Eine ältere Patientin unter Polymedikation
1. Kapitel
In der Klinischen Pharmazie dreht sich alles um den Patienten, um Leitlinien und um das klinische Ergebnis. Bearbeiten Sie mit uns diesen Patientenfall und erwerben Sie so zusätzliches Wissen in der Klinischen Pharmazie.
Lernziele
In diesem Artikel lesen Sie:
- wie Sie die Daten einer Patientin mit Polypharmazie aufarbeiten können,
- wie Sie hierbei eine umfassende Medikationsanalyse (Stufe 3) durchführen,
- welche besonderen Aspekte bei einer Polypharmazie zu beachten sind,
- welche weiteren Sicherheitsbarrieren Sie einbauen können, um arzneimittelbezogenen Problemen vorzubeugen.
Die Patientin
Erika Rottmann* ist eine 73-jährige, multimorbide Patientin. Frau Rottmann und ihr Arzt äußern den Wunsch, die inzwischen sehr umfangreiche medikamentöse Therapie aufarbeiten zu lassen. Es besteht auch die Erwartungshaltung, dass einige Medikamente abgesetzt werden können. Als Hauptbeschwerden gibt Frau Rottmann starke Schmerzen in der Lendenwirbelsäule, in beiden Beinen, der rechten Hüfte sowie im rechten Knie an. Eine Belastungsdyspnoe, Mobilitätseinschränkung und Knöchelödeme werden als beeinträchtigend genannt.
*Name redaktionell geändert
Diagnosen, Medikation und Laborwerte
Die in der Patientenakte angegebenen Diagnosen
- koronare Herzkrankheit (KHK)
- Störungen des Lipidstoffwechsels
- Angina pectoris
- essenzielle Hypertonie
- spastische Bronchitis
- atopisches Ekzem
- sonstige Arthrose
- depressive Episode
- Lendenwirbelsäulen(LWS)-Syndrom
Vitalparameter
Alter: 72
Blutdruck: 120/70 mmHg
Herzfrequenz: 76 bpm
Körpergröße: 1,68 m
Gewicht: 81 kg, BMI: 28,7
Allergien auf Hausstaub und Pflaster
Die Medikation laut Patientin
Metoprololsuccinat 47,5 mg 1-0-1
Candesartan 4 mg 1-0-0
Furosemid 20 mg 1/2-1-0
Pantoprazol 40 mg 1-0-0
ASS 100 mg 0-1-0
Ibuprofen 600 mg 1-0-1
Simvastatin 20 mg 0-0-1
Johanniskraut-Trockenextrakt 900 mg 0-0-1
Dosieraerosol Salmeterol 25 µg
Fluticason 250 µg 1-0-1
Tiotropium
Inhalationskapseln 18 µg 1-0-0
Welche Abweichungen beim Brown Bag Review, dem Abgleich zwischen dem vom Arzt erstellten Medikationsplan und den Patientenangaben, auffallen, zeigt die Tabelle 2.
Arzneistoff
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Arzt
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Patientin
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Apotheke
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Anmerkungen
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---|---|---|---|---|
Simvastatin 20 mg
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nicht gelistet
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0-0-1
Herkunft: Arzt
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regelmäßige Abgabe N3
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pausiert oder abgesetzt?
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Johanniskraut-Trockenextrakt (3-6:1) 900 mg
Filmtabletten
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nicht gelistet
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0-0-1
Herkunft: OTC
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zwei Packungen á 60 Stück im 4. Quartal 2014
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Neuverordnung?
|
Ibuprofen 600 mg
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nicht gelistet
|
0-0-1
Herkunft: Facharzt
|
regelmäßige Abgabe N2
|
Neuverordnung?
|
Tiotropium 18 µg Inhalationskapseln
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1-0-1
|
1-0-0
|
regelmäßige Abgabe N3
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Dosierungsabweichung
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Furosemid 20 mg
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1-0-0
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½-1-0
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regelmäßige Abgabe N3
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Dosierungsabweichung, Erhöhung durch die Patientin aufgrund von Dyspnoe
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Polypharmazie
Grundsätze der Polymedikation auf einen Blick:
- Polypharmazie ist mit einem hohen Risiko für arzneimittelbezogene Probleme behaftet.
