Gesundheitspolitik

Janusköpfige Gesellschaft

Apotheken zwischen Leistungsansprüchen und Zahlungsbereitschaften

Von Heinz-Uwe Dettling

Vor einigen Tagen betrat ein gewisser James Verone eine Bank in Gaston County, North Carolina, USA, und überreichte dem Schalterangestellten einen Zettel: "Dies ist ein Banküberfall. Bitte geben Sie mir einen Dollar." James Verone beging diesen "Bankraub", um sich festnehmen zu lassen, denn als Häftling hat er Anspruch auf kostenlose medizinische Behandlung. Diese benötigt er dringend, denn er leidet an einem schmerzhaften Bandscheibenvorfall, an Arthritis, einem geschwollen Fuß und einem Geschwür an der Brust. Als 59-jährigem Arbeitslosen ohne Ersparnisse und Krankenversicherung blieb ihm in den USA nur ein Ort, der seine ärztliche Versorgung gewährleisten kann: das Gefängnis.

Hinweis


Dieser Beitrag ist die leicht gekürzte Fassung eines Vortrags, den der Verfasser auf dem Kongress "Zukunft gestalten: Perspektiven für Pharmazie und Apotheke" zum 150. Geburtstag der DAZ am 1. Juli 2011 in Berlin gehalten hat. Die ungekürzte, um Fußnoten und Nachweise ergänzte Fassung wird in der Zeitschrift "Arzneimittel & Recht" veröffentlicht.

Wie wichtig ist die Gesundheit?

James Verone hat also für seine Gesundheit die Freiheit aufgegeben. Er war bereit, für die Gesundheit einen sehr hohen Preis zu zahlen, und hat damit die Erfahrung bestätigt, dass die Zahlungsbereitschaft der Menschen bei schweren Erkrankungen "maximal" ist. Die dahinter stehenden Logik ist einfach: "Wenn man seine Gesundheit nicht hat, hat man gar nichts", so die Begründung von James Verone.

Weil die Menschen als Patienten und erkrankte Versicherte die Gesundheit als höchstes Gut betrachten, erwarten sie von den Leistungserbringern eine optimale medizinische Versorgung und von ihrer Versicherung absolute Priorität für die erforderlichen Ausgaben.

Entsprechend nehmen nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und des Bundesverfassungsgerichts Leben und Gesundheit von Menschen in der Wertordnung der Europäischen Union und des Grundgesetzes den Rang von Höchstwerten ein. Sie haben Vorrang vor wirtschaftlichen Interessen. Die Verfassung gebietet, dass sich der Staat schützend und fördernd vor das Leben des Einzelnen stellt. Insbesondere ist der Schutz der Bevölkerung vor dem Risiko Krankheit in der sozialstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes eine Kernaufgabe des Staates.

Soweit die Theorie. Die Praxis zeigt ein anderes Bild.

Geld-Gesundheit-Konflikt

In der Praxis hat die normative Wertordnung mit den politischen Realitäten einer Demokratie zu kämpfen. In der Demokratie entscheidet die Mehrheit. Die Mehrheit der Bevölkerung ist relativ jung und relativ gesund. In der real existierenden Wertordnung junger und gesunder Menschen nimmt die Gesundheit nicht den gleichen Stellenwert wie bei unmittelbar betroffenen Patienten ein.

Bei jungen und gesunden Menschen, die im Berufsleben stehen und die öffentliche Meinung prägen, schiebt sich ein anderer Wertgigant in den Vordergrund: das Geld – als Symbol von Freiheit und als Mittel zur Erfüllung beliebiger Wünsche.

