Kommentar

Kammern, hört die Signale!

Der Wind, der den nationalen Kammern der freien Berufe in Europa entgegen bläst, wird rauer. Wie rau, werden die Reaktionen der EU-Kommission auf die Luxemburger Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs zum anwaltlichen Standesrecht zeigen. Bleibt - mittelfristig gesehen - im deutschen Standesrecht der freien Berufe tatsächlich kein Stein mehr auf dem anderen, wie das "Handelsblatt", unser Zentralorgan des ökonomischen Ordo-Liberalismus, jubiliert, oder wird das Ganze - in Deutschland - nicht so heiß gegessen wie es - in der EU-Kommission - gekocht wurde?

Die deutsche Regierung hat in ihrer Stellungnahme im Rahmen der beiden Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs vehement den Standpunkt vertreten, dass die Kammern der freien Berufe der öffentlichen Gewalt zuzurechnen sind und deshalb per se keine kartell- und wettbewerbsrechtlich relevanten Unternehmensvereinigungen sein können. Es müsse den zuständigen Instanzen eines Mitgliedstaates zustehen, im Rahmen der nationalen Souveränität zu entscheiden, wie sie die Ausübung ihrer Hoheitsrechte ausgestalten wollten. Die Entscheidung des nationalen Gesetzgebers, demokratisch legitimierten Einrichtungen (wie zum Beispiel Apothekerkammern) die Befugnis zum Erlass allgemeinverbindlicher Regelungen zu übertragen, sei deshalb vom Grundsatz der "institutionellen Selbstständigkeit" gedeckt.

In dieser Allgemeinheit folgten die Luxemburger Richter den deutschen Ausführungen jedoch nicht. Nach Auffassung des Europäischen Gerichtshofs sind vielmehr zwei Regelungssysteme zu unterscheiden: Falls der Gesetzgeber eines Mitgliedstaats bei der Übertragung von Satzungsbefugnissen auf eine Kammer selbst Gemeinwohl-Kriterien aufstellt, die bei der Ausübung des freien Berufes zu beachten sind, und er somit die inhaltliche "Letztentscheidungsbefugnis" in seiner Hand behält, bleiben die berufsständischen Regelungen staatliches Recht. Die für Unternehmen und Unternehmensvereinigungen geltenden Bestimmungen des EG-Vertrages kommen dann nicht zur Anwendung. Anders ist es, wenn in den Berufsordnungen solche gemeinwohlorientierten Kriterien und Vorgaben fehlen. Dann gilt - mit allen Konsequenzen - europäisches Kartell- und Wettbewerbsrecht, da die von der zuständigen Kammer erlassenen Standesregeln allein der Berufsvertretung zuzurechnen sind.

Mit anderen Worten: Es obliegt - und dies stellt der Europäische Gerichtshof ausdrücklich fest - der Freiheit der Mitgliedstaaten, sich für das eine oder andere Modell zu entscheiden. Möglich ist beides. Bei diesen Entscheidungen ist die Politik gefordert.

Wie geht es weiter? Es wird von der Intelligenz und dem Gestaltungswillen der Gesetzgeber in den einzelnen Mitgliedstaaten abhängen, ob die Selbstverwaltung der freien Berufe in Deutschland und anderswo noch eine Zukunft hat - oder aber auf dem Brüsseler Altar entfesselter Marktfanatiker geopfert wird.

Christian Rotta

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