Ein Patient mit multipel metastasiertem Bronchialkarzinom (NSCLC)
Mit diesem Artikel möchten wir die Leser in die Lage versetzen,
- am Beispiel dieses Patientenfalls zu erkennen, wie sich die Perspektiven von Patienten, Apothekern, Ärzten und anderen Beteiligten unterscheiden können.
- die Bedeutung der Patientenpräferenzen in der palliativen Krebstherapie darzustellen.
- am Beispiel dieses Patientenfalls zu begründen, warum die Perspektive des Patienten in der palliativen Krebstherapie Vorrang hat.
- wichtige Leitlinien im Bereich des nicht-kleinzelligen Bronchialkarzinoms und der Tumorschmerz-Therapie zu nennen.
- relevante Hinweise zur Einnahme von Erlotinib und Alendronat wiederzugeben.
- zu erklären, wie mit den unterschiedlich ausgeprägten Interaktionen zwischen Erlotinib und Säureblockern verschiedener Klassen umzugehen ist.
- wichtige Beratungsinhalte zum Umgang mit unerwünschten Nagelveränderungen durch EGFR-Inhibitoren darzustellen.
- wichtige Analgetika(gruppen) wiederzugeben, die bei Tumorschmerzen und Knochenmetastasen eingesetzt werden.
Daten
→ Patientensituation erfassen
→ Arzneimittel- und Therapiedaten recherchieren
– Kommunizieren –
Der Patient und seine Hauptbeschwerden
Herr E. ist 74 Jahre alt, Konzertpianist und Komponist, der mit seiner 15 Jahre jüngeren Frau zusammen im eigenen Haus lebt. Er hat ein multipel metastasiertes Bronchialkarzinom, das drei Jahre zuvor diagnostiziert wurde, und nun auch schmerzhafte Knochenmetastasen. Als Hauptbeschwerden beschreibt er die durch eine entsprechende Opioid-Therapie eingeschränkte Konzentrationsfähigkeit sowie eine residuale Polyneuropathie der Finger infolge einer früheren Chemotherapie mit Carboplatin.
Medikation des Patienten
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Wirkstoff
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Stärke
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Dosierung
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Quelle
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Erlotinib
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150 mg
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1-0-0-0
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A
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Alendronat
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10 mg
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1-0-0-0
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A
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Dihydrocodein retard
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100 mg
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1-0-1-0
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A
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Ibuprofen
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800 mg
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1-0-1-0
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A
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Magaldrat
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800 mg
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bei Bedarf
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P
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mögliche Quellen für die Auskunft zur Medikation können sein: BMP: bundeseinheitlicher Medikationsplan; MP: Medikationsplan vom Arzt; ML: Medikationsliste vom Patienten; P: Auskunft vom Patienten; BB: brown bag; A: Auskunft vom Arzt; D: Auskunft Dritter |
Besonderheiten
Als Pianist legt der Patient größten Wert darauf, eine Polyneuropathie zu vermeiden und lehnt daher jegliche weitere Krebstherapie ab, die dieses Risiko beinhaltet (Taxane, Platin-Derivate). Sein größter Wunsch ist es, in seiner verbleibenden Lebenszeit eine Oper zu Ende zu komponieren. Therapien, die seine Konzentrationsfähigkeit beeinträchtigen, kommen für ihn daher ebenfalls nicht infrage. Der Patient ist Pfeifenraucher seit rund 50 Jahren. Beim Einlösen seines Rezeptes fragt er nach Maßnahmen gegen Entzündungen des Nagelfalzes (Paronychien) der Finger, die immer mal wieder auftreten.
Diagnosen und Vortherapien
Diagnostisch gesichert (erstmals drei Jahre zuvor) ist ein nicht-kleinzelliges Bronchialkarzinom (NSCLC) vom Typ eines Plattenepithelkarzinoms. Primäre Manifestationen: linker Oberlappen (OL) 4 cm Durchmesser ohne Thoraxwand-Infiltration, ipsilaterale hiläre Lymphknoten, keine Fernmetastasen in den weiteren Untersuchungen. Histologische Sicherung durch CT-gesteuerte Biopsie. Daraus ergab sich primär ein präoperatives Stadium IIB (T2b, N1, M0). Nach Resektion des linken Oberlappens und Dissektion der hilären und mediastinalen Lymphknoten erfolgte eine postoperative Höherstufung aufgrund eines histologischen Tumornachweises in mediastinalen Lymphknoten auf ein postoperatives Stadium IIIA (T2b, N2, M0), R0. Eine adjuvante Radiochemotherapie mit vier Zyklen Vinorelbin und Cisplatin schloss sich an, allerdings wurden im Anschluss mehrere nicht operable Lebermetastasen des Primärtumors nachgewiesen. Das molekulare Tumorboard ergab eine EGFR-Mutation (Exon 21), außerdem war PDL-1 positiv (< 50%). Die daraufhin zunächst begonnene Systemtherapie mit Carboplatin und Pembrolizimab führte nach zwei Zyklen zu einer für den Patienten inakzeptablen Polyneuropathie der Finger beider Hände. Daher erfolgte wegen der EGFR-Mutation eine Umstellung auf eine palliative orale Therapie mit Erlotinib. Hierunter bestand eine über Monate stabile Erkrankung mit guter Lebensqualität. Schmerzen in der Lendenwirbelsäule, die nach zehn Monaten erstmals auftraten, führten zum Befund multipler Knochenmetastasen, die zunächst erfolgreich bestrahlt wurden. Die Therapie mit Erlotinib wurde weitergeführt. Im Verlauf zeigte sich bei den Leber- und Lymphknoten-Metastasen eine „stable disease“, bei den Knochenmetastasen jedoch ein langsamer Progress. Nach weiteren drei Monaten wurden nach neu aufgetretenen Schmerzen zudem neue Knochenmetastasen im linken Oberarmknochen, in der Brust- und in der Lendenwirbelsäule entdeckt. Bestrahlung besserte die Schmerzen im Arm, jedoch nicht im Rücken. Eine Radionuklidtherapie wurde verworfen, da es sich um gemischt osteolytische und osteoplastische Metastasen handelte, eine Therapie mit Docetaxel wegen der möglichen Polyneuropathie vom Patienten abgelehnt.
