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Arzneimittel und Therapie
Hämatologie: Tretinoin bei akuter Promyelozytenleukämie
Tretinoin (Vitamin-A-Säure, All-trans-Retinsäure) führt zur Ausreifung der leukämischen Promyelozyten, und zwar vermutlich durch den Abbau des Fusionsproteins in den leukämischen Zellen. In Phase-II-Studien erzielte Tretinoin bei rund 90% der Patienten mit akuter Promyelozytenleukämie Vollremissionen. Mit klassischen Anthracyclin-Cytarabin-Chemotherapieregimen erreichen 65 bis 80% der Patienten Vollremissionen, allerdings sterben vor oder während der Chemotherapie 10 bis 20% an Blutungen, da die akute Promyelozytenleukämie oft mit Gerinnungsstörungen einhergeht. Im Gegensatz zu Zytostatika verbessert Tretinoin die Gerinnungsstörungen und führt auch nicht zur Knochenmarkaplasie. Allerdings sind die Remissionen unter Tretinoin nur kurz; praktisch alle Patienten erleiden ein Rezidiv, wenn sie nicht mit Zytostatika weiterbehandelt werden. Außerdem tritt bei etwa jedem vierten mit Tretinoin Behandelten eine spezifische Nebenwirkung auf, das sog. Retinoic acid syndrome, das tödlich sein kann. Die Betroffenen haben Fieber, Atemnot, Ergüsse in Brustfell und Herzbeutel und Hypotonie und meist eine starke Vermehrung der Leukozyten (Hyperleukozytose).
Unklar ist, ob eine Induktionstherapie mit Tretinoin, gefolgt von einer Chemotherapie, der alleinigen Chemotherapie überlegen ist. Außerdem weiß man nicht, ob eine Erhaltungstherapie mit Tretinoin das Ergebnis verbessert.
Diesen Fragen wurde in einer randomisierten Vergleichsstudie nachgegangen. 401 – mit Ausnahme von Hydroxycarbamid – unbehandelte Patienten mit akuter Promyelozytenleukämie nahmen teil; in die Intention-to-treat-Analyse des Überlebens gingen die Daten von 378 Patienten ein; in allen übrigen Analysen wurden 346 Patienten berücksichtigt.
Die Studienteilnehmer erhielten randomisiert eine Induktionstherapie aus oralem Tretinoin täglich (45 mg pro m2 Körperoberfläche) oder eine Kombination aus Daunorubicin und Cytarabin intravenös. Patienten mit einer Vollremission bekamen dann eine Konsolidierungstherapie aus zwei Behandlungszyklen. Der erste Zyklus war identisch mit der Induktionstherapie und der zweite bestand bei allen Patienten aus Daunorubicin und hochdosiertem Cytarabin. Patienten, die danach immer noch in Vollremission waren, wurden randomisiert einer Beobachtungsgruppe oder einer einjährigen Tretinoin-Erhaltungstherapie zugeordnet.
Von 174 Patienten mit der Chemotherapie als Induktionstherapie hatten 120 (69%) eine Vollremission, von 172 mit Tretinoin waren es 124 (72%). 43 Patienten verstarben während der ersten 28 Behandlungstage, davon 24 (14%) mit Chemotherapie und 19 (11%) mit Tretinoin. Die Sterblichkeit während der Induktionstherapie war also vergleichbar. Schwere Blutungen traten in beiden Gruppen gleich häufig auf, schwere Infektionen waren mit Tretinoin seltener. Toxische Wirkungen auf die Lunge traten dagegen mit dem Retinoid häufiger auf (bei 21 gegenüber 6%). 26% der mit Tretinoin Behandelten litten am sog. Retinoic acid syndrome. Bei 43 Patienten wurde es erfolgreich mit Dexamethason behandelt, zwei Patienten starben daran. Hyperleukozytosen wurden mit Hydroxycarbamid behandelt. Von den 244 Patienten in Vollremission erhielten 15 einen und 229 beide Zyklen der Konsolidierungstherapie. In der Erhaltungsphase bekamen 94 Patienten Tretinoin, 105 wurden nur nachbeobachtet. 64 Patienten (68%) nahmen Tretinoin ein Jahr lang ein.
Ergebnisse
Von 48 Patienten, die als Induktionstherapie eine Chemotherapie und als Erhaltungstherapie Tretinoin bekamen, erlitten 19 ein Rezidiv. Von 54 Patienten, die als Induktionstherapie Tretinoin und keine Erhaltungstherapie erhielten, erlitten 21 ein Rezidiv. Mit Tretinoin als Induktions- und Erhaltungstherapie waren es 10 von 46 Patienten. Dagegen bekamen von den 51 Patienten, die überhaupt kein Tretinoin, sondern nur eine Chemotherapie als Induktionstherapie erhielten, 39 ein Rezidiv. Die Rezidivraten waren also in allen Gruppen mit Tretinoin kleiner als in der Gruppe ohne Tretinoin.
Die krankheitsfreie Überlebensrate wurde für ein, zwei und drei Jahre nach Beginn der Vollremission geschätzt. Sie betrug:
• für eine initiale Chemotherapie und eine Tretinoin-Erhaltungstherapie 77, 61 und 55%,
• für eine initiale Tretinoin-Therapie ohne Erhaltungstherapie 75, 60 und 60%,
• für eine initiale Tretinoin-Therapie und eine Tretinoin-Erhaltungstherapie 86, 75 und 75%,
• für eine initale Chemotherapie ohne Erhaltungstherapie 29, 18 und 18%.
Eine Intention-to-treat-Analyse ergab, daß von den Patienten, die zu Beginn eine Chemotherapie erhielten, nach einem Jahr noch 75%, nach zwei Jahren noch 57% und nach drei Jahren noch 50% lebten. Mit Tretinoin waren es 82, 72 und 67%.
Demnach verlängert Tretinoin bei Patienten mit bislang unbehandelter akuter Promyelozytenleukämie das krankheitsfreie Überleben und das Gesamtüberleben im Vergleich zur alleinigen Chemotherapie. Tretinoin als Induktionstherapie (gefolgt von einer Chemotherapie als Konsolidierungstherapie) verbessert die Überlebenschancen, indem es die Rezidivrate verringert; die Rate der Vollremissionen und die Frühsterblichkeit bleiben dagegen im wesentlichen unverändert. Die Autoren empfehlen Tretinoin als Induktionstherapie für alle Patienten mit akuter Promyelozytenleukämie. Möglicherweise erzielt die gleichzeitige Gabe von Tretinoin und Chemotherapie als Induktionstherapie noch bessere Ergebnisse.
Ob eine zusätzliche Tretinoin-Erhaltungstherapie von Vorteil ist, geht aus dieser Studie nicht eindeutig hervor.
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