- Im Unterschied zur monokausalen Therapie ist besonders Augenmerk auf vermeidbare Nebenwirkungen und Verschreibungskaskaden zu legen.
- Sofern eine Indikation mit mehreren Wirkstoffen therapiert wird, sollte die Sinnhaftigkeit dieser Kombination hinterfragt werden.
- Es sollte bei jedem einzelnen Wirkstoff abschließend geprüft werden, welche Konsequenzen ein Absetzen haben würde, um das Therapieregime zu verschlanken.
Polypharmazie und Multimedikation sind keine definierten Begriffe. Auch die Anzahl der Arzneimittel, ab der von Polypharmazie gesprochen werden kann, unterscheidet sich stark [1, 2, 3]. So wird teilweise von Polypharmazie bei einer bestimmten Anzahl an Arzneimitteln gesprochen (oft vier bis sechs) teilweise aber auch bei zwei oder mehr Wirkstoffen pro Indikation oder generell, sobald Medikamente ohne Indikation im Medikationsplan vorkommen, wenn man also „an der Behandlung erkrankt“. Als Einschlusskriterium für Medikationsanalysen wird aber häufig die Anwendung von fünf oder mehr systemisch verfügbaren Medikamenten zum Dauergebrauch durch einen Patienten gewählt und mit Polypharmazie gleichgesetzt, eine Zahl, die sich zunehmend durchsetzt [4]. Mit der demografischen Entwicklung nimmt die Zahl der betroffenen Patienten entsprechend zu [5]. Eine hausärztliche Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) widmet sich ausführlich dem Thema Multimedikation und nimmt auch mehrfach Bezug auf den interprofessionellen Aspekt, speziell zur Zusammenarbeit mit der Apothekerschaft [6]. Die Auswirkungen einer Polypharmazie wurden vielfach untersucht. Es zeigte sich, dass die Anzahl an arzneimittelbezogenen Problemen mit der Zahl der angewendeten unterschiedlichen Arzneimittel steigt [7, 8]. Zudem wurde auch immer wieder versucht, Arzneistoffe zu identifizieren, die im Zusammenspiel mit anderen besonders häufig zu Problemen führen. Budnitz et al. sehen hier auf Grundlage von arzneimittelbedingten Hospitalisierungen besonders die Antikoagulanzien, Thrombozytenaggregationshemmer und Antidiabetika als risikobehaftet an [9]. In weiten Teilen der Bevölkerung, aber auch bei vielen Ärzten, scheint das generelle Vorurteil verankert zu sein, dass „alle alten Leute immer viel zu viele Medikamente einnehmen“. In einer Studie von Boyd et al. wird darauf hingewiesen, dass das Festhalten an Leitlinien bei mehreren Erkrankungen zu Konflikten und Problemen führen kann [10]. Ob sich deutsche Ärzte überhaupt im gleichen Maß wie in dieser Studie an Leitlinien halten und ob nicht bereits auch hierzulande ein Abwägen der Therapien auf Sinnhaftigkeit stattfindet, muss allerdings hinterfragt werden. Während andere Länder mittels Leitlinien Qualität und Kosten begrenzen wollen (z. B. NICE-Leitlinien in Großbritannien), steht in Deutschland die andernorts unbekannte Budgetierung im Vordergrund. Entsprechend finden Aussagen, die das radikale Absetzen von Arzneimitteln propagieren, in Deutschland häufig Anklang. In einer Studie konnten Garfinkel und Mangin zeigen, dass es 88% der Patienten in Altersheimen nach dem Zusammenstreichen der Medikationsliste „global besser geht“ [11]. Diese Studie wird entsprechend häufig zitiert. Es ist fraglich, ob nicht hier auch der Wunsch nach Einsparungen die Motivation zum Absetzen begünstigt. Die Erfahrung aus vielen eigenen Medikationsanalysen zeigt, dass sich die eingesetzten Medikamente heutzutage im Wesentlichen auf die notwendigen Indikationen Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Schmerz beschränken. Vorschläge zum Absetzen der oft noch verbleibenden Protonenpumpeninhibitoren (PPI) und Schlafmittel werden andererseits von den Verschreibern nur ungern umgesetzt, sie scheitern vermutlich oft am Patientenwillen. Eine Polypharmazie ist bei älteren Patienten aufgrund vieler Diagnosen auch oft unumgänglich. Payne et al. kommen in ihren Untersuchungen zu dem Ergebnis, dass bei gleicher Anzahl an Arzneimitteln das Risiko für arzneimittelbedingte Hospitalisierungen bei Patienten mit vielen Diagnosen geringer ist als bei Patienten mit wenigen Diagnosen, woraus gefolgert werden kann, dass dann die Sinnhaftigkeit der Therapie eher gegeben ist [12]. Verdächtig wären entsprechend viele Arzneimittel bei wenigen Diagnosen.