Aktueller Stand: 74-jähriger Patient mit multipel metastasiertem NSCLC und symptomatischen Knochenmetastasen. Palliative orale Tumortherapie mit Erlotinib, hierunter langsamer Progress der Erkrankung, eine Therapieintensivierung wird vom Patienten wegen des Risikos einer Polyneuropathie abgelehnt. Die zeitliche Entwicklung ist in Abb. 1 gezeigt.
Untersuchung
Bewegungsabhängige, einschießende, klar lokalisierte Schmerzen mit Einschränkung der Mobilität, beginnendes chronisches Schmerzsyndrom mit depressiver Verstimmung, Reizbarkeit. Die Schmerzen sind mit dem Bisphosphonat und dem Opioid akzeptabel kontrolliert, jedoch ist der Patient äußerst unzufrieden, weil Letzteres ihm die Konzentrationsfähigkeit raubt und er nicht komponieren kann. Er äußert den Wunsch, es abzusetzen und fragt nach Alternativen. Die Calciumwerte sind im Referenzbereich, Serumkreatinin 0,86 mg/dl, eGFR (CKD-Epi) 85 ml/min per 1,73 m². Sein Allgemeinzustand wird als ECOG2 eingestuft, das heißt, der Patient ist ambulant, tagsüber mobil in mehr als 50% der Zeit, kann sich selbst versorgen, ist aber formal nicht arbeitsfähig.
Grund für die Medikationsanalyse
Obwohl bei diesem Patienten nicht übermäßig viele Arzneimittel im Spiel sind, bietet sich sowohl aufgrund seiner Ablehnung wichtiger Therapieoptionen als auch wegen unerwünschter Wirkungen die Medikationsanalyse an, um nach möglichen Alternativen zu suchen, deren Nutzen und Risiken gegeneinander abzuwägen und den Patienten bei der partizipativen Entscheidungsfindung zu unterstützen.
? Wo liegen aus Ihrer Sicht die Hauptprobleme? Worauf sollte in der Analyse und in der Intervention der Fokus gelegt werden? Was halten Sie für weniger dringend, so dass eine Intervention auf später verschoben werden kann? Was können Sie direkt mit dem Patienten besprechen, was richtet sich an den Arzt?
Analyse
Informationen ordnen:
→ Probleme identifizieren
→ Prioritäten festlegen
– Verarbeiten –
Die Analyse erfolgt unter Berücksichtigung verschiedener Perspektiven, die sich in ihrer Priorisierung und ihren Rahmenbedingungen durchaus unterscheiden können.
Patientenperspektive
Eine palliative Krebstherapie hat zum Ziel, bestmöglich das zu unterstützen, was dem Patienten wichtig ist. Das kann sehr unterschiedlich sein: Der eine Patient möchte einen runden Geburtstag oder die Geburt des Enkelkindes unbedingt noch erleben und nimmt die Nebenwirkungen jeder Therapie in Kauf, die ihm Aussicht auf Lebensverlängerung bietet. Für einen anderen Patienten hat die Lebensqualität die höchste Priorität, so dass er von zwei Möglichkeiten eher die verträglichere als die wirksamere wählt. Auch der Begriff der Lebensqualität kann sehr unterschiedliche Inhalte haben – für den einen die Schmerzfreiheit, für den anderen, wie in diesem Fall, die geistige Klar- und Wachheit, die es ihm ermöglicht, seiner Passion nachzugehen.
Herr E. lehnt insbesondere Therapien ab, die ihn am Klavierspielen und am Komponieren hindern würden. Daher braucht es Therapieoptionen, die die Sensorik und Motorik der Finger sowie die Kognition nicht gefährden. Die Schmerztherapie soll aus diesem Grund überdacht werden.
Medizinische Perspektive
Die hier beschriebene Patientengeschichte ist zwar ein individueller Einzelfall, sie stellt aber keine Ausnahme dar. Zunächst einmal muss allen Beteiligten klar sein, auf welcher Therapieebene man sich befindet: Neoadjuvant, adjuvant, kurativ oder palliativ. Insbesondere in der palliativen Onkologie muss das Therapieziel hinsichtlich Lebensqualität und Lebenszeit gemeinsam mit dem Patienten festgelegt werden. Klar ist zugleich, dass sich dieses Ziel während der Behandlung ändern kann und wird. Die Prioritäten und Präferenzen des Patienten müssen also regelmäßig hinterfragt und die Ziele daran angepasst werden.
Weiterhin muss man sich bewusst sein, dass die Leitlinien im Wesentlichen tumor- und nicht patientenbezogen sind, denn sie beziehen sich regelmäßig auf Studien mit Patientengruppen, die nicht dem Profil des aktuellen Patienten entsprechen. Dennoch sind sie auch in der palliativen Onkologie eine wichtige Entscheidungshilfe, denn sie zeigen den Weg zu denjenigen Behandlungsoptionen, die für den Patienten eine möglichst lange Lebenszeit erreichen. Wenn die Wünsche des Patienten nicht mit den Leitlinien in Einklang zu bringen sind, liegt das praktisch immer an den unerwünschten Wirkungen der eingesetzten Therapeutika – so auch in dem hier dargestellten Fall. In dieser Situation sind mehrere Grundregeln wichtig, um den Patienten weiterhin optimal zu betreuen, also seinem Therapieziel nahe zu kommen: Zunächst einmal gelingt eine gute palliative Betreuung nur im Team. Die richtige Auswahl der medikamentösen Behandlung durch den Behandler ist ein notwendiger, aber nur ein erster Schritt. Nicht nur das Wirkprinzip muss das richtige sein, auch das Nebenwirkungsprofil muss zu den Zielen des Patienten passen. Darum kann ein älteres Medikament mit gut bekannten Nebenwirkungen unter Umständen die bessere Wahl darstellen als ein neues Präparat, selbst wenn dies in Studien überlegen war.
Im zweiten Schritt erfordert die Gesamtbetreuung das Zusammenwirken von Patienten, Behandlern, Apothekern, Pflege- und Sozialdiensten – und auch den primären Bezugspersonen des Patienten (meistens Familienmitglieder), die Einfluss auf seine Einstellung zur Therapie sowie gegebenenfalls deren Durchführung haben (engl. Caregiver). Damit das funktionieren kann, muss jeder Einzelne die damit einhergehende Verantwortung annehmen und sich auf seine Rolle im therapeutischen Team einlassen. Notwendig sind praktikable Kommunikationswege und ein adäquater Kommunikationsstil.
