Proteste in Thüringen

„Die Politik muss endlich wirksame Maßnahmen veranlassen“

Erfurt - 02.11.2023, 12:15 Uhr

Hunderte Apotheker, Ärzte, Zahnärzte, Psychotherapeuten und weitere Angehörige von Gesundheitsberufen bringen vor dem Thüringer Landtag ihren Unmut über die Gesundheitspolitik auf die Straße. (Foto: A. Köhler)

Hunderte Apotheker, Ärzte, Zahnärzte, Psychotherapeuten und weitere Angehörige von Gesundheitsberufen bringen vor dem Thüringer Landtag ihren Unmut über die Gesundheitspolitik auf die Straße. (Foto: A. Köhler)


Hunderte Apotheker, Ärzte, Zahnärzte, Psychotherapeuten und Angehörige von Gesundheitsberufen haben am Mittwoch vor dem Landtag in Erfurt demonstriert. Ihre Forderungen an die Regierenden in Bund und Land sind deutlich: mehr Geld, mehr Ausbildung, weniger Bürokratie, keine Lieferengpässe – und ein Ende von Gesetzen, die allein aufs Sparen abzielen. Landtagsabgeordnete versuchten sich in Antworten und gaben das eine oder andere Versprechen ab. 

Vertreter der Heilberufe und ihre Teams fordern erneut ein sofortiges Umdenken der Politik. Anderenfalls sei die Zukunft der ambulanten Versorgung in Thüringen akut bedroht, heißt es in einer Pressemitteilung des Thüringer Bündnisses #Gesundheitskollaps. Das Bündnis ist eine Initiative von Apothekern, Ärzten, Zahnärzten, Psychotherapeuten und Medizinischen Fachangestellten im Freistaat. Sie alle haben auch in diesem Herbst zu Protesten aufgerufen. Vor Ort in Erfurt ist es am Mittwoch beinahe das gleiche Bild wie im Dezember 2022: hunderte Apotheker, Ärzte, Zahnärzte, Psychotherapeuten und Angehörige von Gesundheitsberufen bringen vor dem Thüringer Landtag ihren Unmut über die Gesundheitspolitik auf die Straße. Lautstark fordern die Protestler – den Angaben zufolge waren es dieses Mal mehr als 800 – Antworten auf die Frage, wie es mit der Versorgung weitergehen soll. Auf dem Podium, wie im vergangenen Jahr, Landtagsabgeordnete aller Parteien, Thüringens Gesundheitsministerin Heike Werner (Linke) und Vertreter der Selbstverwaltung, die die Probleme der anwesenden Masse verbal bündeln.

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Unter ihnen ist Ronald Schreiber, Präsident der Landesapothekerkammer Thüringen. Er macht in Erfurt die Lieferengpässe bei lebensnotwendigen Arzneimitteln zum Thema. Diese seien „in ganz unterschiedlichen Indikationsgruppen nach wie vor besorgniserregend“ und würden sich verschärfen. Die Politik müsse „endlich wirksame Maßnahmen veranlassen, um diesem Notstand entgegenzutreten“. Erschwert werde das Management der Lieferengpässe durch den Personalmangel in den Apotheken. „Dieser trägt neben der massiven staatlichen Unterfinanzierung der öffentlichen Apotheken erheblich zu einem fortschreitenden Apothekensterben in Deutschland bei.“ Die Apotheker fordern daher eine deutliche Erhöhung der Studienplatzkapazitäten an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und der Ausbildungskapazitäten für Pharmazeutisch-technische Assistenten, so Schreiber.

Für die niedergelassenen Ärzte spricht am Mittwoch Ulf Zitterbart, Vorsitzender des Thüringer Hausärzteverbandes. „In Gera und Umgebung erleben wir bereits jetzt, wie Menschen verzweifelt nach ärztlichem Beistand suchen. 14 fehlende Ärzt:innen bedeuten dort für etwa 22.400 Menschen, keinen Anlaufpunkt für akute und chronische Beschwerden im hausärztlichen Bereich zu haben.“ Wo sonst Hilfe geleistet werde, gebe es nun Notversorgung, rettungsdienstliche Einsätze oder Zuweisung in überfüllte Krankenhäuser. Auch HNO-Ärztin Denise Lundershausen hat Forderungen im Gepäck: funktionierende Digitalisierung, mehr Respekt und Wertschätzung für die Arbeit der Gesundheitsberufe – und mehr Gesundheitskompetenz und -Bildung in der Bevölkerung.