Geht man davon aus, dass die Lebenserwartung weiter zunimmt, scheint es plausibel und lohnenswert zu sein, bei Patienten mit Multimedikation eine Medikationsanalyse durchzuführen und arzneimittelbezogene Probleme mit der PRISCUS- oder Beers-Liste und einer Interaktionsdatenbank zu prüfen. Als Leitfaden bei der Kontrolle der Medikation können ergänzend spezielle Prüflisten wie der Medication Appropiateness Index (MAI) [13] (Abb. 1) oder der daraus abgeleitete und auf geriatrische Patienten übertragene Good-palliative-Geriatric-Practice(GPGP)-Algorithmus [11] (Abb. 2) eingesetzt werden. Es sollten Therapieziele, Surrogatziele wie Blutdruck, HbA1c-Wert und LDL-Cholesterol-Zielwerte formuliert, die Hauptbeschwerden des Patienten erfragt und behandelt werden. Besonderes Augenmerk ist dabei auf unerwünschte Wirkungen und mögliche Verschreibungskaskaden zu legen. Wurden bei einem Patienten, der viele Arzneimittel bekommt, nur wenige Diagnosen gestellt oder hat er eine verringerte Nierenfunktion, so ist ein Handlungsbedarf sehr wahrscheinlich.
Entscheidend für den Therapieerfolg ist es, die Ergebnisse dem Patienten und auch dem Arzt zu kommunizieren. Dies steht auch im Einklang mit der hausärztlichen Leitlinie. Ist der Patient über seine Medikation informiert und kennt er die entsprechenden Indikationen, so wird er z. B. Doppelverordnungen oder eine übermäßige Therapiedauer bemerken und kann so selbst zu seiner eigenen Therapiesicherheit wesentlich beitragen. Das früher praktizierte Verheimlichen des Beipackzettels um keine Nebenwirkungen zu induzieren, ist damit in der heutigen Pharmazie obsolet. Wichtig bleibt aber auch in der Polypharmazie das Aufspüren einer Unterversorgung, nach Hepler und Strand [14] auch „Indikation ohne Medikation“ genannt, sowie das Prüfen des Gegenteils, „Medikation ohne Indikation“.
2. Kapitel
Umfassende Medikationsanalyse
SOAP. Zunächst erstellt der Apotheker eine Kurzbeschreibung der Patientin und berücksichtigt ihre Hauptbeschwerden. Dann sichtet er die Daten der Patientin. Er prüft die relevanten Laborwerte und Vitalparameter. Anschließend formuliert er die Ziele anhand der Leitlinien und gibt eine konkrete und verbindliche Empfehlung. Dazu schlägt er Parameter vor, mit denen die medikamentöse Therapie überwacht und eingestellt werden kann.
