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Der Gegenwert

Gerhard Schulze

Vor einigen Wochen besuchte ich meine Tante. Sie ist Witwe und lebt in einem Dorf im Westerwald, ganz allein in einem alten, großen Haus, ins Altersheim will sie nicht. Wir plauderten wie immer über dies und das, meistens geht es um die Gesundheit.

Abends im Badezimmer entdeckte ich auf meinem Rücken eine kleine Erhebung, die bei Berührung leicht schmerzte. Am nächsten Morgen zeigte ich die Stelle meiner Tante. "Am besten, du drückst nicht daran herum, das ist gefährlich. Aber abwarten ist auch nicht gut. Sonst wird’s noch ein Geschwür. Geh am besten zum Apotheker, der wird schon was für dich haben. Kannst auch gleich dieses Rezept für mich einlösen."

Meine Tante sieht mit ihren 82 Jahren die Dinge auf ihre Art. Für sie ist der Apotheker ein Arzt – und umgekehrt. Edikt von Salerno? Nie gehört. Ihr Apotheker war schon da, als sie noch ein kleines Mädchen war, sein Sohn war aus dem gleichen Holz geschnitzt und jetzt der Enkel macht seine Sache genauso gut. Also wozu an einem so schönen Morgen extra zum Arzt gehen, meinte sie, zwei Dörfer weiter? Der würde mir nur bestätigen, was sie ohnehin schon vermutete.

Auf dem Weg zur Hauptstraße dachte ich nach. Dorfapotheker in der dritten Generation? So viel Kontinuität grenzt für mich an Unsterblichkeit. Aber als ich dann vor der Apotheke stand, suchte ich vergeblich nach irgendeiner Aura oder sonstiger Metaphysik. Eine Apotheke wie tausend andere. Drin warteten noch andere Kunden, die würden bestimmt alle die Ohren aufstellen, wenn ich auf mein Anliegen zu sprechen kam. Es ist gar nicht so einfach, vor Publikum über seinen Körper zu reden, aber irgendwie geht es dann doch. Vor allem dann, wenn sich der Gesprächspartner konzentriert und man sich von ihm verstanden fühlt.

"Thuja", sagte der Apotheker nach kurzem Nachdenken. "Nehmen Sie Thuja. Äußerlich. Ich kann Ihnen eine Salbe anrühren, wenn Sie wollen. Das Mittel ist eigentlich gegen Warzen, aber Ihnen könnte es auch helfen. Seien Sie vorsichtig mit der umliegenden Haut, die sollte nach Möglichkeit nichts abbekommen. Wenn es nach ein paar Tagen nicht abklingt, suchen Sie bitte einen Arzt auf."

Viele Apothekenkunden betreiben regelmäßig Selbstmedikation. Sie stellen irgendeine Abweichung von ihrem Normalzustand fest und wägen dann ab, ob sie einen Arzt brauchen oder nicht. Entweder kennen sie das Problem schon und wissen, es lässt sich mit frei verkäuflichen Arzneimitteln gut behandeln. Oder sie kennen es nicht und probieren es erst einmal auf eigene Faust.

Es gibt viele Gründe, warum Menschen nicht bei jeder Gelegenheit zum Arzt gehen. Zehn Euro Praxisgebühr, Zweifel an der Schulmedizin, Suche nach Alternativen, der Wunsch, sich selbst zu helfen, das Gefühl, den eigenen Körper und seine Probleme gut genug zu kennen. Selbstmedikation kann genau wie eine ärztliche Therapie scheitern, aber vielen ist es einen Versuch wert. Und wen kann man auf diesem Weg besser brauchen als einen Apotheker seines Vertrauens?

Die kleine Erhebung auf meinem Rücken bildete sich unter dem Einfluss von Thuja äußerlich nach ein paar Tagen zurück. Mein Arzt hätte mir wahrscheinlich Zugsalbe verordnet. Zugsalbe riecht nach Ölpest, Thuja riecht nach alter Kirchenbank, was mir wesentlich lieber ist. Diese wunderbare, ebenfalls fast schon metaphysische Alternative hatte ich dem Erfahrungswissen des Apothekers zu verdanken. Dass er tatsächlich um die Ecke gedacht hatte, wurde mir klar, als ich im Internet nachforschte: Thuja äußerlich ist nur bei Warzen als Naturheilmittel anerkannt.

Was ist aber das Erfahrungswissen des Apothekers wert? Was hat er davon, kostenlos Ratschläge zu geben, spontan und trotzdem wohlbegründet? Ich kaufte für wenig Geld eine Salbe bei ihm, sein guter Rat war umsonst, ein Geschäft war das nicht gerade. Hier von Ethik zu sprechen, würde er wohl als zu hochtrabend zurückweisen. Aber die Antwort, die er wahrscheinlich geben würde, liefe genau darauf hinaus: Das ist einfach mein Beruf. An dieser Haltung konnten bisher weder Bürokratie noch staatliche Willkür etwas ändern.

Ärzte, Fluglotsen oder Lokomotivführer verschaffen sich Aufmerksamkeit und immer neue Schlagzeilen, die Apotheker sind auch ohne all das fest im kollektiven Gedächtnis verankert. Ganze Berufsgruppen hat die Zeit überflüssig gemacht, die Apotheker sind geblieben. Das ist noch keine Unsterblichkeit, aber eine solide, in Jahrhunderten gewachsene Überlebenskunst. Und, wie ich finde, ein ansehnlicher Gegenwert für das Erfahrungswissen der Apotheker.


Gerhard Schulze


Gerhard Schulze, geb. 1944, ist Professor für Soziologie an der Universität Bamberg. Seine Arbeiten untersuchen den kulturellen Wandel der Gegenwart. Im Februar 2011 erschien sein aktuelles Buch "Krisen. Das Alarmdilemma" im Fischer Verlag.



DAZ 2011, Nr. 21, S. 28

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