Nirsevimab
ATC-Code: J06BD08
Name: Nirsevimab (Beyfortus®)
Indikation: Prävention von respiratorischen Synzytial-Virus(RSV)-Erkrankungen der unteren Atemwege bei Neugeborenen, Säuglingen und Kleinkindern während ihrer ersten RSV-Saison
Wirkmechanismus: gegen das virale Fusionsprotein gerichteter Antikörper
Therapeutische Relevanz
Infektionen durch das respiratorische Synzytial-Virus (RSV) betreffen in erster Linie die Atemwege. Während ältere Kinder und Erwachsene meist nur leichte Erkältungssymptome entwickeln, muss insbesondere bei Kindern unter zwei Jahren und bei älteren Menschen vermehrt mit schweren Verläufen und teilweise lebensbedrohlichen Komplikationen gerechnet werden. Im Jahr 2021 waren 72% der Krankenhauseinweisungen von Säuglingen und Neugeborenen auf eine RSV-Infektion zurückzuführen. Zum Schutz besonders gefährdeter Kinder wie Frühgeborenen, die zu Beginn der Erkrankungssaison jünger als sechs Monate alt sind, sowie von Säuglingen oder Kleinkindern, die kürzlich wegen bronchopulmonaler Dysplasie behandelt wurden oder hämodynamisch signifikante Herzfehler aufweisen, kommt seit einigen Jahren der gegen das Fusionsprotein des RSV-Virus gerichtete monoklonale Antikörper Palivizumab zum Einsatz. Er unterbindet das Andocken des Virus an die Wirtszelle und verhindert somit die Virusvermehrung. Der aktuell auf dem Markt neu eingeführte Wirkstoff Nirsevimab mit sehr ähnlichem Wirkmechanismus stellt nach derzeitigem Kenntnisstand einen klinisch relevanten therapeutischen Fortschritt dar. Dementsprechend wird die Entscheidung der Ständigen Impfkommission (STIKO) ungeduldig erwartet, ob Nirsevimab tatsächlich für den großflächigen Einsatz bei allen Kleinkindern empfohlen wird. Bis zum Vorliegen des Beschlusses wird das Antikörper-Präparat nicht von den gesetzlichen Krankenkassen bezahlt. In zwei Zulassungsstudien erwies sich Nirsevimab bei einer Wirksamkeit von 70 bis 80% gegenüber Placebo als signifikant überlegen. Aber auch im Vergleich zum Standardtherapeutikum Palivizumab, das im Gegensatz zu Nirsevimab nur für vorerkrankte Kinder zugelassen ist (s.o.), zeigte sich ein Vorteil für den neuen Antikörper. Ein weiterer Pluspunkt für das besonders langwirksame Nirsevimab liegt in der Tatsache begründet, dass es anders als Palivizumab nur einmalig verabreicht wird, während Palivizumab während der RSV-Saison einmal im Monat injiziert werden muss, was eine erhöhte Belastung für die Kinder bedeutet. Zukünftig sollte geprüft werden, ob eine wiederholte Anwendung von Nirsevimab, beispielsweise bei gefährdeten Kindern im zweiten Lebensjahr, von Nutzen sein könnte. Allerdings hat der Passivimpfstoff mittlerweile einen starken Konkurrenten erhalten. Im August 2023 wurde der aktive RSV-Impfstoff Abrysvo® in der EU zugelassen. Er wird bei Personen ab 60 Jahre, aber auch bei Schwangeren zwischen der 24. und 36. Woche verabreicht, um Neugeborenen und Säuglingen bis zu einem Alter von sechs Monaten einen Nestschutz vor einer RSV-Infektion zu bieten. Der RSV-Impfstoff Abrysvo® steht seit 1. Oktober 2023 auch in Deutschland zur Verfügung.