1. Kurzbeschreibung des Patienten (S)
Erika Rottmann ist eine 72-jährige Patientin mit koronarer Herzerkrankung, Angina pectoris, Hypertonie, beginnender Herzinsuffizienz, spastischer Bronchitis, Dyslipidämie, Polyarthrose, Depression und LWS-Syndrom. Als Hauptbeschwerden gibt sie starke Schmerzen im Lendenwirbel-Bereich, in der rechten Hüfte sowie im linken Knie, Belastungsdyspnoe und Knöchelödeme an.
2. Objektive Parameter und relevante Ziele (O)
siehe Kasten „Diagnosen, Medikation und Laborwerte“
3. Befund (A)
Interaktionen
1. Simvastatin – Johanniskraut-Extrakt. Johanniskraut vermindert die Wirksamkeit von Simvastatin durch CYP-Enzyminduktion. Frau Rottmann ist eine kardiovaskuläre Hochrisikopatientin und profitiert von einem Statin.
Maßnahme: Der Johanniskraut-Extrakt sollte abgesetzt und durch ein Antidepressivum ersetzt werden.
2. ASS – Ibuprofen. Durch Ibuprofen ist eine Abschwächung der thrombozytenaggregationshemmenden Wirkung von Acetylsalicylsäure (ASS) möglich.
Maßnahme: Ibuprofen absetzen und durch Metamizol 500 mg 1-1-1-1 ersetzen.
Kontraindikationen
Die niedrige Nierenfunktion mit einer glomerulären Filtrationsrate (GFR) von 31 ml/min bedingt bei weiterem Sinken auf < 30 eine Dosisbegrenzung bei Candesartan (Q0 = 0,4) auf maximal 4 mg/Tag (derzeit verordnet sind 4 mg 1-0-0). Candesartan sollte also nicht weiter erhöht werden.
Pharmakotherapie/Leitlinien
Koronare Herzerkrankung. Frau Rottmann ist mit ihrer KHK eine kardiovaskuläre Hochrisikopatientin und profitiert von einem LDL-Cholesterol-Wert < 70 mg/dl. Simvastatin wird durch den Wegfall des Enzyminduktors Johanniskraut zwar wirksamer, kann dennoch von 20 mg auf 40 mg 0-0-1 angepasst werden oder es kann auf das stärker wirksame Atorvastatin gewechselt werden.
Bei KHK/Angina pectoris sollte der Patientin ein kurzwirksames Nitrat (Glyceroltrinitrat) an die Hand gegeben werden, damit Anfälle kupiert werden können.
Frau Rottmann ist leicht hyperkaliämisch (5 mmol/l). Eventuell sinken die Werte nach Absetzen von Ibuprofen, andernfalls sollte sie weiter überwacht werden. Da auch die Blutdruckwerte relativ niedrig sind, kann gegebenenfalls auch das Kalium-steigernde Candesartan auf 2 mg/Tag reduziert oder ganz abgesetzt werden. Candesartan ist aufgrund der KHK sonst ebenso wie Metoprololsuccinat indiziert.
Hypertonie. Der Blutdruck ist mit 120/70 mmHg recht niedrig eingestellt.
Spastische Bronchitis. Die Patientin setzt Tiotropium nur morgens statt wie verordnet morgens und abends ein. Dies weist möglicherweise auf eine rückläufige Symptomatik hin. Indikation und Dosierung für die Anwendung von Salmeterol 25 µg/Fluticason 250 µg Dosieraerosol 1-0-1 und Tiotropium 18 µg Inhalationskapseln 1-0-0 (1-0-1) können überprüft werden. Und bei sich bessernder Symptomatik kann dann auf Salbutamol als Bedarfsmedikation gewechselt oder dieses ganz abgesetzt werden.
Schmerzen. Die Patientin beschreibt starke Schmerzen. Ibuprofen ist bei der Nierenfunktion, den kardiovaskulären Risiken und der Interaktion mit ASS nicht optimal. Tilidin verträgt die Patientin nach ärztlicher Aussage nicht, daher könnte Metamizol 500 mg alle sechs Stunden versucht werden. Bei einem Absetzen des nicht-steroidalen Antirheumatikums wäre auch ein langsames Ausschleichen von Pantoprazol möglich.