Sind die Menschen jung und gesund, räumen sie ihren Ausgaben für Gesundheit nur eine relative Priorität ein, weil sie etwa "noch ein Haus, ein Auto oder Urlaubsreisen finanzieren wollen", wie der Vorsitzende Richter am Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Dr. Ulrich Freudenberg, feststellt. Als gesunde und beitragzahlende Versicherte haben sie ein Bedürfnis nach möglichst niedrigen Beiträgen und möglichst geringen Ausgaben ihrer Versicherung. Zugespitzt formuliert Freudenberg: "Gesunde sind nicht bereit, so viel Mittel für Gesundheitsausgaben aufzubringen, wie sie als Kranke fordern würden."

Damit ist das Spannungsverhältnis zwischen Leistungsansprüchen und Zahlungsbereitschaften – oder kurz: der "Geld-Gesundheit-Konflikt" – als einer der drei großen gesundheitsrechtlichen Bedürfniskonflikte formuliert. Die Menschen stellen hohe Ansprüche an die Leistungen im Krankheitsfall, sind aber nicht bereit, die notwendige finanzielle Vorsorge für den Krankheitsfall zu treffen, solange sie noch gesund und dazu in der Lage sind.

"Rationales" Trittbrettfahren ist irrational

Die dahinter stehende Einstellung, möglichst viel zu nehmen und möglichst wenig zu geben, wird vielfach sogar als "rational" betrachtet. Den jeweils größtmöglichen eigenen Vorteil zu erstreben, zählt als sogenanntes "Maximierungsprinzip" zu den grundlegenden Prinzipien der Ökonomie. Als "rational" gilt nach der opportunistischen Variante dieser Einstellung selbst noch das Mogeln, sofern man annehmen kann, dass das Mogeln unentdeckt bleibt. Dasselbe gilt für das sogenannte "Trittbrettfahren", bei dem von anderen erwartet wird, was man selbst zu tun nicht bereit ist. Dazu gehört etwa, von anderen zu erwarten, dass sie sich an das Recht halten, während man sich selbst rechtswidrig verhält; zu erwarten, dass andere die Straßenbahn bezahlen, während man selbst "schwarz" fährt; zu erwarten, dass andere einen Mercedes liefern, man selbst aber nur einen Golf bezahlt; zu erwarten, dass andere ihre finanziellen Interessen für die Gesundheit zurückstellen, man selbst aber nicht, usw., usw.

Die Wirtschaft funktioniert durch Reziprozität

Ein solches impulsiv-egoistisches, opportunistisches Verhalten ist aber nicht nur unethisch, sondern bei Lichte betrachtet auch irrational. Es steht nicht nur im Konflikt mit den legitimen Interessen anderer. Es steht zumeist auch im Konflikt mit dem aufgeklärten Eigeninteresse. Schon Adam Smith, der Begründer der modernen Wirtschaftswissenschaft, hat aufgezeigt, dass alle besser stehen, wenn wir nicht auf Geschenke anderer setzen, sondern uns die Leistungen anderer durch angemessene Gegenleistungen sichern. Die arbeitsteilige Tauschwirtschaft funktioniert nur durch Reziprozität.

Diese Erkenntnis von Adam Smith wird durch die empirischen Erkenntnisse der modernen Spieltheorie bestätigt. Weil Menschen auf das Verhalten anderer Menschen nach dem Motto "Wie-du-mir-so-ich-dir" – auf Neudeutsch "Tit-for-Tat" – reagieren, stellen sich alle Beteiligten besser, wenn sie in fairer Weise Rücksicht auf die Interessen anderer nehmen. Dagegen schaden sich die Menschen im Ergebnis selbst, die ausschließlich den eigenen Vorteil suchen und sich unkooperativ verhalten – in der Sprache der Spieltheorie "defektieren". Rational ist daher nicht gleichbedeutend mit impulsiv-egoistisch und insbesondere nicht gleichbedeutend mit opportunistisch.

