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- AZ 37/2006
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Koalition gibt sich mehr Zeit für die Gesundheitsreform
Bevor die Entscheidung am Mittwochabend fiel, hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel im Bundestag erklärt, die Regierung wolle sich nicht unter Zeitdruck setzen lassen. In der Generaldebatte zum Haushalt 2007 sagte sie, man werde sich die Zeit nehmen, die zur Beratung der einzelnen Reformen notwendig sei - direkten Bezug auf die Gesundheitsreform nahm sie dabei jedoch nicht. Als der Koalitionsausschuss später tagte, war man sich aber offenbar schnell einig, dass dies auch für die Umsetzung der Eckpunkte zur Gesundheitsreform gelten soll.
Unions-Fraktionschef Volker Kauder (CDU) sagte, da Millionen Menschen betroffen seien, müsse "Qualitätsarbeit" abgeliefert werden. Nun werde intensiv an dem Gesetzentwurf weitergearbeitet, der im Oktober im Kabinett beschlossen werden soll. Auch SPD-Fraktionschef Peter Struck betonte: "Gründlichkeit geht vor Schnelligkeit". Bei der Umsetzung der Eckpunkte werde es aber keine Abstriche geben. SPD-Fraktionsgeschäftsführer Olaf Scholz erklärte, die Verschiebung sei nicht zuletzt durch befürchtete Widerstände in der Länderkammer motiviert worden. Auch wenn der Großteil der Reform nicht der Zustimmung des Bundesrats bedürfe, könnten die Ministerpräsidenten sie hinauszögern.
Schmidt verteidigt Fonds
Ministerin Schmidt, die erst später über die Entscheidung informiert wurde, rechtfertigte den Aufschub der Reform am nächsten Tag im Parlament. Angesichts der "sehr umfänglichen Materie" sei die Verschiebung um drei Monate "verkraftbar" und die "richtige Entscheidung". Schmidt warnte Kritiker der Reform, die Entscheidung der Koalitionsspitzen als Zeichen für ein Scheitern des Vorhabens zu deuten. Die Reform werde am 1. April 2007 starten und der Gesundheitsfonds im Jahr 2008 eingeführt, versicherte sie. Sie verteidigte den Gesundheitsfonds, der künftig alle Beiträge sammeln und den Kassen pauschale Zuweisungen für jeden Versicherten geben soll. Seine Gegner hätten nur "Angst vor Transparenz, Effizienz und mehr Wahl- und Wechselmöglichkeiten, die er den Versicherten geben wird". Sie betonte, dass mit dem Fonds keine neue Behörde entstehe. Es handle sich vielmehr um ein sinnvolles und unbürokratisches Finanzierungsverfahren, so die Ministerin.
FDP: Pläne einstampfen
FDP-Geschäftsführer Dirk Niebel nannte den dreimonatigen Aufschub der Reform einen "makabren Aprilscherz". Die Pläne seien "so falsch, dass man sie so lange verschieben sollte, dass sie gar nicht in Kraft treten". Ähnlich äußerte sich der gesundheitspolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, Daniel Bahr. Er forderte die Bundesregierung auf, die bisherigen Pläne für eine Gesundheitsreform "einzustampfen" und einen neuen Anlauf zu unternehmen. Die Kanzlerin habe die Notbremse gezogen, weil die Kritik von allen Seiten immer massiver geworden sei, sagte Bahr. Nun werde sich zeigen, "ob die Union noch eigene Vorschläge einbringen wird, anstatt von Schmidt dauernd vorgeführt zu werden."
Linke und Grüne plädieren für Bürgerversicherung
Für den gesundheitspolitischen Sprecher der Linksfraktion, Frank Spieth, zeigt die Verschiebung, dass die große Koalition zu der "späten Erkenntnis" gekommen ist, dass ihre Eckpunkte zur Gesundheitsreform "handwerklicher Pfusch" waren. Er appellierte an die SPD, sich wieder auf die Bürgerversicherung zu besinnen: "Wenn SPD und Grüne noch zu ihren Wahlprogrammen stehen würden, gäbe es dafür eine parlamentarische Mehrheit". Biggi Bender (Grüne) warf der Koalition vor, sie kapituliere "vor dem Murks, den sie selbst verursacht hat". Union und SPD sollten die Bedenkzeit nutzen, um das angerichtete Reformchaos wegzuräumen. "Der nutzlose Gesundheitsfonds muss vom Tisch", so Bender.
