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Kommentar
Vorschaltgesetz: Superschwester Ulla und das Erste-Hilfe-Sparpaket
Die politische Debatte startete am 29. Oktober mit der Regierungserklärung des Bundeskanzlers Gerhard Schröder. Hierin widmete er sich auch kurz der Notwendigkeit von Reformen im Gesundheitswesen: Der medizinische Fortschritt und die gestiegene Lebenserwartung haben die Gesellschaft zwar "erfreulich verändert" – doch die Funktionsfähigkeit der Solidargemeinschaften sei bedroht, weil infolge der demographischen Entwicklung immer weniger Menschen Beiträge zahlen und immer mehr Menschen Leistungen beanspruchen. Die Bundesregierung setze alles daran, das hohe Niveau der medizinischen Versorgung zu sichern und für jeden zugänglich zu halten, so der Kanzler. Aber hierzu sei es nötig, Strukturen zu verändern, die Systeme zu öffnen und die im hohen Maße vorhandenen Effizienzreserven zu mobilisieren. Schröder: "Wir wollen keine Zwei-Klassen-Medizin. Was wir brauchen, sind mehr Verantwortung und mehr Wettbewerb im System".
Schmidt: Vorschaltgesetz schafft Luft
Der Regierungserklärung folgte eine dreitägige Debatte im Bundestag. Am 31. Oktober war das Thema Gesundheitspolitik und soziale Sicherung an der Reihe. Schmidt machte den Anfang – viel Neues hatte sie nicht zu berichten: Ihr Ziel sei es, den Sozialstaat für die Zukunft zu sichern. Es gelte, "mehr Effizienz in die manchmal auch schwerfälligen Systeme zu bringen". Angesichts der Probleme auf der Einnahmenseite bekräftigte Schmidt die bereits laut gewordene Forderung, eine Kommission einzusetzen, die Reformvorschläge unterbreiten soll. Neben kurzfristigen Maßnahmen sollen strukturelle Veränderungen vorgenommen werden. Hier müsse die Leistungsseite im Mittelpunkt stehen. So solle von den Krankenkassen nur das gezahlt werden, was nachgewiesenermaßen nutze, Krankheiten zu erkennen und zu bekämpfen oder Schmerzen zu lindern. Die Kassen müssten dabei Qualität zur Voraussetzung von Verträgen machen – nicht Gewohnheitsrecht. Schmidt erklärte, sie akzeptiere, dass hochwertige medizinische Leistung ihren Preis habe, doch diese Leistung müsse ihren Preis auch wert sein. Die Regierung werde daher den Rahmen für einen Wettbewerb um die beste Versorgungsqualität schaffen, der alle im Gesundheitswesen Tätigen ansporne. Einige wenige Worte hatte die Ministerin auch für das anstehende Vorschaltgesetz übrig: Es sei nötig, um "Luft" für die notwendigen Strukturreformen umzusetzen. Sie betonte, dass das Gesetz zwar von allen Leistungserbringern einen Sparbeitrag erfordere, aber keine notwendigen Behandlungen und Strukturmaßnahmen blockiere. Es sei das erste Mal, dass Sparpotenziale erschlossen würden, ohne den Versicherten medizinisch notwendige Leistungen zu kürzen oder sie durch Zuzahlungen zu belasten.
Seehofer: "schamloses Verfahren"
Als nächster Redner folgte Schmidts Kontrahent Horst Seehofer (CSU). Er warf der Ministerin vor, sie speise das Parlament mit "nichtssagenden Allgemeinplätzen" ab – und das obwohl sich die "Sozialversicherung in die größte Krise seit ihrem Bestehen" befinde. Grund sei allein das "Unvermögen der Bundesregierung". Vor der Wahl habe die Ministerin noch behauptet, das Finanzdefizit der Krankenkassen werde sich bis zum Jahresende ausgleichen – nun erkenne auch sie, dass dies nicht möglich sein wird. Deshalb solle nun in einem "schamlosen Verfahren" ein Gesetz durchgebracht werden, das Milliarden einsparen soll. Dabei sei die Regierung selbst Schuld: Die ersatzlose Abschaffung der Arzneimittelbudgets habe zu einer "politisch indizierten Arzneimittelexplosion" geführt, die zusätzliche Bürokratie habe die Verwaltungskosten der Krankenkassen ansteigen lassen.