Opportunisten und Systempharisäer

Trotz dieser Erkenntnisse herrscht im heutigen Gesundheitswesen noch immer eine opportunistische Grundhaltung vor. Diese Haltung wird verstärkt durch Systempharisäer, die mit der "Geldverrücktheit unserer Kultur", wie es der US-amerikanische Sozialwissenschaftler Poundstone ausdrückt, und der Faszination der einfachen Zählbarkeit des Geldes spielen, die den Leistungserbringern Geldgier vorwerfen, selbst aber ausschließlich nach dem Geizprinzip agieren, die mit pseudowissenschaftlichen Studien die Qualität unseres dank der Leistungserbringer im internationalen Vergleich noch immer herausragenden Gesundheitssystems infrage stellen und die öffentliche Meinung mit der falschen Aussage manipulieren, die Bevölkerung zahle Mercedes und bekomme nur Golf.

Falsche Versprechungen

In einer Demokratie, in der nur Stimmungen und Stimmen der Mehrheit zählen, ist die Gesundheitspolitik gezwungen, sich dem Opportunismus der Mehrheit zu beugen. Obwohl ich den Radikalliberalismus des US-amerikanischen Gesundheitsphilosophen Engelhardt für falsch und unvertretbar halte, gehe ich mit seiner Analyse der sich daraus ergebenden realpolitischen Verhältnisse völlig daccord. Engelhardt hält fest:

"Es ist sehr in Mode, eine gar nicht erfüllbare Verpflichtung zur Erbringung von Gesundheitsleistungen zu befürworten, wie es z. B. anhand der folgenden vier weithin anerkannten, aber nicht miteinander vereinbaren Ziele der Gesundheitspolitik deutlich wird:

1. Jedermann soll die bestmögliche Versorgung erhalten.

2. Es soll garantiert werden, dass jedermann die gleichen Leistungen erhält.

3. Die Wahlfreiheit für Anbieter und Verbraucher von Gesundheitsversorgung soll erhalten bleiben.

4. Die Kosten der Gesundheitsversorgung sollen eingedämmt werden."

Das opportunistische Mogeln in der Hoffnung, es werde nicht entdeckt, ist also auch in der Gesundheitspolitik die Regel. In den Worten von Engelhardt: Durch "kollektive Illusion, ein falsches Bewusstsein und eine etablierte Ideologie" werden die Zusammenhänge verschleiert.

Falsche Rationierungs-"Ethik"

Das Virus des Opportunismus scheint viele zu befallen, die sich mit dem Gesundheitswesen befassen, nicht nur Politik und Gesetzgeber, sondern auch ethische Instanzen wie den Deutschen Ethikrat und die Gerichte, selbst das Bundesverfassungsgericht.

So will der Deutsche Ethikrat "vorausschauend die Grenzen einer solidarischen Finanzierung von Gesundheitsleistungen" diskutieren, statt Überlegungen dazu anzustellen, wie Rationierungen als Beschädigungen der Gesundheit verhindert werden können. Die vorschnelle Weichenstellung in Richtung einer Legitimation der Rationierung durch den Deutschen Ethikrat beruht im Wesentlichen auf zwei Fehlern:

1. unausgesprochen auf einer opportunistischen Wertordnung, die dem Geld einen höheren Rang als der Gesundheit zuweist und damit von der normativen Wertordnung des Grundgesetzes und der Europäischen Union abweicht, und

2. explizit auf dem ungeprüften und pauschalen Vorurteil der Knappheit des Geldes, nach dem der Gesellschaft nicht genügend finanzielle Mittel sowohl für die Befriedigung des Bedürfnisses nach Gesundheit als auch für die Befriedigung anderer Bedürfnisse zur Verfügung stehen.

Die Fehler sind offenkundig: Geld steht nicht über der Gesundheit, und Deutschland ist ein reiches Land. Wir leben nicht in Katastrophensituationen, die Beispiele für Rationierungen liefern und Rationierungen unvermeidlich machen. Wir verfügen vielmehr über hinreichend große finanzielle Spielräume.

