ersten Trimester exponierten Schwangerschaften, um die reproduktive Sicherheit eines Arzneimittels zu bewerten. Diese Daten existieren lediglich für die seit längerer Zeit zugelassenen und angewandten Wirkstoffe Interferon-beta und Glatirameracetet. Eine Teratogenität von Alemtuzumab kurz vor oder am Anfang der Schwangerschaft halten die Studienautoren für unplausibel, da der Antikörper die Plazenta aktiv erst ab dem zweiten Trimester überschreitet, wenn die sensible Phase der Organogenese abgeschlossen ist.

Die Wissenschaftler beobachten zudem ein Risiko für schwere angeborene Fehlbildungen unter S1P-Rezeptormodulatoren von 5,3% (nicht signifikant) – was sie überraschte, da die Wirkstoffe mit einem „zweifach erhöhten teratogenen Risiko in Verbindung gebracht“ würden. In ihrem Kollektiv hätten die Kinder vor allem angeborene Herzfehler und Nierenfehlbildungen gezeigt: „Unsere Daten können nicht bestätigen, ob S1P-Rezeptormodulatoren teratogen sind“, sagen die Studienautoren. Dennoch sei es biologisch plausibel, da die kleinen Moleküle die Plazentaschranke überwänden und die S1P-Rezeptorsignalgebung blockierten – ein kritischer Prozess für die Gefäßbildung während der Embryogenese.

Häufiger Frühgeburten unter Teriflunomid

14 der 3498 lebend geborenen Babys starben als Neugeborene, die meisten aufgrund von Frühgeburtlichkeit, eines wegen multipler schwerer Fehlbildungen (nicht exponierte Gruppe) und ein Baby ohne ersichtlichen Grund. Am häufigsten kam es unter Teriflunomid statistisch signifikant zu einer Frühgeburt (21%; 7 von 32 verglichen mit nicht exponierten Patientinnen 9%).

Am meisten schwere Infektionen mit Alemtuzumab

Insgesamt gab es nur „selten“ schwere Infektionen während der Schwangerschaft, ausgewertet wurden lediglich Schwangerschaften, die länger als 22 Wochen bestanden (1,6%; 54 von 3452). Dennoch fiel auf: Signifikant häufiger als unexponierte Frauen litten Schwangere an schweren Infektionen, wenn sie Dimethylfumarat (11 von 395: 2,8% vs. 8/837: 1,0%) oder Alemtuzumab (2 von 22: 9,1% vs. 8/837: 1,0%) erhielten. Allerdings bleibe dieser Anstieg der Infektionen „schwierig abschließend zu klären“, sagen die Studienautoren, da schwere Infektionen in der Kohorte grundsätzlich nur selten auftraten. Dennoch halten sie diese aufgrund der Wirkung der beiden Arzneimittel (B- und T-Zell-Depletion sowie Lymphopenie) für plausibel.

Die Wissenschaftler beobachteten zudem einen höheren Einsatz von Antibiotika bei Schwangeren, die Natalizumab (zweites und drittes Trimester) und CD20-Antikörper erhielten, auch das könnte darauf hindeuten, dass diese Therapien das Immunsystem häufiger behandlungsbedürftig schwächen. Jüngst berichteten Wissenschaftler in einer schwedischen Kohortenstudie ebenfalls über ein erhöhtes Infektionsrisiko unter dem CD-20-Antikörper Rituximab und unter Natalizumab im Vergleich zu nicht exponierten Schwangerschaften. Das Auswerten von Infektionen ist deshalb wichtig, da sie spontane Aborte, Totgeburten, Frühgeburten und ein geringes Geburtsgewicht bedingen können.

IFN-β und Glatirameracetat sicher, Natalizumab und CD20-Antikörper bei hochaktiver MS

Abschließend halten die Studienautoren IFN-β und Glatirameracetat für „sichere Behandlungsoptionen in der frühen Schwangerschaft“, ebenso und trotz der erhöhten Infektionsanfällikeit Dimethylfumarat. Hingegen raten sie von S1P-Rezeptormodulatoren ab, da sie das Risiko des Babys erhöhten, zu klein für das Gestationsalter zu sein, auch hätte die Wirkstoffgruppe ein „potenziell erhöhtes Risiko für schwere angeborene Fehlbildungen“. 

Für Frauen mit hochaktiven MS-Verläufen halten sie Natalizumab und CD20-Antikörper für eine „vielversprechende Therapieoption“. Denn auch wenn das Schubrisiko während der Schwangerschaft in der Regel sinkt, benötigen Frauen mit hoher Krankheitsaktivität eine wirksame MS-Therapie, und bei hoher Krankheitsaktivität kommen auch Natalizumab und CD-20-Antikörper der Wirksamkeitskategorie 3 (Reduktion der Schubrate um > 60% im Vergleich zu Placebo oder > 40% im Vergleich zu Substanzen der Kategorie 1) zur Anwendung.

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