Depressive Episode: Da Johanniskraut zu Interaktionen mit Simvastatin führt, sollte es abgesetzt werden. Für geriatrische Patienten günstiger ist Citalopram, da es interaktionsarm und bei eingeschränkter Nierenfunktion geeignet ist (geriatrische Dosierung bis 20 mg/Tag). Citalopram wirkt allerdings aktivierend.
Handhabungsprobleme
Bei dem Dosieraerosol und dem Pulverinhalator ist es von Zeit zu Zeit empfehlenswert, die Handhabung der Inhalation zu überprüfen. Frau Rottmann wurde diesbezüglich in der Apotheke geschult.
ASS kann auch morgens eingenommen werden, dadurch entfällt der mittägliche Einnahmezeitpunkt ganz, sofern auch Furosemid dann nicht mehr eingenommen wird. Weniger Einnahmezeitpunkte sind Adhärenz-fördernd.
Aufgrund der Vielzahl der einzunehmenden Arzneimittel ist ein Stellen anzuraten.
Therapieziel
Schmerz-, Ödem- und Dyspnoefreiheit
Blutdruck: < 140/90 mmHg
Herzfrequenz: ca. 60 bpm
LDL-Cholesterol: < 70 mg/dl
Besserung der Lebensqualität
Einnahmezeitpunkt problematisch
Pantoprazol wird zum Essen eingenommen. Soll es weiter im Regime bleiben, ist eine Umstellung auf eine nüchterne Einnahme empfehlenswert, da die Wirksamkeit dadurch verbessert werden kann.
Medikamente ohne Indikation
Es ist keine unmittelbare Indikation für Pantoprazol gelistet, vermutlich wird der Protonenpumpeninhibitor wegen der Risikofaktoren Einnahme von NSAR und Alter gegeben. Die Indikation sollte geprüft und Pantoprazol gegebenenfalls abgesetzt werden.
Sonstige Hinweise
Eine Kontrolle und Schulung der Arzneimitteleinnahme durch Arzt oder Apotheker wäre bei dieser Patientin sinnvoll, da sie zuletzt nicht gut mit den Indikationen für ihre Medikamente vertraut war. Ein geschulter Patient trägt zur Arzneimittelsicherheit bei Polypharmazie bei.
4. Plan (P)
Den Tabellen 3 und 4 ist zu entnehmen, welche Arzneistoffe abgesetzt, neu eingesetzt oder in ihrer Dosierung verändert werden sollen.
Arzneistoff
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Grund
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---|---|
Pantoprazol
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Indikation prüfen, bei Absetzen von Ibuprofen gegebenenfalls entbehrlich
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Johanniskraut-Extrakt
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Interaktion mit Simvastatin
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Ibuprofen
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nicht geeignet bei kardiovaskulärem Risiko, Alter und eingeschränkter Nierenfunktion
|
Arzneistoff und Stärke
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Gabe
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Kommentar
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Polypharmazie: Prüfen auf Auswirkung beim Absetzen
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---|---|---|---|
Candesartan 2 mg
|
1-0-0
|
Reduktion von 4 mg wegen Hyperkaliämie
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Absetzen unter RR-Kontrolle möglich, kardiovaskuläres Risiko steigt
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Metoprololsuccinat 47,5 mg
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1-0-1
|
unverändert
|
kardiovaskuläres Risiko steigt
|
ASS 100 mg
|
1-0-0
|
neuer Einnahmezeitpunkt statt 0-1-0
|
kardiovaskuläres Risiko steigt
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Furosemid 20 mg
|
1-0-0
|
Einnahme nüchtern, gegebenenfalls steigern auf 40 mg 1-0-0, Patientin nimmt aktuell ½-1-0
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Dyspnoe und Ödeme nehmen zu ohne Schleifendiuretikum