Hoffnung bei den Verbänden
Begrüßt wurde die Verschiebung der Reform von den Betriebskrankenkassen: "Diese Entscheidung, die Beratungszeit nachträglich dem gestiegenen Beratungsbedarf anzupassen, zeugt von Souveränität", sagte BKK-Sprecher Florian Lanz. Es sei zu hoffen, dass jetzt auch noch Änderungen, die die Kassen für erforderlich hielten, Eingang in die Reform fänden. Auch beim Bundesverband der Arzneimittel-Hersteller (BAH) sieht man die Entscheidung der Koalition positiv und erhofft sich eine Verbesserung des Arbeitsentwurfs - insbesondere in der Arzneimittelversorgung.
Der Vorstandschef des AOK-Bundesverbandes, Hans Jürgen Ahrens, erklärte am Freitag gegenüber der "Freien Presse" in Hannover, jetzt sei die Gelegenheit für Nachbesserungen. Wenn der Gesundheitsfonds schon komme solle, müsse es einen verbesserten Risikostrukturausgleich geben. Außerdem plädierte Ahrens für eine Streichung der Zusatzprämie, die die Versicherten zahlen sollen. Sie sei unnötig und vollkommen unpraktikabel.
Der Leiter des Verbands der bayerischen Ersatzkassen, Christian Bredl, nannte den Fonds "den größten Murks, der je geplant worden ist". Bredl erwartet Krankenkassenbeiträge von knapp 16 Prozent. Der Gesundheitsfonds in seiner jetzigen Form werde zu Mehrkosten für die Versicherten und zu schlechterer Versorgung führen. Auch er lehnte die Zusatzbeiträge ab, die in einigen Jahren eine dreistellige Höhe erreichen könnten. "Der Kranke ist der Dumme, das müssen wir den Menschen klar machen", sagte Bredl.
Detailarbeit wird diese Woche fortgesetzt
Tatsächlich stehen Union und SPD noch vor manch einem Knackpunkt, den es zu lösen gilt. Am 8. September kam die Arbeitsgruppe der Fachpolitiker erneut zusammen - an diesem Montag sollen die Beratungen weitergehen. Diese Woche stehen die Zukunft der PKV und die Neureglung des Risikostrukturausgleichs auf der Tagesordnung. Wie die Kassen ihre knapp vier Milliarden Euro Schulden ausgleichen und wie künftige Organisation aussehen soll, war bis AZ-Redaktionsschluss ebenfalls noch unklar. Zur Diskussion standen offenbar auch Härtefallregelungen und Zuzahlungsbefreiungen für die Versicherten sowie Detailregelungen für die erwarteten Einsparungen bei Apotheken in Höhe 500 Millionen Euro. Bis zum Wochenende wollen die Unterhändler den Reformentwurf so weit erörtert haben, dass ein gemeinsamer Gesetzentwurf vorgelegt werden kann.
SPD-Linke für Fonds-Verzicht
Kritik am Reformvorhaben wurde auch bei den SPD-Linken laut. SPD-Präsidiumsmitglied Andrea Nahles forderte, die durch die Verschiebung der Reform gewonnene Zeit zu nutzen, um den für 2008 geplanten Gesundheitsfonds "gründlich zu überdenken". Sie würde am liebsten auf den Fonds verzichten. Karl Lauterbach erklärte, der Fonds sei eine "überflüssige und schwer beherrschbare Bürokratie". Die Regierungsparteien hätten nichts zu gewinnen, wenn sie den Fonds gegen den Willen der Krankenkassen durchsetzen. "Wenn die Kassen uns beim Start des Gesundheitsfonds auflaufen lassen, wird das ein Fiasko", warnte Lauterbach. Zudem sei der Fonds "brandgefährlich, weil er die Entsolidarisierung im Gesundheitswesen weiter vorantreiben wird und die Beitragsbelastung von Arbeitgebern und Versicherten weiter nach oben treibt".
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