Leitlinienperspektive
- DGHO-Onkopedia-NSCLC-Leitlinie (Oktober 2019): Multimodale Konzepte aus Operation, Bestrahlung und oft Platin-haltiger systemischer Therapie sind die empfohlenen Therapiestrategien. Identifizierung der Treibermutationen eröffnet die Möglichkeit molekular stratifizierter Therapien mit Immuncheckpoint-Inhibitoren bzw. Tyrosinkinase-Inhibitoren (TKI) [1].
- S3-Leitlinie „Lungenkarzinom“ (2018): Therapieziele bei Patienten mit NSCLC im ECOG-Performance-Status 2 sind Symptomlinderung, Verbesserung oder Erhalt der Lebensqualität, Tumoransprechen und Überlebensverlängerung [2].
- NCCN Guideline Non-Small Cell Lung Cancer (Version 4.2021): Bei Progression unter Erlotinib kann auf Osimertinib gewechselt werden, weitere Alternativen sind systemische Checkpoint-Inhibitoren (Nivolumab gegebenenfalls mit Ipilimumab, Pembrolizumab, Atezolizumab). Fortsetzung von Erlotinib ist jedoch ebenfalls eine leitliniengerechte Option [3].
- S3-Leitlinie „Palliativmedizin für Patienten mit einer nicht heilbaren Krebserkrankung“ (Fassung vom 19. Februar 2020): Schmerz: Das Analgetikum wird nach Schmerzintensität aus der Stufe I, II oder III des WHO-Stufenschemas gewählt. Zusätzlich kann v. a. bei neuropathischer Schmerzkomponente eine adjuvante Therapie mit Antidepressiva oder Antikonvulsiva erfolgen. Depression: Antidepressiva sollten bei leichten depressiven Episoden nur unter besonders kritischer Abwägung von Nutzen und Risiko eingesetzt werden. Erst ab akuten mittelgradigen depressiven Episoden sind sie definitiv indiziert [4].
- NCCN Guideline Adult Cancer Pain (Version 1.2021): Bei Knochenschmerzen sind NSAR, Paracetamol, Steroide, Bisphosphonate und Denosumab analgetisch wirksam. Wenn der Patient keine spezielle Präferenz für ein NSAR hat, ist Ibuprofen erste Wahl, so niedrig dosiert und so kurz wie möglich, gegebenenfalls jedoch bis zur maximalen Dosis (2400 mg/Tag). Für Duloxetin in der adjuvanten Schmerztherapie gibt es erste Daten, die einen möglichen Benefit bei peripherer Neuropathie zeigen [5].
- Leitlinie Tumorschmerz, Kommentarfassung zur Version 3.0: Tumorschmerztherapie berücksichtigt insbesondere den Willen des Patienten. Die Behandlung älterer Menschen mit Tumorschmerz erfordert die Berücksichtigung der üblichen geriatrischen Therapieregeln spätestens vom 70. Lebensjahr an. Bei Schmerzursachen mit entzündlicher Komponente sind NSAR eine kurzfristige und Corticoide eine längerfristige Option. Bisphosphonate oder Denosumab sollen wegen ihrer eigenständigen analgetischen Wirkung regel- und dauerhaft zur Behandlung von Schmerzen durch Knochenmetastasen eingesetzt werden [6].
- Mehrere NSCLC-Leitlinien empfehlen den Rauchstopp auch im fortgeschrittenen Stadium. NCCN Guideline Smoking Cessation (Version 1.2021): Ein Rauchstopp wirkt sich auch nach der Diagnose noch günstig auf Wirksamkeit und Verträglichkeit der Therapie und das Überleben aus. Da Rauchen die Clearance mancher Onkologika, darunter auch Erlotinib, erhöht, ist die Wirkung hier auch direkt gefährdet [7].
Arztperspektive
Aus der ärztlichen Perspektive ist vorrangig abzuwägen, welche Therapie für den jeweiligen Patienten individuell die beste ist. Dafür ist es im Rahmen der partizipativen Entscheidungsfindung besonders wichtig, dem Patienten auf der Grundlage der vorhandenen Evidenz und der Leitlinienempfehlungen gut zu erklären, welche Therapie welchen Nutzen und welche Risiken birgt. Die individuell beste Option kann das Befolgen der Leitlinienempfehlung sein – oder auch gerade nicht.
Der wirtschaftliche Rahmen für die onkologische Therapie bei GKV-Patienten wird durch die „Vereinbarung über die qualifizierte ambulante Versorgung krebskranker Patienten – „Onkologie-Vereinbarung“ – (Anlage 7 zum Bundesmantelvertrag-Ärzte)“ zwischen Kassenärztlicher Bundesvereinigung (KBV) und GKV-Spitzenverband vorgegeben. Pro Quartal und Patient werden festgelegte Kostenpauschalen entweder für die orale oder die intravasale Tumortherapie oder – nach deren Beendigung – für die Palliativversorgung abgerechnet. (Anm.: Anders als in diesem Artikel, steht „palliativ“ dort für die Versorgung nach, nicht mit einer Tumortherapie.) Während KBV und GKV sich in anderen Indikationsgebieten auf Präferenzen für bestimmte Wirkstoffe einigen, gibt es solche Festlegungen in der Onkologie nicht.
Infrage steht im vorliegenden Fall nicht die Krebstherapie, die eine akzeptable Wirksamkeit und gute Verträglichkeit zeigt, sondern die Schmerztherapie, speziell das Opioid. Außerdem stellt sich die Frage, ob die depressive Verstimmung von einer medikamentösen oder nicht-medikamentösen Therapie profitieren kann.
→ Arzneimittelbezogene Probleme (ABP)
ABP (Code nach aktueller PCNE Klassifikation V 9.0):
- ABP 1: langsam progredientes Bronchialkarzinom, Verzicht auf Platin- und Taxan-haltige Therapien (Code P1.2)
- ABP 2: Paronychien als potenzielle Manifestation der Hauttoxizität von Erlotinib (Code P2.1)
- ABP 3: potenzielle Erlotinib-Interaktionen (Code C1.4): mit Magaldrat, mit Rauchen
- ABP 4: spezielle Einnahmehinweise (Code C7.7): Erlotinib, Alendronat
- ABP 5: Schmerztherapie und Opioid-bedingte Sedierung (Code P2.1)
- ABP 6: unbehandelte depressive Verstimmung (Code P1.3)
Apothekerperspektive
Für den Apotheker sind drei Punkte in der oralen Krebstherapie wichtig:
- allgemein die Vermeidung von Interaktionen, die die Wirkung in relevantem Ausmaß gefährden,
- die Einordnung neuer Beschwerden als mögliche Nebenwirkungen und
- die Erläuterung der Einnahmehinweise.