Steckbrief
Stoffklasse: | Immunsera und Immunglobuline, antivirale monoklonale Antikörper |
Zulassungsinhaber: | AstraZeneca AB, Gärtunavägen, SE-151 85 Södertälje, Schweden |
Hersteller/Endfreigabe: | AstraZeneca AB, Gärtunavägen, SE-151 85 Södertälje, Schweden |
Kontaktadresse in Deutschland: | Sanofi-Aventis Deutschland GmbH, Postfach 80 08 60, D-65908 Frankfurt am Main |
Darreichungsformen: | Injektionslösung in einer Fertigspritze |
Packungsgrößen, Preis und PZN: | eine Fertigspritze à 50 mg Nirsevimab in 0,5 ml, 1350,03 Euro, PZN 18425763; eine Fertigspritze à 100 mg Nirsevimab in 0,5 ml, 1350,03 Euro, PZN 18425786 |
Zusammensetzung: | 50 mg bzw. 100 mg Nirsevimab |
Sonstige Bestandteile: | Histidin, Histidinhydrochlorid, Argininhydrochlorid, Saccharose, Polysorbat 80, Wasser für Injektionszwecke |
Zulassungsnummer: | EU/1/22/1689/001, EU/1/22/1689/002, EU/1/22/1689/003, EU/1/22/1689/004, EU/1/22/1689/005, EU/1/22/1689/006 |
Datum der Markteinführung: | 1. September 2023 |
Besondere Lager- und Aufbewahrungshinweise: | im Umkarton im Kühlschrank lagern (2 bis 8 °C), nicht einfrieren, nicht schütteln, nicht direkter Hitze aussetzen |
Dauer der Haltbarkeit: | zwei Jahre Die Zubereitung darf für maximal acht Stunden bei Raumtemperatur (20 bis 25 °C) und vor Licht geschützt aufbewahrt werden. Nach dieser Zeit muss die Spritze entsorgt werden. |
Verschreibungsstatus: | verschreibungspflichtig |
Indikationen
Prävention von respiratorischen Synzytial-Virus(RSV)-Erkrankungen der unteren Atemwege bei Neugeborenen, Säuglingen und Kleinkindern während ihrer ersten RSV-Saison
Wirkungen und Wirkungsmechanismus
Die Infektion von Körperzellen mit dem respiratorischen Synzytial-Virus (RSV) erfolgt durch Andocken des Virus mithilfe eines membranständigen Fusionsproteins. Der mittels rekombinanter DNA-Technologie in Ovarialzellen des chinesischen Hamsters hergestellte, monoklonale Immunglobulin-G1-kappa(IgG1κ)-Antikörper Nirsevimab ist gegen ein hochkonserviertes Epitop des RSV-spezifischen Fusionsproteins in Präfusionskonformation gerichtet. Als Folge hemmt Nirsevimab den entscheidenden Membranfusionsschritt im Prozess des Viruseintritts und blockiert somit die Zellfusion. Zur Verlängerung der Eliminationshalbwertszeit und damit der schützenden Wirkung enthält die Fc-Region von Nirsevimab eine zusätzliche dreifache Aminosäuresubstitution. Die Dauer des Infektionsschutzes liegt bei mindestens fünf Monaten.
Dosierung, Art und Dauer der Anwendung
Die Anwendung des passiven Impfstoffs sollte vor Beginn der RSV-Saison erfolgen; bei Kindern, die während dieses Zeitraums geboren werden, kann auch unmittelbar ab der Geburt geimpft werden. Säuglinge bzw. Kleinkinder unter fünf Kilogramm Körpergewicht erhalten normalerweise eine intramuskuläre Einmaldosis von 50 mg Nirsevimab in den seitlich-vorderen (anterolateralen) Oberschenkel. Die Richtdosis für Säuglinge oder Kleinkinder mit mindesten fünf Kilogramm Körpergewicht beträgt einmalig 100 mg Nirsevimab. Kinder, bei denen eine Herzoperation mit einem kardiopulmonalen Bypass durchgeführt werden muss, können nach postoperativer Stabilisierung eine zusätzliche Nirsevimab-Dosis erhalten. Diesen Kindern sollten innerhalb von 90 Tagen nach der ersten Gabe gewichtsbezogen 50 oder 100 mg gegeben werden, nach mehr als 90 Tagen ist die Gabe von 50 mg Nirsevimab unabhängig vom Körpergewicht möglich, um die noch verbleibende RSV-Saison abzudecken. Erkenntnisse zur Wirksamkeit und Sicherheit einer wiederholten Impfung, beispielsweise bei Kleinkindern ohne Herzoperation oder in der nächsten Erkrankungssaison, sind derzeit nicht erwiesen.