Geldmangel der GKV ist kein Naturgesetz

Zu Recht weist der Mediziner und Philosoph Georg Marckmann darauf hin, dass die Knappheit der Mittel in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) kein Naturgesetz ist, kein, wie Marckmann formuliert, "von Natur aus vorgegebener, sich unserer Verfügungsgewalt entziehender Zustand ist, sondern auf Wertsetzungen beruht, die zum einen vom medizinischen Entwicklungsstand und der ökonomischen Leistungsfähigkeit der Gesellschaft abhängen, zum anderen aber auf die grundlegende Frage verweisen, wie viel wir bereit sind, für die Gesundheitsversorgung im Vergleich zu anderen Gütern auszugeben".

Theoretisch stehen daher im Wesentlichen drei Strategien zur Verfügung, um der Diskrepanz zwischen steigenden Ausgaben und sinkenden Einnahmen im heutigen System der GKV zu begegnen:

1. Effizienzsteigerung (= Rationalisierung),

2. Leistungsbegrenzung (= Rationierung) und

3. Erhöhung der Finanzmittel (= Finanzierung).

Gleichwohl wird die letztgenannte Strategie, die Erhöhung der Finanzmittel, häufig schlicht unter den Tisch gekehrt und von nur "zwei prinzipiellen Möglichkeiten", der Rationalisierung und der Rationierung gesprochen.

Dieser von vornherein verengte Blick liegt auch der Position des Deutschen Ethikrats zugrunde. Gewissermaßen zur Abschreckung und als Scheinbeleg verweist er auf Hochrechnungen, nach denen die Krankenversorgung der Bevölkerung auf gegenwärtigem Niveau im Jahre 2050 zu einer Erhöhung des Beitragssatzes in der GKV auf bis zu 43% des sozialversicherungspflichtigen Bruttoeinkommens führen würde. Derartige Horrorszenarien gehen jedoch völlig an der Sache vorbei. Der Maßstab für die Frage der Geldknappheit ist nicht die künstliche Verknappung der Mittel durch das heutige, in der Tat nicht mehr tragfähige Finanzierungssystem der GKV, sondern das Bruttoinlandsprodukt (BIP).

Blick auf das BIP

Legt man das BIP als richtigen Maßstab zugrunde, besteht kein Grund zur Hysterie und Panik, denn die Ausgaben der GKV pendeln seit vielen Jahren um die 6% des BIP. Sie betrugen in Deutschland im Jahr 2006 ca. 148 Mrd. Euro bei einem BIP von ca. 2,3 Bio. Euro und im Jahre 2008 ca. 161 Mrd. Euro bei einem BIP von ca. 2,5 Bio. Euro. Im Vergleich dazu wandten die Verbraucher in diesem Jahren insgesamt ca. 1,3 Bio. Euro bzw. ca. 1,4 Bio. Euro für den Konsum auf. Die Ausgaben für "Freizeit, Unterhaltung und Kultur" – ohne die Ausgaben für Bildung – lagen bei ca. 120 Mrd. Euro bzw. bei ca. 125 Mrd. Euro. Diese reinen Luxusausgaben erreichten damit eine ähnliche Dimension wie die Ausgaben der GKV für die medizinische Versorgung von fast 90% der Bevölkerung.

Noch deutlich über den Ausgaben der GKV liegen die Ausgaben für Nahrungsmittel, Getränke und Tabakwaren mit ca. 195 Mrd. Euro, für Verkehr und Nachrichtenübermittlung mit ca. 223 Mrd. Euro und für Wohnung, Wasser, Strom, Gas und andere Brennstoffe mit ca. 327 Mrd. Euro, jeweils im Jahre 2008. Gleichwohl wird, soweit ersichtlich, nicht darüber diskutiert, ob wir in Deutschland bald Nahrungsmittel und Getränke, Verkehrsleistungen und Nachrichtenübermittlung oder die Versorgung mit Wohnungen rationieren müssen. Es sind in Deutschland daher genügend Mittel für das Gesundheitssystem und für ein schönes Leben vorhanden. Im Ergebnis stellt der Stuttgarter Philosoph Peter Fischer zu Recht fest: "Bezogen auf den gesellschaftlich erzeugten Reichtum insgesamt besteht eher keine Knappheit."