Die Vermeidung von Interaktionen setzt voraus, dass eine umfassende Arzneimittelanamnese durchgeführt wird. Wichtig ist auch das Schließen eventueller Informationslücken gemeinsam mit dem Onkologen und weiteren (Fach-)Ärzten des Patienten. Dies betrifft auch neue Beschwerden, die ins Nebenwirkungsspektrum der Krebstherapie passen. Nicht immer berichten Krebspatienten ihrem Onkologen davon, z. B. weil sie selbst keinen Zusammenhang herstellen oder eine Änderung der Therapie vermeiden möchten. Im vorliegenden Fall bietet das Auftreten von kognitiven und dermatologischen Nebenwirkungen der Schmerz- bzw. der Tumortherapie einen Einstieg in die Beratung und Anlass zur Medikationsanalyse. Erlotinib zeigt einen positiven Food-Effekt: die Bioverfügbarkeit nach oraler Gabe kann bei gleichzeitiger Nahrungsaufnahme von 59% auf fast 100% erhöht sein. Der Hinweis, dass Patienten zwei Stunden vor und eine Stunde nach der Einnahme nichts essen sollen, ist daher besonders wichtig, um Nebenwirkungen zu vermeiden.
Nichtpharmakologische Perspektive
Herr E. und seine Frau können sich bislang unabhängig versorgen und auch die Krebstherapie selbstständig durchführen. In diesem Fall entfällt daher die Einbindung eines Sozialdienstes oder ambulanten Pflegedienstes. Auch Ernährungsberatung, Physiotherapie oder psychoonkologische Unterstützung sind nicht notwendig bzw. werden nicht gewünscht. Wichtig ist es aber, die Perspektiven von Bezugspersonen des Patienten in die klinische Entscheidungsfindung einzubeziehen, die seine Entscheidung beeinflussen [8]. In diesem Fall ist das die Perspektive der Ehefrau. Untersuchungen zeigen, dass Bezugspersonen als Träger von Informationen hilfreich sein und dass sie Therapiestrategien stützen können, wenn sie in den Entscheidungsprozess und die Durchführung der Therapie einbezogen werden [9]. Da sie, gerade für ältere Patienten, oft auch logistische Unterstützung leisten, sind sie auch in der Apotheke mögliche Ansprechpartner.
Beurteilung
→ Patientenziele formulieren
→ medizinische Ziele formulieren
→ Lösungen finden
– Abwägen –
Berücksichtigung der unterschiedlichen Perspektiven und daraus resultierender arzneimittelbezogener Probleme (ABP)
1. Sollte die Tumortherapie verändert werden angesichts des langsam progredienten Verlaufs? Welche evidenzbasierten Optionen gäbe es?
2. Welche Maßnahmen sind hinsichtlich der Nagelfalzentzündungen nötig?
3. Ist wegen der gleichzeitigen Einnahme von Erlotinib mit einem Antazidum und wegen des Rauchens eine Intervention erforderlich?
4. Wie muss der Patient hinsichtlich der Einnahme von Erlotinib und Alendronat beraten werden?
5. Welche Möglichkeiten gibt es zur Optimierung der Schmerztherapie nach dem Verzicht auf ein Opioid?
6. Erfordert die depressive Verstimmung eine medikamentöse Therapie?
Rationale und Abwägung
In aller Regel gibt es in der Pharmakotherapie und erst recht im interprofessionellen Medikationsmanagement verschiedene Ansätze und Meinungen, welche Ziele formuliert werden sollen und wie sie erreicht werden können. In der täglichen Praxis muss aus den verschiedenen Perspektiven abgeschätzt werden, was realistisch, umsetzbar und voraussichtlich effektiv und sicher ist (Clinical Reasoning):
1. Tumortherapie: Therapieleitlinien stecken grundsätzlich einen Handlungs- und Empfehlungskorridor ab und sind folglich eine wertvolle Hilfe für die klinische Entscheidungsfindung. Die Entscheidung im Einzelfall bezieht auf dieser Grundlage die individuellen Gegebenheiten des Patienten ein, also Physiologie und Erkrankungen, sowie auch seine Präferenzen. Das ist in den Vortherapien an jedem Punkt geschehen. Der systemische Therapiebeginn erfolgte adjuvant mit Platin-Derivat und Vinca-Alkaloid. Diese Kombination erhöht das Fünf-Jahres-Überleben gemäß einer Übersichtsarbeit über sechs Phase-III-Studien absolut um Werte zwischen 4 und 15% [10] und ist nicht-Platin-haltigen Therapien überlegen [11]. Die LACE-Meta-Analyse ergab einen Anstieg absolut um 5,3% [12], wenn das Vinca-Alkaloid Vinorelbin war, sogar um 8,9% [13]. Während das neuropathische Potenzial von Cisplatin und Vinorelbin als „häufige“ Nebenwirkung (also in 1 bis 10% der Fälle vorkommend) gut bekannt und das relative Risiko für diese Nebenwirkung siebenfach höher ist als für nicht-Platin-haltige Therapien [11], manifestiert es sich bei Weitem nicht bei jedem Patienten. Bessere Wirksamkeit und schlechtere Verträglichkeit müssen gegeneinander abgewogen werden, und es bestand eine reelle Chance, dass es nicht zur Neuropathie kommt. Nachdem sie sich nicht erfüllt und das molekulare Tumorboard zudem eine aktivierende EGFR-Mutation bestätigt hatte, wurde mit Erlotinib einer von verschiedenen Tyrosinkinase-Inhibitoren ausgewählt, der in der Folge den Krankheitsverlauf stabilisieren konnte. Beim Auftreten der Knochenmetastasen wurde die Therapie überdacht, da der Patient aber mit Platin-Derivaten und Taxanen die beiden zentralen Zytostatika-basierten Strategien ablehnte, wurde die hinsichtlich des Primärtumors erfolgreiche Therapie mit Tyrosinkinase-Inhibitoren fortgeführt. Falls sich die Progression darunter beschleunigt, kann beispielsweise auf den irreversiblen EGFR-Inhibitor Osimertinib gewechselt werden, v. a. wenn die TKI-Resistenz-Mutation T790M vorliegt [13].
