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Arzneimittel und Therapie
Zulassung für Fingolimod bei schubförmiger MS beantragt
Die Prognose bei multipler Sklerose ist noch immer schlecht. Bis zu 50% der Patienten entwickeln innerhalb von zwei bis drei Jahren eine klinisch relevante Behinderungsprogression. Nach 15 Jahren ist etwa die Hälfte gebehindert, davon ist nach weiteren zehn Jahren etwa die Hälfte auf den Rollstuhl angewiesen. Zudem entwickeln bis zu 65% eine kognitive Dysfunktion. "Sie wird oft ausgeblendet, weil sie schwer erfassbar ist. Dabei ist sie bei MS-Patienten die häufigste Ursache für ein Ausscheiden aus dem Job", erläuterte Prof. Dr. Bernd Kieseier, Düsseldorf.
Keine Auswanderung autoaggressiver Lymphozyten
Die Behandlungsoptionen für die multiple Sklerose sind begrenzt, mit Immunmodulatoren wie Beta-Interferonen und Glatirameracetet als Basistherapie, Natalizumab und Mitoxantron zur Therapieeskalation. Mit Fingolimod (FTY720), einem Sphingosin-1-Phosphat(S1P)-Rezeptor-Modulator, steht die Erweiterung der Palette um ein oral verfügbares MS-Medikament vielleicht schon bald vor der Tür. Sein Angriffspunkt sind vorrangig autoaggressive Lymphozyten, die bei multipler Sklerose nach Vermehrung und Reifung im lymphoiden Gewebe über die Blut-Hirn-Schranke in das zentrale Nervensystem einwandern und dort Entzündung und Gewebeschädigung verursachen. An diesem Prozess ist der S1P-Oberflächenrezeptor maßgeblich beteiligt. Er wird von Lymphozyten exprimiert und reguliert den Austritt von Lymphozyten aus den Lymphknoten. Fingolimod bindet an diesen Rezeptor und sorgt für seine rasche Internalisierung, sprich: Der Rezeptor verschwindet von der Oberfläche. Damit steht er als Signalgeber für die Auswanderung der Lymphozyten nicht mehr zur Verfügung. Die S1P-abhängige Migration der Lymphozyten aus dem Lymphknoten wird gehemmt. Bei multipler Sklerose verhindert Fingolimod so die Auswanderung autoaggressiver Lymphozyten in das Blut und damit auch in das ZNS. Die neuronale Zerstörung wird eingebremst. Wichtige Funktionen des Immungedächtnisses bleiben dennoch intakt, nämlich die Aktivierung, Proliferation sowie die Effektorfunktionen gewebsständiger Memory-T-Zellen. "Langlebige Effektor-T-Zellen des nicht-lymphatischen Gewebes, die verantwortlich für die lokale Abwehr von Pathogenen sind, werden von FTY720 nicht beeinträchtigt", so Kieseier. Und: Die Wirkung von Fingolimod ist voll reversibel.
Hinweise auf direkte neuroprotektive Effekte
Da auch Nervenzellen S1P-Rezeptoren exprimieren, wird eine direkte zentrale Wirkung des lipophilen S1P-Rezeptor-Modulators diskutiert. Zumindest in In-vitro-Untersuchungen konnten Effekte auf Astrozyten, Oligodendrozyten und Neuronen gezeigt werden, die auf eine Neuroprotektion hindeuten.
Reduktion der jährlichen Schubrate um 50 bis 60%
Das Studienprogramm ist umfassend mit mehr als 2300 Fingolimod-behandelten Patienten aus abgeschlossenen Phase-II- und III-Studien und ihren Extensionsstudien. "Das entspricht eines Exposition von 4000 Patientenjahren", so Kieseier. Er verwies auf eine aktuell publizierte Phase-III-Studie, die Daten von 1272 Patienten mit schubförmiger MS über 24 Monate auswertete. Danach reduziert Fingolimod die jährliche Schubrate im Vergleich zu Placebo um 50 bis 60% (Fingolimod 0,5 mg/d: 0,18; Fingolimod 1,25 mg/d: 0,16; Placebo: 0,40).
Vorübergehende Bradykardie beachten
In puncto Sicherheit konzentrierte sich der Blick auf Infektionen, kardiovaskuläre Effekte, Makulaödeme und Leberwerte. Mit Ausnahme von Infektionen der unteren Atemwege (Bronchitiden, Pneumonien) war die Infektionsrate im Vergleich zu Placebo nicht erhöht. Nach der ersten Dosis von Fingolimod kann es vorübergehend und dosisabhängig zu einer Reduktion der Herzfrequenz um acht bis zehn Schläge pro Minute kommen. Eine Bradykardie wurde bei drei Patienten unter Placebo, dagegen bei neun Patienten unter Fingolimod 0,5 mg und bei 14 Patienten unter Fingolimod 1,25 mg beobachtet. Bei drei Patienten, die hoch dosiert behandelt wurden, entwickelte sich ein Makulaödem, das nach Absetzen der Therapie zurückging. Beobachtet wurde zudem häufiger eine reversible und in der Regel asymptomatische Erhöhung der Leberwerte (8,5% vs. 12,5% vs. 1,7%). Neoplasien traten unter Fingolimod nicht häufiger auf.
"Priority review"-Status bei der FDA
Im Dezember 2009 wurde die Zulassung für Fingolimod zum Einsatz bei schubförmiger MS in einer Dosierung von 0,5 mg bei der FDA und der EMA beantragt. Am 19. Februar 2010 hat die FDA der Substanz den "priority review"-Status zuerkannt. Er wird innovativen Medikamenten nur dann gewährt, wenn sie eine signifikante Verbesserung der derzeitigen Behandlung ermöglichen könnten oder wenn keine adäquate Therapie zur Verfügung steht. Im Juni 2010 empfahl der vorberatende FDA-Ausschuss einstimmig die Zulassung von Fingolimod, die Entscheidung der europäischen Behörden steht noch aus.
Quelle Prof. Dr. Bernd Kieseier, Düsseldorf; Fachpresseworkshop "Unmet Needs in der MS-Therapie: Was bringt die Zukunft?", München, 11. Mai 2010, veranstaltet von der Novartis Pharma GmbH, Nürnberg.
Apothekerin Dr. Beate Fessler
Zum WeiterlesenDeutsche Multiple Sklerose Gesellschaft: Orale MS-Therapie ist "durchaus viel versprechend" DAZ 2010, Nr. 14, S. 40 – 42.www.deutsche-apotheker-zeitung.de |
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