Bundesverfassungsgericht entscheidet gegen Grundrechte

Auch die Rationierung ist folglich kein Naturgesetz. Gesundheit ist finanzierbar und bezahlbar. Die Finanzierung von Gesundheit ist keine Frage des Könnens, sondern eine Frage des Wollens – und damit auch eine Frage des Sollens.

Wenn man daher erwartet, dass wenigstens das Bundesverfassungsgericht sich schützend und fördernd vor das Leben des Einzelnen stellt und der Politik den Schutz der Bevölkerung vor dem Risiko der Erkrankung als Kernaufgabe des Staates wirklich vorgibt, so wird man allerdings enttäuscht. Abgesehen von einem lobenswerten Ausnahmefall, dem sogenannten Nikolaus-Beschluss, hat das Bundesverfassungsgericht bislang davon abgesehen, die Wertordnung des Grundgesetzes auch im Bereich der GKV "scharf" zu schalten und den Vorrang von Leben und Gesundheit vor wirtschaftlichen Interessen zur Geltung zu bringen. Auch das Bundesverfassungsgericht kapituliert vor dem Geld-Gesundheit-Konflikt. Es räumt in seinen Urteilen in aller Regel den mit der GKV zusammenhängenden wirtschaftlichen Interessen den Vorrang vor den gesundheitlichen Interessen der gesetzlich versicherten Patienten ein. Es stellt in seiner Entscheidungspraxis das gegenwärtige System der GKV über die Grundrechte der Patienten und Leistungserbringer. Das System wird verklärt, die von ihm verursachte verdeckte Rationierung ignoriert und seine Existenz als Selbstzweck behandelt.

Abwälzung der Solidarität auf Minderheiten

Derzeit wird im System der GKV einer relativ kleinen und daher relativ schnell überforderten Gruppe, den Hochbeitragszahlern, die Hauptfinanzierungslast aufgebürdet. Die vielgerühmte Solidarität in der GKV ist daher keine echte Solidarität.

Zugleich werden den Leistungserbringern, verbrämt durch das Zauberwort "Wirtschaftlichkeitsreserven", Sondersolidarlasten auferlegt. Während die Leistungsansprüche der Gesellschaft und die Belastungen immer größer werden – ich nenne hier nur die Stichworte Rabattvertragschaos, Packungsgrößenchaos, erhöhte Anforderungen durch die neue Apothekenbetriebsordnung – hebt das Sozialgericht Berlin die Reduzierung des Apothekenrabatts für das Jahr 2009 von 2,30 Euro auf 1,75 Euro pro Packung durch die zuständige Schiedsstelle auf. Damit aber noch nicht genug. Das Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz AMNOG regelte die Großhandels- und Apothekenvergütung so, dass nach Hochrechnungen der Gewinn einer typischen Apotheke von 75.000 Euro im Jahre 2010 auf 54.600 Euro im Jahre 2011 reduziert wird. Nach Steuern und Abgaben bleiben für den Apothekeninhaber dann noch 25.600 Euro netto. Das ist über 20% weniger, als ein angestellter Apotheker im Jahr verdient.

Der deutsche Gesetzgeber hat bewusst auf eine Verstaatlichung des Gesundheitswesens verzichtet. Dies geschah ausdrücklich in der Erkenntnis, dass mit der Verstaatlichung von Gesundheitssystemen oft Qualitätsmangel einhergehen. Es macht jedoch wenig Sinn, von der höheren Motivation privater Unternehmer eine höhere Qualität zu erwarten, dann aber deren Gewinn unter das Gehaltsniveau von Angestellten zu drücken. Das ist nichts anderes als kalte Sozialisierung.