→ Das Lungenkarzinom ist hierzulande bei Frauen der dritt-, bei Männern der zweithäufigste maligne Tumor. Mittlerweile können durch Operation, adjuvante Platin-haltige Radiochemotherapie und molekular stratifizierte Therapien mit Tyrosinkinasehemmern sowie einer adäquaten palliativen Therapie Überlebenszeiten im Bereich von mehreren Jahren erzielt werden [1].
2. Nebenwirkungen: Hautreaktionen treten laut Fachinformation bei 75% aller Patienten auf, die mit Erlotinib behandelt werden, unter Paronychien leiden 14%. Das sind schmerzhafte, geschwollene und oft eitrige Entzündungen des Nagelfalzes, die sich typischerweise erst nach zwei oder mehr Monaten einer Therapie mit Tyrosinkinase-Inhibitoren zeigen. Sie können den Gebrauch von Händen und Füßen und daher die Lebensqualität generell stark einschränken, zum einen wegen der Schmerzen, zum anderen wegen des stigmatisierenden Aussehens. Für Musiker, die ihre Hände und Finger stark beanspruchen, gilt das umso mehr. Der Entstehung von Paronychien sollte mit Schutz- und Pflegemaßnahmen vorgebeugt werden. Dazu gehören Handschuhe bei Tätigkeiten, die die Hände stark beanspruchen, wie Abwaschen oder Gartenarbeit, Sauber- und Trockenhalten der Hände, Nägelschneiden, regelmäßige Anwendung milder Cremes, sowie die Vermeidung von hautreizenden Stoffen und Verletzungen. Die Behandlung erfolgt, indem die Präventionsmaßnahmen durch Bäder mit milden Seifen oder desinfizierenden Zusätzen sowie durch topische Therapie mit Betablockern (Betaxolol, Timolol), Steroiden, Calcineurininhibitoren oder – bei Superinfektion – mit Antibiotika ergänzt werden. In einzelnen Fällen kann eine systemische Gabe von Antibiotika (Cepheme oder Tetracycline) nötig sein. Außerdem kann die Supplementierung mit Biotin helfen [14 – 18]. Diese Nebenwirkung in den Griff zu bekommen, ist von großer Bedeutung, da dermatologische Toxizität eine häufige Ursache für Therapieunterbrechungen und Dosisreduktionen ist [19].
→ Nagelfalz-Entzündungen gehören zu den eher spät einsetzenden dermatologischen Nebenwirkungen einer TKI-Therapie. Sie können sowohl schmerzhaft als auch stigmatisierend sein und neigen zu Superinfektionen. Um die Adhärenz der Patienten nicht zu gefährden, sind präventive Schutz- und Pflegemaßnahmen wichtige Punkte in der Beratung. In der Therapie werden zusätzlich entzündungshemmende und antibiotische Wirkstoffe eingesetzt.
3. Interaktionen: Erlotinib zeigt bei einem Magen-pH-Wert über 5 eine verminderte Löslichkeit. Arzneimittel zur Erhöhung des pH-Wertes gefährden daher unter Umständen die Antitumorwirkung. Wenn gleichzeitig mit Erlotinib der Protonenpumpenhemmer Omeprazol angewendet wird, sinkt laut Fachinformation die AUC um 46% und Cmax um 61%. Der H2-Rezeptorblocker Ranitidin verminderte die Erlotinib-AUC um 33% und Cmax um 54%. Der Einfluss von Antazida ist nicht untersucht. Da sie den Magen-pH nur für ein bis zwei Stunden auf Werte zwischen 3 und 5 erhöhen, dürfen sie während einer Erlotinib-Therapie eingenommen werden, sofern die vorgeschriebenen Abstände eingehalten werden: Herr E. darf Magaldrat zu jeder Zeit einnehmen, die außerhalb des Zeitfensters von vier Stunden vor und zwei Stunden nach der Erlotinib-Einnahme liegt. Gelegentlich (das heißt bei 0,1 bis 1% der Patienten) führt Erlotinib zu einer Magen-Darm-Perforation. Das Risiko wird möglicherweise durch die ulzerogene Wirkung von hochdosiertem Ibuprofen erhöht. Diese lebensgefährliche Situation darf nicht durch Einnahme von Säureblockern maskiert und verschleppt werden. Patienten, die plötzliche starke Bauchschmerzen berichten, müssen zum Arzt geschickt werden.
Das Tabakrauchen vermindert signifikant die AUC von Erlotinib um den Faktor 2,8, Cmax um den Faktor 1,5 und die Plasmakonzentration nach 24 Stunden um den Faktor 9. In einer Studie, in der Raucher entweder 150 mg der 300 mg Erlotinib/Tag einnahmen, waren die Plasmaspiegel von Erlotinib in der 300-mg-Gruppe zwar höher, es zeigte sich jedoch kein Unterschied hinsichtlich des progressionsfreien oder des Gesamtüberlebens. Auch die Verträglichkeit war weitgehend vergleichbar mit Ausnahme einer erhöhten Häufigkeit von Diarrhoe und Hautausschlägen [20]. Folglich sollte die Dosis nicht erhöht werden, sondern eine Beratung zum Rauchstopp erfolgen, der medikamentös mit Nicotin-Ersatz, Vareniclin oder Bupropion unterstützt werden kann. Von einem Rauchstopp muss auch der Onkologe in Kenntnis gesetzt werden. Der Wegfall der Enzyminduktion kann die Clearance verlangsamen, die Plasmaspiegel erhöhen und Nebenwirkungen verstärken.
→ Rauchen ist bei Krebspatienten ein Risikofaktor für Rezidive, Sekundärmalignome, pulmonale und kardiale Nebenwirkungen der Krebstherapie, Kachexie und Fatigue sowie ein verkürztes Überleben u. a. bei Lungenkarzinomen. Umgekehrt haben retrospektive Studien für diese Parameter einen positiven Effekt eines Rauchstopps auch noch nach der Diagnose gezeigt. Empfohlene Strategien sind Nicotinersatz-Therapie oder Vareniclin, jeweils mit Verhaltenstherapie für zwölf Wochen, alternativ Bupropion ret. [7].