Seehofers Reformansätze: Mehr Transparenz, mehr Wettbewerb durch Dezentralisierung, mehr Mitsprache und -gestaltung der Versicherten im Rahmen der Sozialversicherung. Die neue gesundheitspolitische Sprecherin der Grünen Birgitt Bender, die vergangene Woche ihre erste Rede im Bundestag hielt, konterte resolut: Seehofer habe sich darauf beschränkt, zu kritisieren, ohne Reformalternativen aufzuzeigen. Allerdings habe er Vorschläge unterbreitet, die im rot-grünen Koalitionsvertrag stünden, so etwa die Einführung einer Patientenquittung. Bender räumte ein, das Vorschaltgesetz stamme aus dem "Werkzeugkasten der Notmaßnahmen". Es bestehe zwar noch Beratungsbedarf, doch das Sparpaket werde dafür sorgen, dass die Regierung den Rücken für Strukturreformen frei bekomme. Damit, dass nun der "Aufschrei der Lobbyistengruppen" einsetze, könne man leben, so die grüne Sprecherin weiter, auch damit, dass sich die Opposition an die Spitze dieser Gruppe setzen werde. Bender kündigte zudem mehr Vertragsfreiheit für Kassen und Leistungserbringer an: "Mit uns wird es keinen Naturschutz für Monopole in der Gesundheitsversorgung geben".
In der weiteren Debatte blieb es dabei, dass die Regierungsvertreter das Schmidtsche Sparpaket verteidigten und das Vorhaben einer Strukturreform bekräftigten. Die neue gesundheitspolitische Sprecherin der SPD-Fraktion Helga Kühn-Mengel machte zudem deutlich, dass die monetären Maßnahmen des Sparpakets nur für 2003 gelten sollen. Vertreter der Opposition warfen der Ministerin weiterhin Lügen und Schwäche vor. Am Wochenende nach der Bundestagsdebatte nutzte Kanzler Schröder den Sonderparteitag der nordrhein-westfälischen SPD in Essen, um Ulla Schmidt und ihrem Vorschaltgesetz den Rücken zu stärken. Das Gesetz diene kurzfristig dazu, dass die Systeme nicht vollständig aus dem Ruder liefen. Wenn das Ärgste erst unter Dach und Fach sei, könne eine "Effizienzrevolution" im Gesundheitswesen gestartet werden. Ärzte- und Apotheker-Funktionären warf der Kanzler "Gejammere" vor. Es sei ja nicht so, dass deren Honorare und Umsätze "nur unwesentlich über dem Niveau der Sozialhilfe liegen", sagte Schröder. Daher könne "man ja wohl erwarten, dass alle ihren Beitrag leisten und die notwenigen Einsparungen nicht nur auf die Patienten abgeschoben werden." Auch die Krankenkassen müssten an ihren Verwaltungskosten sparen. Vor dem nun aus eigenem "partikularen Interesse" geleisteten Widerstand werde die Regierung jedenfalls nicht kapitulieren.
Unruhe bei den Krankenkassen
Ansonsten bestimmten etwaige Beitragserhöhungen bei den gesetzlichen Krankenkassen bis zum Stichtag 7. November die Nachrichten des Wochenendes. Zahlreiche Kassenvorstände trafen sich zu Krisensitzungen. Einige der großen Kassen kamen überein, ihre Beiträge nicht zu erhöhen, so etwa die DAK und die Barmer Ersatzkasse. Eine Reihe von Betriebskrankenkassen wollte jedoch noch eiligst Anträge auf Beitragserhöhungen stellen. Die Ministerin sieht allerdings keinen Anlass zur Panik. Am 3. November erklärte sie in der ARD-Talkrunde bei Sabine Christiansen, dass eine Ausnahmeregelung Beitragserhöhungen auch bei einem grundsätzlichen Einfrieren der Beiträge ermögliche. Nämlich dann, wenn die Kasse gezwungen wäre, Kredite aufzunehmen, um ihren Zahlungsverpflichtungen nachzukommen. In der selben Fernsehsendung machte Schmidt auch deutlich, was unter der "Organisationsreform" der Krankenkassen zu verstehen ist, von der in der Koalitionsvereinbarung die Rede ist: Es gebe rund 370 gesetzliche Krankenkassen – viel zu Viele, wie die Ministerin meint, 50 täten es auch. Und so will die Regierung Fusionen erleichtern.
Nun geht das Vorschaltgesetz in den Endspurt. Am 5. November berieten die Koalitionsfraktionen abschließend über den Gesetzesentwurf, der noch bis zum Tag zuvor diskutiert wurde. Kritikpunkte der Grünen wurden dabei ausgebügelt: so etwa die Nullrunde in Krankenhäusern. Hier soll eine Ausnahmeregelung für diejenigen Kliniken gelten, die Fallpauschalen einführen. Am 7. November wurde das Gesetz in erster Lesung im Bundestag beraten. Die Anhörungen werden voraussichtlich in dieser Woche anberaumt. Und dann soll das nicht-zustimmungspflichtige Gesetz, mit dem zunächst 2,85 Mrd. Euro eingespart werden sollen, zügig verabschiedet werden. Ab dem 1. Januar heißt es dann für alle: Sparen für die gesetzliche Krankenversicherung. Vielleicht sollte man es Ulla Schmidt gleichtun: In der TV-Sendung "Beckmann" erklärte sie diese Woche, ihr nicht schwinden wollendes Lachen sei zuweilen auf eine rheinische Redensart zurückzuführen: "Willst du die Zähne zeigen, so lächle".
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