Die Leistungserbringer sind der Willkür der Mehrheit schutzlos ausgeliefert. Das perfide Spiel, das mit ihnen getrieben wird, wird klar, wenn der ehemalige Richter am Bundesverfassungsgericht Professor Udo Steiner den Standpunkt des Bundesverfassungsgerichts dahingehend formuliert, dass sich Ärzte und andere Gesundheitsberufe ihre Rechte "vor allem politisch erstreiten" müssen, und gleichzeitig die ehemalige Gesundheitsministerin Ärzte, die ihre Rechte politisch erstreiken, als "Erpresser" diffamiert. Hier stellt sich die Frage, wer der Erpresser ist: Derjenige, der Zahlung für seine Leistung fordert, oder derjenige, der Leistung ohne Zahlung fordert?

Hier wird offenkundig mit zweierlei Maß gemessen. Als Vorbild dient der opportunistische Trittbrettfahrer, der sich selbst unethisch verhält, von anderen aber ethisches Verhalten erwartet.

Verschärfung der Konflikte

Nach den Erkenntnissen der Spieltheorie wird sich die Gesellschaft mit ihrem scheinrationalen Verhalten auf längere Sicht selbst schaden. Die Leistungserbringer werden nach der Maxime "Wie-du-mir-so-ich-dir" handeln. Ihre Wut wird wachsen. Sie werden nicht auf Dauer bereit sein, die hohen Leistungsansprüche und niedrigen Zahlungsbereitschaften der Gesellschaft zu akzeptieren. Sie werden sich aus der "Ethikfalle" befreien und der Gesellschaft deutlich machen, dass ein Mercedes bezahlt werden muss, wenn ein Mercedes gewünscht wird, und ein Golf geliefert wird, wenn nur ein Golf bezahlt wird.

Ob es zu Streiks oder gar Generalstreiks der Leistungserbringer kommen wird, wie dies aufgrund der Ausbeutungsexzesse der Krankenkassen zu Beginn des 20. Jahrhunderts bei den Ärzten der Fall war, bleibt abzuwarten. Jedenfalls rate ich zu Demonstrationen nicht in Berlin, sondern in Karlsruhe. Denn das Bundesverfassungsgericht trägt die Verantwortung für den Niedergang unseres Gesundheitswesens. Es lässt die GKV nicht nur zu einem Sorgenkind des Rechtsstaats, sondern auch zu einem nicht mehr funktionsfähigen Gebilde degenerieren. Ich rate allerdings zu einem Zusammenschluss aller Leistungserbringer und warne davor, nach dem Sankt-Florian-Prinzip mit dem Finger auf andere Gruppen von Leistungserbringern zu zeigen. Und ich rate zu einem Zusammenschluss mit den Hochbeitragszahlern in der GKV, denen die opportunistische Mehrheit Sonderlasten aufbürdet, die sie selbst zu tragen nicht gewillt ist.

Kernschmelze der GKV

Die Folgen des gesundheitspolitischen Opportunismus sind jetzt schon deutlich erkennbar. Die Ärzte "fliehen" ins Ausland, der Ärztemangel tritt immer klarer zutage. Apotheken schließen, Krankenhäuser schließen, Krankenkassen schließen. Ein Land zerstört sein Gesundheitssystem. Die Kernschmelze der GKV zeichnet sich ab – es sei denn, die Bevölkerung und unsere ethischen Instanzen kommen noch rechtzeitig zur Besinnung.

Junge und Gesunde müssen die Bedeutung der Gesundheit erkennen

Es wäre ein Zeichen richtig verstandener Rationalität, wenn auch die Jungen und Gesunden aus der Erfahrung anderer lernen, die Gesundheit als Höchstwert erkennen und Ausgaben für die Gesundheit als Investitionen in die Freiheit begreifen würden. Geiz ist nicht geil. Geiz ist krank, und Geiz macht krank. James Verone hat gezeigt, dass es zwar Gesundheit ohne Freiheit, aber keine Freiheit ohne Gesundheit gibt.