4. Spezielle Einnahmehinweise: Gemäß den FDA-Verordnungshinweisen wird die Erlotinib-Bioverfügbarkeit durch gleichzeitige Nahrungsaufnahme von 60% (nüchtern) auf fast 100% erhöht. Da die Fachinformation die nüchterne Einnahme (mindestens eine Stunde vor bzw. zwei Stunden nach einer Mahlzeit) empfiehlt, birgt eine falsche Anwendung das Risiko für unerwünschte Wirkungen. Alendronat ist ebenfalls ein Wirkstoff mit besonderen Einnahmehinweisen: Damit es nicht zu Interaktionen kommt, muss er nüchtern, das heißt morgens mindestens 30 Minuten vor der ersten Einnahme von Nahrung, Getränken oder Arzneimitteln mit Leitungswasser eingenommen werden. Um eine Ulzeration der Speiseröhre zu vermeiden, muss das Glas Wasser ein großes sein (mindestens 200 ml), die Tablette muss im Ganzen geschluckt werden, und der Patient muss mit dem Oberkörper nach der Einnahme mindestens 30 Minuten lang in einer aufrechten Position bleiben.
5. Schmerztherapie: Die einschlägigen Leitlinien sind sich einig, dass Patienten eine Schmerztherapie angeboten werden soll, sofern sie unter Schmerzen leiden. Die Empfehlung, sich die WHO-Leiter Stufe für Stufe „emporzuarbeiten“ wurde mittlerweile verlassen – bei starken Schmerzen darf mit stark wirksamen Opioiden begonnen werden. Die Leitlinien stimmen außerdem dahingehend überein, dass die Tumorschmerztherapie insbesondere den Willen des Patienten berücksichtigt. Im Fall von Herrn E. wurde mit Dihydrocodein mit einem Stufe-II-Opioid begonnen, allerdings ist der Patient nicht bereit, die zentralen Wirkungen auf Kognition und Vigilanz zu tolerieren. Sein Wunsch, das Opioid abzusetzen und auch kein anderes zu versuchen, ist daher wegweisend für die weitere Therapie, die nun noch aus hoch dosiertem Ibuprofen und Alendronat besteht. Beides findet sich auch in den Leitlinien wieder [4 – 6], jedoch muss bei dauerhafter Anwendung hoher Dosierungen in der Geriatrie wegen der Wirkung auf Blutdruck, Niere und Gastrointestinaltrakt das Nutzen-Risiko-Verhältnis kritisch abgewogen werden. Die Priscus-Liste (Fassung von 2011 [27]) zieht Ibuprofen den anderen NSAR vor, die Forta-Liste (Fassung von 2018 [26]) bevorzugt Paracetamol, Metamizol und vorsichtig auftitrierte Opioide. Metamizol ist eine mögliche Option bei Tumorschmerzen, Paracetamol wird bei Knochenschmerzen von der NCCN-Leitlinie [5] ebenfalls als wirksam bezeichnet. Die Kommentarfassung der in Überarbeitung befindlichen Leitlinie Tumorschmerz [6] weist jedoch darauf hin, dass „die wenig überzeugende Datenlage sowie die klinische (ambulante und stationäre) Erfahrung mit Paracetamol, Acetylsalicylsäure und Codein den Einsatz dieser Substanzen bei Tumorschmerzen nicht angeraten sein lassen“. Opioide kommen wegen der Ablehnung durch den Patienten derzeit nicht infrage. Dies spricht insgesamt dafür, das Ibuprofen zumindest vorerst unverändert zu lassen und Blutdruck und Serumkreatinin regelmäßig zu überprüfen. Sollte sich hier ein Problem abzeichnen, kann auf Metamizol gewechselt werden. Als weitere Option kann zum aktuellen Zeitpunkt eine co-analgetische Therapie in Erwägung gezogen werden, da Knochenmetastasen durch die Kompression von Nervenwurzeln oft auch einen neuropathischen Ursprung haben. Im vorliegenden Fall spricht die Art der Schmerzen sehr für eine neuropathische Komponente. Insbesondere Duloxetin könnte hier in mehreren Facetten günstig sein: als Co-Analgetikum, gegen die depressive Verstimmung und möglicherweise gegen die periphere Neuropathie [6, 21]. In einer unverblindeten Pilotstudie mit 39 Patienten, die unter Oxaliplatin-Therapie eine Neuropathie entwickelten, verbesserte die Einnahme von 60 mg Duloxetin/Tag die anhand einer visuellen Analogskala eingeschätzte Schmerzintensität bei 63% der Patienten. Bei knapp der Hälfte von ihnen verbesserte sich auch der Grad der Neuropathie [22]. Eine randomisierte, doppelblinde, placebokontrollierte Phase II-Studie untersucht derzeit die Wirkung von Duloxetin in einem Crossover-Design [23], Ergebnisse sind noch nicht verfügbar.
Auch Duloxetin kann, wie Opioide, zu Schläfrigkeit und Verwirrtheit führen. Außerdem muss das unter NSAR und SNRI erhöhte Blutungsrisiko im Blick behalten werden. Die Forta-Liste bewertet Duloxetin mit „C“, die Beers-Liste 2019 [28] weist auf die notwendige Berücksichtigung der Nierenfunktion hin, die hier aber momentan keinen Grund zur Besorgnis gibt. Falls auch Duloxetin Herrn E. in seiner Lebensqualität und insbesondere beim Komponieren einschränkt und der mögliche Nutzen dies nicht aufwiegt, müsste es wieder abgesetzt werden. Dies würde schrittweise über mindestens zwei Wochen erfolgen müssen, um das Risiko z. B. von Krampfanfällen zu vermeiden.
→ In der Therapie von Tumorschmerzen wird vorrangig der Wille des Patienten und seine subjektive Beurteilung des Nutzens gegenüber der Verträglichkeit berücksichtigt.
6. Depressive Verstimmung: Die S3-Leitlinie „Palliativmedizin“ rät bei leichten depressiven Episoden zu einer aktiv-abwartenden Begleitung und nur unter besonders kritischer Abwägung von Nutzen und Risiko zu einer medikamentösen antidepressiven Therapie. Bei Herrn E. ist sie demzufolge noch nicht unbedingt angezeigt. Jedoch könnte sich Duloxetin aus mehreren Gründen als positiv erweisen, nicht nur wegen seiner antidepressiven Wirkung, sondern auch zur Verminderung der neuropathischen Knochenschmerzen und eventuell zur Verbesserung der peripheren Neuropathie. Herr E. sollte unabhängig von diesen Erwägungen darüber informiert werden, dass er etwaigen Empfehlungen, seine Stimmung mit Johanniskraut zu heben, nicht folgen darf. Die Induktion von CYP3A4 würde die Clearance von Erlotinib erhöhen und die Wirkung gefährden.