Neu auf der Bühne ist Hannelore König, Vorsitzende des Verbands medizinischer Fachberufe (VMF) und in besonderem Maße erwähnenswert, weil sie offenbar unermüdlich für die Belange von Angehörigen der Gesundheitsberufe kämpft. Jedes Mal, wenn König irgendwo auftaucht, wird sie hinter den Kulissen gefragt, was aus den hunderten Protestbriefen von Medizinischen Fachangestellten (MFA) geworden ist, die sie in den vergangenen beiden Jahren ins Bundesgesundheitsministerium getragen hat. Und jedes Mal antwortet sie: „Nichts. Wir haben einfach keine Antwort bekommen.“ Deshalb will König nun neue (Protest) Wege gehen. „Wir suchen den Schulterschluss mit anderen“, erklärt sie ihre Teilnahme in Erfurt auf Nachfrage der DAZ.  

Angestellte und Arbeitgeber Seite an Seite

Auf der Bühne zeigt sie sich kämpferisch: „Wir stehen Seite an Seite mit unseren Arbeitgebern gegen die Gesundheitspolitik.“ König beklagt Spargesetze, immer mehr Bürokratie und eine nicht funktionierende Digitalisierung. „Das kann so nicht weiter- und den Bach runtergehen, es muss sich was ändern, vor allem im ländlichen Raum.“ Dramatisch sei zudem, dass knapp 40 Prozent der MFA über den Ausstieg aus dem Beruf nachdenken, oftmals, weil sie unzufrieden mit dem Gehalt sind. „Wen wundert´s? Mich nicht!“, so König. „Eine Sozialversicherungsfachangestellte bekommt 4.100 Euro. Das sind 90 Prozent mehr als eine ZFA. Ich frage mich, warum Angehörige gesundheitsverwaltender Berufe so viel mehr verdienen als jene, die in der Versorgung und mit den Patienten arbeiten.“

An die Landtagsabgeordneten appelliert König, sich nicht „wegzuducken“, vor allem dann nicht, wenn in Berlin neue Spargesetze auf den Weg gebracht werden sollen. „Die ambulante Versorgung mit mehr als 680.000 Beschäftigen in den Apotheken, Arzt- und Zahnarztpraxen, 14.000 davon allein in Thüringen, wird von den politisch Verantwortlichen nicht wahrgenommen, weil sie immer funktioniert hat.“ Jetzt habe sich die Situation geändert: „Der Fachkräftemangel ist deutlich spürbar, die Belastung der Beschäftigten und die chronische Unterfinanzierung des Sektors haben ihre Grenzen erreicht.“ Dabei gehe es nicht um Almosen, sondern „um eine gerechte Entlohnung großartiger Leistungen“, so König.

Anja Köhler
Mehr als 800 Angehörige von Gesundheitsberufen haben sich an den Protesten vor dem Thüringer Landtag beteiligt - darunter viele Apotheker:innen.

Auch Knut Karst, Vorsitzender der Kassenzahnärztlichen Vereinigung Thüringens, sieht die Versorgung gefährdet. Im Freistaat schieden jährlich bis zu 100 Zahnärzte aus, nur knapp die Hälfte finde Nachfolger. Langfristig gebe es Versorgungsprobleme nicht allein in ländlichen Regionen, „das Praxissterben wird auch in den Städten ankommen“, so Karst. Er fordert vor diesem Hintergrund mehr Studienplätze für Zahnmedizin, und ein Umdenken in Sachen Finanzierung. Bereits 2021 seien bei der Behandlung von Parodontitis neue Leistungen ins System gekommen und von den Zahnärzten erbracht worden. „Auf die versprochene Finanzierung warten wir bis heute“, sagt Karst. Lauterbach habe, entgegen den Zusagen seines Amtsvorgängers Spahn, die Leistungen unters Budget gestellt und bekommt „ein Vier-Gänge-Menü zum Preis eines Drei-Gänge-Menüs“.