Es wäre ein Zeichen richtig verstandener Rationalität zu sehen, dass die Gesundheit auch in Zukunft bezahlbar und finanzierbar sein wird. Auch die Jungen und Gesunden werden alt und krank. Es bedarf nicht einmal ethischen Handelns, sondern nur eines Handelns im aufgeklärten Eigeninteresse, um noch als Gesunder die notwendige Vorsorge für den Krankheitsfall zu treffen. Die dafür notwendigen Einschränkungen sind gewiss erträglich. Wir müssen für unsere Gesundheit nicht ins Gefängnis gehen wie James Verone. Wir müssen nicht auf alles andere verzichten, nur um die Gesundheitskosten aufzubringen.

Angesichts des Reichtums unserer Gesellschaft genügt es, die vorhandenen Finanzmittel nach der "Hierarchie der Dringlichkeit" zu priorisieren und ein gewisses Maß an Disziplin an den Tag zu legen.

Reziprozitätsprinzip statt Maximierungsprinzip

Es wäre ein weiteres Zeichen richtig verstandener Rationalität, diejenigen, von denen man gut behandelt werden will, nicht schlecht zu behandeln. Ein solches Handeln im aufgeklärten Eigeninteresse ist im Übrigen auch ethisch. Die Ethik, die auf Ausgewogenheit und mithin auf Zweiseitigkeit beruht, verbietet einerseits den Leistungserbringern eine Verfolgung ihres Gewinnstrebens zulasten der Gesundheit. Sie verbietet aber auch den Krankenversicherungen und der Allgemeinheit das Sparen zulasten der Gesundheit.

Das irrationale Maximierungsprinzip muss durch das rationale und ethische Reziprozitätsprinzip ersetzt werden. Das Leitbild des Verbrauchers muss um das Element des ethischen Verbrauchers, der nicht nur Leistungen fordert, sondern auch angemessene Gegenleistungen gibt, ergänzt werden. Das Reziprozitätsprinzip bildet zugleich die Grundlage für das notwendige Aufbrechen der "ausgeprägten Misstrauenskultur" in unserem Gesundheitswesen. Auch Leistungserbringer sind Menschen. Auch Leistungserbringer haben Respekt und eine faire Bezahlung gerade ihrer Arbeit für die Gesundheit verdient.

Appell an das Bundesverfassungsgericht

Es wäre schließlich ein Zeichen richtig verstandener Rationalität, wenn das Bundesverfassungsgericht dem Grundgesetz auch im Bereich der GKV zu praktischer Wirksamkeit verhelfen würde. Es ist Aufgabe des Rechts, das menschliche Verhalten dort in die ethisch geforderten Bahnen zu lenken, wo die Menschen nicht von sich aus dazu bereit sind. Recht ist Erziehung für Erwachsene. Dieser Erziehungsaufgabe muss sich das Bundesverfassungsgericht auch im Bereich der GKV stellen. Dies gilt gerade dann, wenn sich die opportunistischen Tendenzen der Mehrheit entgegenstellen.

Im klaren Blick für die Schwächen der Demokratie, in der die Mehrheit vielfach versucht, Lasten auf Minderheiten abzuwälzen, hat das Grundgesetz dem Demokratieprinzip die Grundrechte des Einzelnen und das Rechtsstaatsprinzip zur Seite gestellt. Die unmittelbare Geltung der Grundrechte für alle Träger öffentlicher Aufgaben und das Rechtsstaatsprinzip sollen nach der eigenen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch die demokratisch legitimierte Gewalt rechtlich binden, sodass Machtmissbrauch verhütet und das Interesse des Einzelnen gewahrt wird. Dabei müssen sich die Grundrechte nach der eigenen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gerade in Zeiten der Verknappung der dem Staat zur Verfügung stehenden Mittel bewähren.