→ Grundsätzlich werden vier Behandlungsstrategien für die antidepressive Therapie beschrieben, je nach Schweregrad: aktiv-abwartende Begleitung, (verhaltenstherapeutische) Psychotherapie, Pharmakotherapie und Kombinationen davon [4].
Intervention
→ Vorschläge mit dem besten Nutzen-Risiko-Verhältnis einbringen
→ Therapieverantwortung übernehmen
– Kooperieren –
Fazit und Plan
Die Prioritätenreihenfolge gibt der Patient vor – sie kann sich im Laufe der Zeit immer wieder ändern. Die höchste Priorität hat bei diesem Patienten die Anpassung der Schmerztherapie an seine Lebensumstände. Um sein Lebenswerk zu vollenden, braucht er einen wachen Geist und Konzentrationsfähigkeit und ist bereit, eher Schmerzen zu ertragen als auf die benötigten Fähigkeiten zu verzichten. Das Dihydrocodein wird folglich abgesetzt, und es wird ein Therapieversuch mit Duloxetin unternommen, das eventuell mehrere günstige Wirkungen hat.
Zweithöchste Priorität hat die Kontrolle der dermatologischen Nebenwirkung des Erlotinibs, ebenfalls an den Fingern. Der Patient wird nochmals auf die Wichtigkeit der Schutz- und Pflegemaßnahmen hingewiesen. Zusätzlich wird off label ein Versuch mit 0,5%igem Timolol-Hydroxyethylcellulosegel (nach NRF) unter Okklusion unternommen, das zweimal täglich angewandt wird. Grundlage hierfür sind mehrere kleine Studien, die für diese wenig invasive Therapie gute Erfolge bei guter Verträglichkeit gezeigt haben [16 – 18]. Warum topische Betablocker in dieser Situation helfen können, ist noch nicht bekannt.
Die Abstände zwischen der Erlotinib-Einnahme und Mahlzeiten sowie Antazida werden erläutert. Außerdem werden für den Patienten mithilfe der Oralia-Datenbank der Deutschen Gesellschaft für Onkologische Pharmazie (DGOP e. V.) [25] ein Einnahmeplan und ein Informationsblatt für das Erlotinib erstellt und ebenfalls erläutert. Eine Beratung zur Raucherentwöhnung kann unaufdringlich angeboten werden. Falls der Patient sie annimmt, wird er über die Bedeutung und die Möglichkeiten der Unterstützung informiert.
Die Tumortherapie bleibt unverändert. Sollte sich die Progression beschleunigen, kann ein Wechsel auf Osimertinib erfolgen.
Wirkstoff
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Stärke
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Dosierung
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Evaluation
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Kommentar
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Absetzen:
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Dihydrocodein
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100 mg
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1-0-1-0
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Entwicklung der Schmerzen (visuelle Analogskala, VAS)
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Änderung entspricht dem Wunsch des Patienten
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Gabe von (sortiert nach Einnahmezeitpunkten):
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Erlotinib
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150 mg
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1-0-0-0
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Alendronat
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10 mg
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1-0-0-0
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Duloxetin
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30 mg
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Entwicklung der Schmerzen (VAS), Verträglichkeit
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neu, nach einer Woche auf 60 mg/Tag steigern
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Ibuprofen
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800 mg
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1-0-1-0
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Blutdruck, Serumkreatinin
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Magaldrat
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800 mg
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bei Bedarf
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Einnahmeabstand zu Erlotinib
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Timolol-Hydroxyethylcellulosegel
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0,5%
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1-0-1-0
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Veränderung der Paronychien
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neu, topische Therapie unter Okklusion
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Evaluation
→ Interventionsergebnis erfragen
→ Entwicklung der Hauptbeschwerden beurteilen
→ Status der ABP beurteilen
– Bewerten –
Nach der Umstellung der Schmerztherapie sollte die Entwicklung mithilfe einer visuellen Analogskala (VAS) systematisch erfasst und das Verhältnis von Nutzen und Verträglichkeit regelmäßig neu bewertet werden. Aktuell zeigt sich der Patient zufrieden: die Schmerzen haben ein erträgliches Maß, und die Komposition geht voran. Falls die Schmerzen stärker werden und die Oper eines Tages fertiggestellt ist, könnte sich die Bewertung einer Opioid-Therapie wieder ändern. Für eine tägliche orientierende Bewertung kann der Erlotinib-Einnahmeplan verwendet werden, der ebenfalls eine visuelle Skala zur Dokumentation der Befindlichkeit durch den Patienten enthält (s. Abb. 2), auch wenn diese ursprünglich für Nebenwirkungen gedacht ist. Ferner sollte dokumentiert werden – auch das ist auf dem Einnahmeplan möglich – ob sich die Paronychien unter konsequenten Schutz- und Pflegemaßnahmen sowie durch das Timolol bessern.
Wegen der dauerhaften Ibuprofen-Einnahme sollten regelmäßig Blutdruck und Nierenfunktion überprüft werden. Die Nierenfunktion ist zudem für die Dosierung von Duloxetin wichtig, und sollte die Kreatininclearance unter 35 ml/min sinken, wäre Alendronat wegen fehlender Erfahrungen nicht mehr empfohlen. In dem Fall könnte auf Denosumab gewechselt werden.
Praxistransfer
Was Sie gleich tun können, um das Gelesene anzuwenden:
- Machen Sie sich, wenn ein Patient ein Rezept für einen Tyrosinkinase-Inhibitor einlöst, mit den Einnahmehinweisen vertraut, während die Bestellung läuft. Bei der Abholung können Sie dann die Einnahme erläutern.
- Fragen Sie bei der Einlösung von Rezepten für orale Tumortherapeutika immer nach weiteren Arzneimitteln, die der Patient einnimmt, und führen Sie einen Interaktions-Check durch.
- Erklären Sie dem Patienten, warum es wichtig ist, dass in der Apotheke und bei allen Ärzten die vollständigen Informationen darüber vorliegen, welche Arzneimittel eingenommen werden.