|
Salmeterol 25 µg / Fluticason 250 µg Dosieraerosol
|
1-0-1
|
Indikation prüfen und gegebenenfalls absetzen
|
Auslassversuch möglich
|
Tiotropium 18 µg Inhalationskapseln
|
1-0-0
|
Indikation prüfen und gegebenenfalls absetzen
|
Auslassversuch möglich
|
Simvastatin 40 mg
|
0-0-1
|
Dosiserhöhung um 20 mg, bisher nicht auf dem ärztlichen Medikationsplan enthalten, sofern Ziel nicht erreicht: Atorvastatin 40 mg 0-0-1
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kardiovaskuläres Risiko steigt ohne Statin
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Citalopram 20 mg
|
1-0-0
|
neu, statt Johanniskrautextrakt
|
Lebensqualität sinkt ohne Antidepressivum
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Metamizol-Na 500 mg
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1-1-1-1
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neu, statt Ibuprofen 600 mg 1-0-0
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Schmerzen nehmen zu ohne Medikation
|
bei Bedarf
|
|||
Salbutamol Spray
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bei Bedarf ein bis zwei Hübe
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neu bei Belastungsdyspnoe, sofern die anderen Inhalativa abgesetzt werden
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Auslassversuch möglich
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Nitrolingual Spray
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zwei Hübe bei anginösen Beschwerden
|
neu, bei anginösen Beschwerden
|
Auslassversuch möglich, Hospitalisierungsrate erhöht
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5. Monitoring
- Nierenfunktion
- Kalium
- LDL-Cholesterol
- Blutdruck
- Muskelschmerzen bei Dosierungssteigerung von Simvastatin
- Lungenfunktion
- Schmerzen
- Körpergewicht
6. Schulung
Ausspülen des Mundes nach der Anwendung des Dosieraerosols mit 25 µg Salmeterol und 250 µg Fluticason
Verbesserung der Adhärenz durch Verwendung eines Medikamentendispenser (Dosette®)
korrekter Einsatz der verschiedenen Devices und Sprays
Was wäre, wenn ...
... die zuletzt von 46 ml/min auf 31 ml/min gesunkene glomeruläre Filtrationsrate weiter fallen würde?
Die Nierenfunktion bessert sich meist durch die Gabe eines Schleifendiuretikums. Bei weiter sinkender Nierenfunktion kann die Dosierung von Furosemid bei Frau Rottmann von 20 mg auf 40 mg morgens erhöht werden. Bereits bei der aktuellen glomerulären Filtrationsrate von 31 ml/min sollten Vorsichtsmaßnahmen ergriffen werden und z. B. Candesartan angepasst an die Nierenfunktion dosiert werden. Die glomeruläre Filtrationsrate muss in einer Medikationsanalyse immer nach der Cockroft-Gault-Formel berechnet werden, da sich die Angaben in der Fachinformationen auf diese Formel beziehen.
... aufgrund einer Verschlechterung der depressiven Episode befürchtet werden muss, dass die Patientin suizidgefährdet ist?
Alle an der Therapie beteiligten Berufe sollten bei depressiven Patienten auf die Gefährdungssituation achten. Gibt es Anzeichen für konkrete Suizidgedanken, ist ein aktivierendes Antidepressivum ungeeignet. Selektive Serotonin(5-HT)-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) scheiden somit aus. Aus der Gruppe der sedierenden Antidepressiva eignet sich für geriatrische Patienten Mirtazapin. Da Mirtazapin aber über die Niere ausgeschieden wird, ist es für unsere Patientin ungünstig. Für Frau Rottmann ist Mianserin dann eine geeignete Empfehlung. Gegebenenfalls wird der Psychiater kurzfristig auch noch ein Benzodiazepin kombinieren wollen.
... weitere Komorbiditäten bestehen würden?