Das Bundesverfassungsgericht ist daher verpflichtet, die Wertordnung des Grundgesetzes konsequent durchzusetzen. Dazu gehört es, für den Bereich der GKV dieselben verfassungsrechtlichen "Garantien funktionsgerechter Finanzierung" zu gewährleisten, wie dies etwa im Bereich des öffentlichen Rundfunks der Fall ist. Aus dem Höchstwert von Leben und Gesundheit folgt danach die verfassungsrechtliche Pflicht des Staates, dafür Sorge zu tragen, dass für die zu bewältigenden Aufgaben in ausreichendem Maße Personal und sachliche Mittel zur Verfügung stehen.

Echte Solidarität in einem fairen Gesundheitssystem

Weil sich auf lange Sicht echte Rationalität durchsetzen wird, bin ich zuversichtlich, dass wir in Zukunft ein angemessen finanziertes Gesundheitswesen haben werden, das noch genügend Raum für die Verwirklichung anderer Lebensziele lässt und das so gestaltet ist, dass es der normativen Wertordnung des Grundgesetzes und der Europäischen Union sowie den Grundsätzen echter Rationalität, echter Rationalisierung und echter Solidarität entspricht.

Normative Wertordnung bedeutet, dass Leben und Gesundheit die höchsten Güter sind und Vorrang vor finanziellen Interessen genießen. Dies gilt für die Leistungserbringer und für die gesamte Gesellschaft.

Echte Rationalität bedeutet zu erkennen, dass Gesundheit Voraussetzung für Freiheit ist. Die medizinisch notwendige Behandlung und Versorgung jedes Patienten im Krankheitsfall wird daher unabhängig von den individuellen finanziellen Verhältnissen des Patienten sichergestellt. Eine Rationierung medizinisch notwendiger Leistungen ist ausgeschlossen, weil in der Gesellschaft genügend Mittel für die medizinisch notwendige Behandlung und Versorgung der Bevölkerung – auch unter Berücksichtigung des medizinischen Fortschritts und sonstiger Wünsche – vorhanden sind.

Echte Rationalisierung bedeutet, dass eine grundrechtlich und rechtsstaatlich orientierte Regulierung eingeführt wird, die nach dem Prinzip der Reziprozität eine hohe Qualität der medizinisch notwendigen Behandlung und Versorgung und eine diesem hohen Niveau angemessene Vergütung sicherstellt. Zur angemessenen Vergütung gehören praktisch wirksame Leistungs- und Innovationsanreize im gesundheitlichen Interesse der Patienten.

Echte Solidarität bedeutet, dass die GKV als Pflichtversicherung für alle konzipiert wird. Sie umfasst alle Einwohner und verpflichtet alle Krankenversicherungen, jedermann einen Regeltarif anzubieten. Der Regeltarif umfasst die medizinisch notwendige Behandlung und Versorgung sowie eine Regelprämie, die für alle Versicherten der Versicherung gleich hoch, d. h. einkommensunabhängig und bedarfsgerecht kalkuliert ist. Sozial Schwächere werden je nach Bedürftigkeit solidarisch durch ein Versicherungsgeld unterstützt.

Fazit

Das heutige, auf hohen Leistungsansprüchen und geringen Zahlungsbereitschaften basierende Gesundheitssystem ist auf Dauer nicht funktionsfähig. Es wird ersetzt werden durch ein Gesundheitssystem, das auf dem Prinzip der Reziprozität und nicht auf dem Prinzip der Maximierung beruht. So wird es der Gesellschaft, den Patienten und den Leistungserbringern – und mithin auch den Apotheken – in Zukunft deutlich besser gehen als heute. Anders als James Verone werden die Menschen auch in Zukunft Gesundheit und Freiheit genießen können.


Autor

RA Dr. Heinz-Uwe Dettling, Börsenplatz 1 (Friedrichsbau), 70174 Stuttgart, dettling@oppenlaender.de



DAZ 2011, Nr. 29, S. 46

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