Diskussion
In der Medikationsanalyse wurden verschiedene Perspektiven einbezogen, um die denkbaren Interventionen zu priorisieren und festzulegen. Im Fokus steht in diesem Fall die Bedeutung der Präferenzen des Patienten. Laut einer systematischen Übersichtsarbeit messen Patienten mit Lungenkrebs der Lebensverlängerung meist mehr Gewicht bei als der Lebensqualität oder den Nebenwirkungen, mit Ausnahme von Übelkeit und Erbrechen, die als übermäßig belastend empfunden werden. Andere unerwünschte Wirkungen werden sehr unterschiedlich bewertet [24]. Im vorliegenden Fall sind die Prioritäten allerdings andere. In der onkologischen Therapie gäbe es Schemata, die von den Leitlinien hinsichtlich der Lebensverlängerung als wirksamer eingestuft werden als diejenigen, die in diesem Fall eingesetzt werden. Auch in der Schmerztherapie wird auf die wirksamsten Optionen verzichtet. Die größere Wirksamkeit müsste jeweils durch Nebenwirkungen erkauft werden, die nicht nur potenziell auftreten könnten, sondern die der Patient mit der Neuropathie der Finger unter Platin-Derivaten und der kognitiven Beeinträchtigung durch das Opioid Dihydrocodein bereits erfahren hat. Besonders in der Onkologie, aber nicht nur dort, fällt die Entscheidung zwischen mehreren Strategien mit vergleichbarem Nutzen sehr häufig auf der Grundlage des Nebenwirkungsprofils. Der vorliegende Fall zeigt exemplarisch die Prinzipien der Abwägung zwischen therapeutischen und unerwünschten Wirkungen unterschiedlicher Therapiestrategien sowie die Rolle des Patienten in der Entscheidungsfindung. Er unterstreicht auch die stete Veränderlichkeit der Gewichtung des Verhältnisses zwischen Wirksamkeit und Verträglichkeit. |
Interessenkonflikte
Innerhalb der letzten drei Jahre erhielten die Autoren von folgenden Firmen und Institutionen Zuwendungen, inkl. Honorare, Übernachtungs- und Reisekostenerstattung:
Dorothee Dartsch: Takeda Pharma Vertrieb GmbH
Olaf Rose: AbbVie, Novartis, Omnicell
Frank Gieseler: –
Disclaimer
Die Behandlungsvorschläge der Patienten im Rahmen des Medikationsmanagements geben die persönliche Meinung der Autoren wieder. Sie beruhen auf einer sorgfältig vorgenommenen Analyse und Praxis-Bedingungen. Insofern sind sowohl alternative Ansätze und Ergebnisse vorstellbar als auch Abweichungen von der Zulassung oder Fachinformation möglich. Die Kasuistiken beruhen teils auf tatsächlichen Gegebenheiten, teils auf Ergänzungen und Fiktion. Ihren Pharmakovigilanz-Verpflichtungen sind die Autoren nach eigenem Ermessen und nach eigener Bewertung nachgekommen.
Literatur
[1] Griesinger F, Eberhardt W, Früh M, Gautschi O, Hilbe W, Hoffmann H et al. Lungenkarzinom, nicht-kleinzellig (NSCLC). Stand Oktober 2019, www.onkopedia.com/de/onkopedia/guidelines/lungenkarzinom-nicht-kleinzellig-nsclc/@@guideline/html/index.html
[2] Prävention, Diagnostik, Therapie und Nachsorge des Lungenkarzinoms. Leitlinienprogramm Onkologie, AWMF-Registernummer: 020/007OL, Langversion 1.0, 2018
[3] Non-Small Cell Lung Cancer. National Comprehensive Cancer Network, Version 4.2021
[4] Palliativmedizin für Patienten mit einer nicht-heilbaren Krebserkrankung. Leitlinienprogramm Onkologie, AWMF-Registernummer: 128/001OL, Langversion 2.2, 2020
[5] Adult Cancer Pain. National Comprehensive Cancer Network, Version 1.2021
[6] Tumorschmerz: Kommentarfassung zur Version 3.0, Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin, Deutsche Schmerzliga 2021
[7] Smoking Cessation. National Comprehensive Cancer Network, Version 1.2021
[8] Salloch S, Otte IC, Reinacher-Schick A, Vollmann J. Ärztliche Perspektiven auf die Bedeutung von Patientenpräferenzen und die Rolle Angehöriger bei der evidenzbasierten Entscheidungsfindung – eine qualitative Interviewstudie aus der Onkologie. Z Evid Fortbild Qual Gesundhwes 2018;131-132:46–52, doi:10.1016/j.zefq.2018.02.002
[9] Gieseler F, Heidenreich A, Schubert J, Frielitz F, Rehmann-Sutter C, Wörler F et al. The role of family confidants and caregivers in the care of older cancer patients: extending the concept of „shared decision making”. Health Science Reports 2021 (Manuskript angenommen)
[10] Pirker R. Adjuvant chemotherapy in patients with completely resected non-small cell lung cancer. Transl Lung Cancer Res 2014;3:305–310, doi:10.3978/j.issn.2218-6751.2014.09.13
[11] Santos FN, Castria TB de, Cruz MRS, Riera R. Chemotherapy for advanced non-small cell lung cancer in the elderly population. Cochrane Database Syst Rev 2015:CD010463, doi:10.1002/14651858.CD010463.pub2
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[24] Schmidt K, Damm K, Prenzler A, Golpon H, Welte T. Preferences of lung cancer patients for treatment and decision-making: a systematic literature review. Eur J Cancer Care 2016;25:580–591, doi:10.1111/ecc.12425
[25] Oralia-Datenbank der Deutschen Gesellschaft für Onkologische Pharmazie (DGOP e.V.), www.esop-oralia.eu
[26] Forta-Liste (Fit fOR The Aged), Medizinische Fakultät Mannheim der Universität Heidelberg, www.umm.uni-heidelberg.de/klinische-pharmakologie/forschung/forta-projekt-deutsch/
[27] Holt S, Schmiedl S, Thürmann PA. Priscus-Liste potenziell inadäquater Medikation für ältere Menschen (Priscus-Liste), https://media.gelbe-liste.de/documents/priscus-liste.pdf
[28] American Geriatrics Society 2019 Updated AGS Beers Criteria® for Potentially Inappropriate Medication Use in Older Adults. American Geriatrics Society Beers Criteria® Update Expert Panel. J Am Geriatr Soc 2019;67(4):674-694. doi: 10.1111/jgs.15767