Erwachsene: | nicht indiziert |
Kinder und Jugendliche: | gewichtsbezogen einmalig 50 mg oder 100 mg Nirsevimab für Neugeborene, Säuglinge und Kleinkinder
Zur Anwendung bei Kindern mit einem Körpergewicht unter 1,6 kg liegen keine Erfahrungen vor. Bei Säuglingen mit weniger als einem Kilogramm Körpergewicht ist Vorsicht geboten, da mit einer erhöhten Nirsevimab-Exposition gerechnet werden muss. Die Datenlage für vor der 29. Schwangerschaftswoche geborene Frühchen im Alter von weniger als acht Wochen ist begrenzt. Für die Applikation von Nirsevimab bei Säuglingen mit einem postmenstruellen Alter (Gestationsalter bei Geburt plus chronologisches Alter) von weniger als 32 Wochen sind derzeit keine Daten verfügbar. Sicherheit und Wirksamkeit von Nirsevimab bei älteren Kindern von zwei bis 18 Jahren sind nicht belegt. |
Ältere Patienten: | nicht indiziert |
Patienten mit Leber- oder Niereninsuffizienz: | keine Einschränkungen bekannt |
DDD: | noch nicht bekannt |
Gegenanzeigen, Kontraindikationen
Bei Überempfindlichkeit gegen Nirsevimab besteht eine Kontraindikation.
Nebenwirkungen
Nach der Applikation von Nirsevimab kommt es gelegentlich zu Hautausschlägen, Pyrexie und zu Reaktionen an der Injektionsstelle.
Wechselwirkungen
Aufgrund der Struktur und der Eliminationswege des Antikörpers Nirsevimab sind weder pharmakokinetische noch relevante pharmakodynamische Interaktionen mit anderen Arzneistoffen zu erwarten. Aus diesem Grund wurde bislang auf die Durchführung von klinischen Studien zur Erfassung von Wechselwirkungen verzichtet. Indirekte Effekte auf Cytochrom-P450-Enzyme sind zudem unwahrscheinlich, da sich das ohnehin nur einmalig zu verabreichende Nirsevimab gegen ein exogenes Virus richtet. Da das Immunglobulin Nirsevimab zu einer passiven Immunisierung gegen das RSV führt, ist nicht zu erwarten, dass es die aktive Immunantwort auf gleichzeitig angewendete Impfstoffe beeinflusst. In klinischen Studien war das Sicherheits- und Reaktogenitätsprofil des Antikörpers bei kombinierter Anwendung zusammen mit üblichen Kinderimpfstoffen ähnlich dem bei alleiniger Applikation dieser Aktivimpfstoffe. Bei zeitgleicher Gabe mit Nirsevimab empfiehlt sich die Injektion in getrennten Spritzen und an unterschiedlichen Injektionsstellen.
Warnhinweise und Vorsichtsmaßnahmen
Die Anwendung monoklonaler Antikörper ist mit schwerwiegenden Überempfindlichkeitsreaktionen bis zur Anaphylaxie assoziiert. Bei entsprechenden Symptomen muss die Applikation von Nirsevimab umgehend abgebrochen und eine unterstützende Therapie eingeleitet werden. Insbesondere bei Kindern mit Thrombozytopenie oder anderen Blutgerinnungsstörungen besteht durch die intramuskuläre Gabe des Präparats das Risiko von Blutungen am Applikationsort, sodass in diesen Fällen besondere Vorsicht geboten ist.
Schwangerschaft und Stillzeit
Schwangerschaft und Stillzeit: | Nirsevimab ist ausschließlich zur Behandlung von Neugeborenen, Säuglingen und Kleinkindern vorgesehen. Eine Anwendung bei Schwangeren oder Stillenden ist daher klinisch nicht relevant. |
Fertilität: | nicht relevant |
Pharmakokinetik
Resorption: | Nach intramuskulärer Anwendung werden innerhalb von etwa sechs Tagen maximale Plasmaspiegel erreicht. Die Bioverfügbarkeit wird auf 85% geschätzt. |
Proteinbindung, Verteilung: | Das Verteilungsvolumen wurde bei einem fünf Kilogramm schweren Säugling mit etwa 250 ml ermittelt. Der Wert nimmt mit steigendem Körpergewicht zu. Abgesehen von der Bindung an das virale Fusionsprotein findet keine relevante Proteinbindung statt. |
Metabolismus: | Der Antikörper unterliegt dem physiologischen Protein-Katabolismus zu kleineren Peptiden und einzelnen Aminosäuren, die in den Nährstoffpool übergehen. |
Exkretion: | Bei einem fünf Kilogramm schweren Säugling lag die terminale Halbwertszeit bei etwa 70 Stunden. Die Nirsevimab-Clearance nimmt allerdings mit steigendem Körpergewicht zu. |
Zulassungsrelevante Studien
Die Zulassung von Nirsevimab beruht auf drei randomisierten, doppelblinden aktiv- oder placebokontrollierten Studien an insgesamt 4000 Neugeborenen, Säuglingen oder Kleinkindern.