„Nehmen Sie endlich unsere Probleme ernst“

Unterdessen erklärt Dr. Sabine Köhler, Vorsitzende der Gemeinschaft Gebietsärztliche Berufsverbände Thüringen: „Vor einem Jahr haben wir schon einmal die Sorgen und Nöte der Ärzte, Zahnärzte, Psychotherapeuten und Apotheker vor den Thüringer Landtag gebracht. Getan hat sich seitdem nichts. Während wir weiter auf die neue Niederlassungsförderung des Landes warten, verschärfen sich die Versorgungsprobleme. Das Sterben von Apotheken und Praxen nimmt zu. Nehmen Sie endlich unsere Probleme ernst.“

Fachberatung in der Apotheke vor Ort muss sein

Und was sagt die Politik? Landesgesundheitsministerin Heike Werner (Linke) erklärt, Budgetierung und Bedarfsplanung müssten in ihrer jetzigen Form vom Tisch. „Jede erbrachte Leistung muss bezahlt werden.“ Auch die Abschaffung der Neupatientenregelung sei falsch gewesen, „denn sie bedeutet, dass sich die Versorgung der Patienten verschlechtert. Und den Frust müssen Sie (Ärzte und MFA, Anm.) aushalten.“ Hier müsse eine neue Regelung her. Auch bei den Apotheken will Werner langfristig eine gute Versorgung und alles andere als reinen Onlinehandel. „Das ist nicht meine Vorstellung, denn wir brauchen die Fachberatung vor Ort.“ Werner will demnach eine weitere Regulierung, „auch wenn wir das Schlimmste vorerst abwenden konnten.“ In Sachen Finanzierung des Gesundheitswesens müsse eine solidarische Bürgerversicherung das langfristige Ziel sein, in die alle einzahlen, so die Ministerin.

SPD-Politikerin Carolin Klisch, selbst Ärztin, will eine Brücke bauen zwischen der Gesundheitsversorgung auf der einen und der Politik auf der anderen Seite. „Wir sind fachlich die beste Lösung. Dafür werde ich mich mit aller Kraft einsetzen.“ Ihren Parteikollegen Karl Lauterbach habe Klisch zu Gesprächen eingeladen, er wolle demnach im Januar nach Thüringen reisen. 

Billig-Apothekenfilialen sind der falsche Weg

Der CDU-Landtagsabgeordnete Voigt will Thüringen indes zum 20-Minuten-Land machen. „20 Minuten bis zum Arzt, zum Zahnarzt und zur nächsten Apotheke.“ Gelingen soll das durch mehr Ausbildung und durch die Dynamisierung bei den Vergütungen, „denn mehr arbeiten für weniger Geld, dafür würde niemand aufstehen.“ Die Idee der Billigfilialen bei den Apotheken sei der falsche Weg, „das geht an den Patienten vorbei“, so Voigt. Insgesamt sei in der ambulanten Versorgung „Alarmstufe rot“ erreicht. Nun müsse es darum gehen, einen Kollaps zu vermeiden.

Laut Robert Martin Montag von der FDP hat die Politik die Schieflagen im System, etwa im stationären Bereich, erkannt und verstanden. Sie ducke sich bei der Lösung der Probleme allerdings noch weg. „Mir fällt es nicht leicht, zu Ihnen zu sprechen“, sagt Montag angesichts der Kritik an der Ampelregierung in Berlin. „Trotzdem möchte ich Sie ermutigen, weiter laut zu sein, auch wenn einiges bereits auf den Weg gebracht werden konnte, etwa die höhere Zahl an Medizinstudienplätzen.“ Das müsse nun auch für die Zahnmedizin und die Pharmazie gelingen. 

Grüne: Über Honoraranpassung reden

Für die Grünen ist am Mittwoch Babette Pfefferlein vor Ort. Sie betont die „große Bedeutung“ des ambulanten Sektors und mahnt eine gerechtere Verteilung der Finanzen an, „das Geld darf nicht allein in die Kliniken fließen“. Auch für die Apotheken müsse man über eine Honoraranpassung reden, „denn Medikamente nur im Internet zu bestellen – das ist nicht die Lösung“, so die Grünen-Abgeordnete. 

Nach Auffassung von Wolfgang Lauerwald, Arzt im Ruhestand und für die AfD im Landtag, ist die Bundesregierung „taub und blind“, im Bundesrat gebe es zu wenig Druck. Ohnehin sei seine Partei die einzige, die sich für die Entbudgetierung starkmache.


Anja Köhler, Freie Journalistin
redaktion@daz.online


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