Dyspnoe und Ödembildung deuten bei unserer Patientin schon auf eine mögliche Herzinsuffizienz hin. Für die Diagnose wird unter anderem die Auswurffraktion aus der Kammer von einem Kardiologen bestimmt. Ab NYHA-Klasse II ist zusätzlich zu einem bestimmten Betablocker (Bisoprolol, Metoprololsuccinat, Nebivolol, Carvedilol) und einem ACE-Hemmer/Sartan dann laut Leitlinien auch noch die Gabe eines Mineralocorticoid-Rezeptorantagonisten wie Spironolacton oder Eplerenon indiziert. Leider wirken beide Wirkstoffe erhöhend auf den Kalium-Spiegel und sollten bei niedriger Nierenfunktion (bei einer GFR zwischen 30 ml/min bis 60 ml/min angepasst an die Nierenfunktion dosieren, darunter kontraindiziert) nicht eingesetzt werden, sodass bei Frau Rottmann ein Einsatz nur sehr bedingt und dann nur unter strenger Kalium- und GFR-Kontrolle möglich wäre.
Was hätte man im vorliegenden Fall auch schon machen können, wenn man keine Daten vom Arzt vorliegen gehabt hätte?
Auch eine Medikationsanalyse der Stufe 2a (Daten aus der Apotheke und vom Patienten) wäre bei Frau Rottmann sinnvoll gewesen. Die Interaktion zwischen Simvastatin und Johanniskraut-Extrakt konnte erkannt, bewertet und umgangen werden. Gegen die regelmäßige Abgabe von Ibuprofen spricht auch, dass bereits ASS 100 mg angewendet wird. Die Furosemid 20-mg-Dosierung ½-1-0 kann hinterfragt werden. Eine Schulung zu den inhalativ angewendeten Medikamenten ist immer sinnvoll, da viele Patienten Probleme mit der Handhabung haben.
Medikationsmanagement
Erst durch die weitere Betreuung und Schulung der Patienten, die Übermittlung und Besprechung der Ergebnisse mit dem Arzt, die Beurteilung des Monitorings und die Erstellung einer erneuten Medikationsanalyse nach einigen Monaten wird aus einer umfassenden Medikationsanalyse ein Medikationsmanagement.
Im vorliegenden Fall handelte es sich bereits um die nach sechs Monaten wiederholte Medikationsanalyse, die arzneimittelbezogenen Probleme wurden interdisziplinär mit dem behandelnden Arzt besprochen und bestmöglich gelöst. Bevor der Arzt die Medikations-Änderungsvorschläge berücksichtigte, ließ er durch einen Kardiologen zunächst die gestellte Diagnose KHK abklären. Der Langzeitblutdruck wurde gemessen, um für die Dosissenkung von Candesartan eine Entscheidungsgrundlage zu haben. Der Kardiologe befand nach Herz-Echo auch, dass die Kombination von Hypertonie und linksventrikulärer Dysfunktion vorliegt, wobei Candesartan ideal wirksam sei. Vor dem Absetzen des PPI wurde von ihm noch ein C13-Atemtest auf Helicobacter pylori vorgeschlagen und statt Furosemid das pharmakokinetisch günstigere Torasemid, das besser bioverfügbar ist. Statt Simvastatin würde der Kardiologe hier das stärker wirksame Atorvastatin bevorzugen. Für den Hausarzt sind allerdings Simvastatin (und Pravastatin) die Leitsubstanzen der Rahmenvorgaben zwischen KV und GKV (Zielwert 2015: 82% aller Statin-Verordnungen), so dass Simvastatin zunächst auf 40 mg erhöht wurde.
Zusammenfassung
Durch das Absetzen von Ibuprofen und die Dosisanpassung von Candesartan auf 2 mg normalisierte sich im vorliegenden Fall der Kalium-Spiegel auf 4,6 mmol/l. Dosieraerosol und Kapselinhalator wurden bis zum Packungsende eingesetzt, danach nicht wieder verordnet. Pantoprazol wurde zusammen mit Ibuprofen abgesetzt. Mit vier Metamizol Tabletten pro Tag können die durch die Arthrose bedingten Schmerzen allerdings nicht zufriedenstellend kontrolliert werden, eine Umstellung auf ein Opiat wird aktuell vorgeschlagen. Simvastatin 40 mg werden toleriert, bei Nichterreichen des LDL-Cholesterol-Zielwertes nach drei Monaten soll gegebenenfalls auf Atorvastatin 40 mg 0-0-1 umgestellt werden. |
Literatur
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