In die Phase-III-Untersuchung MELODY waren 1490 gesunde Kinder einbezogen, die termingerecht oder frühestens ab der 35. Schwangerschaftswoche geboren waren [2]. Im Zeitraum von 150 Tagen nach der Applikation von Nirsevimab entwickelten 1,2% der Teilnehmer (12 von 994) im Verlauf ihrer ersten Erkältungssaison eine RSV-assoziierte Infektionserkrankung der unteren Atemwege, die eine medizinische Behandlung erforderlich machte. Der Anteil in der Placebogruppe betrug 5% (25 von 496), entsprechend einer signifikanten Überlegenheit von Nirsevimab (p < 0,001). Die Wirksamkeit des Antikörpers wurde mit 74,5% ermittelt. In der Verum-Gruppe kam es zu sechs Hospitalisierungen aufgrund einer RSV-Infektion (0,6%) im Vergleich zu acht unter Placebo (1,6%) (p = 0,07). Die Inzidenz von schwerwiegenden Nebenwirkungen lag im Verum-Arm bei 6,8 und im Placebo-Arm bei 7,3%.
Die Resultate der zweiten placebokontrollierten Phase-IIb-Studie mit 1453 zwischen den Schwangerschaftswochen 29 plus 0 und 34 plus 6 Tagen zu früh geborenen Säuglingen bzw. Kleinkindern waren ähnlich [3]. Der Anteil an Frühchen mit RSV-assoziierter Infektionserkrankung der unteren Atemwege in ihrer ersten Erkrankungssaison betrug unter Nirsevimab-Prävention 2,6% (25 von 969) und nach Placebo-Gabe 9,5% (46 von 484). Somit war die Inzidenz mit 70,1% nach Anwendung des Immunglobulins ebenfalls signifikant reduziert (p < 0,001). Die entsprechenden Hospitalisierungsraten aufgrund einer RSV-Infektion konnten mit 0,8 vs. 4,1% ebenfalls hochsignifikant um 78,4% gesenkt werden (p < 0,001). Die Inzidenz von Nebenwirkungen war in beiden Behandlungsarmen ähnlich.
Im Rahmen der aktuell weiterlaufenden dritten Phase-II/III-Untersuchung MEDLEY wurde der Nutzen von Nirsevimab mit dem von Palivizumab verglichen [4]. Hierbei handelt es sich um einen bereits seit einigen Jahren verfügbaren Antikörper, der gegen das hoch konservierte A-Epitop des RSV-Fusionsproteins gerichtet ist und zur Prophylaxe von RSV-Infektionen bei besonders gefährdeten Säuglingen und Kleinkindern indiziert ist. Die 925 Studienteilnehmer waren vor der 35. Woche geborene, ansonsten aber gesunde Kinder oder ausgetragene Kinder, die eine Herz- oder Lungenerkrankung mit erhöhtem RSV-Risiko aufwiesen. Nach Applikation von Nirsevimab kam es bei vier von 616 Kindern (0,6%) zu einer behandlungspflichtigen, RSV-assoziierten Infektionserkrankung der unteren Atemwege im Vergleich zu drei von 309 Kindern (1,0%) unter Palivizumab. Die Inzidenz von Nebenwirkungen war in allen Behandlungsgruppen und Kohorten ähnlich.
Wirtschaftliche Aspekte
Eine Dosis von nur einmal zu verabreichendem Nirsevimab verursacht mit etwa 1350 Euro weniger Kosten als das monatlich zu injizierende Vergleichspräparat Palivizumab mit etwa 830 bzw. 1415 Euro pro Dosis, das in klinischen Studien schlechter abgeschnitten hat.
Literatur
[1] Fachinformation zu Beyfortus®, Stand Juni 2023
[2] Hammitt LL, Dagan R, Yuan Y, Baca Cots M et al. Nirsevimab for prevention of RSV in healthy late-preterm and term infants. N Engl J Med 2022;386(9):837-846
[3] Griffin MP, Yuan Y, Takas T, Domachowske JB et al. Single-dose nirsevimab for prevention of RSV in preterm infants. N Engl J Med 2020;383(5):415-425
[4] Domachowske J, Madhi SA, Simões EAF, Atanasova V et al. Safety of nirsevimab for RSV in infants with heart or lung disease or prematurity. N Engl J Med 2022;386(9):892-894
[5] EPAR summary for the public. Beyfortus® Nirsevimab. EMA/776857/2022; European Medicines Agency; www.ema.europe.eu