Im Fokus

Statine nutzlos in der "Primärprävention"?

Kritische Bewertung der aktuellen Cochrane-Metaanalyse

Von Winfried März, Tanja B. Grammer und Bernd Genser

Die Cholesterinsenkung mit Statinen ist der wirksamste und am besten belegte medikamentöse Ansatz, kardiovaskuläre Ereignisse zu verhindern. Sie kann sogar die Rückbildung atherosklerotischer Veränderungen der Gefäße bewirken. Zumindest bei Patienten, die bereits einen Herzinfarkt hatten, ist der Einsatz von Cholesterinsenkern daher unumstritten. Auch für die Anwendung von Statinen bei Personen mit hohem Risiko, aber noch ohne Krankheitssymptome, also in der "Primärprävention", gibt es schon lange gut begründete und differenzierte Empfehlungen [1, 2]. Eine aktuelle Arbeit aus der Cochrane Collaboration unter der Leitung von Dr. Fiona Taylor (London School of Hygiene) mahnt jedoch nun zur Zurückhaltung bei der Verschreibung von Statinen bei Personen ohne Herzerkrankungen – und versetzt damit die Fachwelt in Aufruhr. Auch eine stereotype Industrieschelte wird gleich mitgeliefert. Weil die Studien von der pharmazeutischen Industrie finanziert wurden, seien die Ergebnisse "verzerrt".

In ihrer Metaanalyse haben die Londoner Forscher 14 prospektive Studien mit insgesamt 34.272 Patienten unter die Lupe genommen [3]. Die Studienteilnehmer hatten allesamt keine kardiovaskulären Ereignisse in der Vorgeschichte. Gegenüber Placebo senkten Statine die Inzidenzraten von Todesfällen jeglicher Ursache (-17%), von Herzinfarkten (-28%) und von Schlaganfällen (-22%), und dies statistisch signifikant (Tab. 1). Das ist alles andere als neu und entspricht in vielem den schon vorher veröffentlichten Metaanalysen zur Wirkung von Statinen in der Primärprävention [4 – 7], wobei in der Cochrane-Analyse der Effekt der Statine auf die Gesamtmortalität in der Tendenz sogar noch besser zu Tage tritt als in den früheren Arbeiten. Dennoch folgern die Autoren unter anderem auch in einer Presseerklärung, die vorhandene "Evidenz" rechtfertige einen breiten Einsatz von Statinen bei Personen ohne Vorgeschichte einer Herzerkrankung nicht, besonders wegen der damit verbundenen hohen Kosten und der Risiken unerwünschter Wirkungen.

Tab. 1: Die Ergebnisse der Cochrane-Analyse

Endpunkt
Risiko-Ratio (95% Konfidenzintervall)
Gesamtmortalität
0.83 (0.73 – 0.95)
Letale und nicht letale Herzinfarkte
0.72 (0.65 – 0.79)
Letale und nicht letale Schlaganfälle
0.78 (0.65 – 0.94)

Lesen wir noch genauer nach: Die Analyse ergab überhaupt keine Hinweise auf unerwünschte Wirkungen, schon gar nicht auf einen Anstieg der Krebshäufigkeit wie immer wieder vermutet worden ist [8]. Nachweisbarer Nutzen ohne erkennbares Risiko, aber doch nicht zu empfehlen? Bestechende Logik!

Abb.: Therapieeffizienz Zusammenhang zwischen der Zahl zu behandelnder Personen (number needed to treat NNT, bezogen auf 5 Jahre) und dem "globalen" kardiovaskulären Risiko in Statinstudien, ausgedrückt als Rate schwerwiegender koronarer Ereignisse in der Placebogruppe (pro 10 Jahre). Jeder Datenpunkt repräsentiert eine placebokontrollierte Endpunktstudie mit einem Statin. Gelb dargestellt sind Studien der "Primärprävention"; grün dargestellt Studien der "Sekundärprävention". Die Zahl zu behandelnder Personen ist ein Maß für die Therapieeffizienz. Sie gibt in diesem Fall die Anzahl von Personen an, die fünf Jahre behandelt werden müssen, um ein schwerwiegendes Ereignis zu verhindern. Je niedriger diese Zahl ist, um so effizienter ist die Behandlung. Die Abbildung illustriert, dass die Wirksamkeit der Behandlung vom Risiko des behandelten Patientenkollektivs abhängt. Am wirksamsten ist die Statintherapie bei hohem Ausgangsrisiko. Die gestrichelte Linie markiert die Risikoschwelle von 20% in 10 Jahren. Darüber ist eine Statintherapie praktisch immer indiziert. Unter dieser Schwelle wird das Therapieziel individuell festgelegt (vergleiche auch Tab. 2).

Zur Ehrenrettung der Autoren sei angemerkt: Die Indikation für eine medikamentöse Cholesterinsenkung ist in der Tat nicht einfach zu stellen. Das liegt daran, dass die relative Wirksamkeit der Therapie weitgehend unabhängig von der behandelten Patientengruppe ist, die absolute Wirksamkeit, etwa ausgedrückt als die Zahl an Personen, die behandelt werden müssen, um ein Ereignis zu verhindern, aber vom Ausgangsrisiko abhängt (Abb.). Die Cholesterinsenkung ist also umso effektiver, je höher das individuelle Risiko des behandelten Patienten ist. Keine seriöse Fachgesellschaft der Welt propagiert, Statine ins Trinkwasser zu mischen. Vielmehr soll sich die Entscheidung für deren Einsatz nach dem Gesamtrisiko des Patienten richten (vergleiche Tab. 2). Bei Patienten mit "stabiler" koronarer Herzkrankheit (und anderen Formen der Atherosklerose) wird in jedem Fall ein LDL-Cholesterin (LDL-C) von 100 mg/dl (2,6 mmol/l) oder weniger angestrebt [1, 2]. Die weitere Senkung des LDL-C auf 70 mg/dl (1,8 mmol/l) oder weniger stellt eine therapeutische Option dar; sie ist dann gerechtfertigt, wenn das LDL-C vor Behandlung deutlich über 100 mg/dl (2,6 mmol/l) liegt oder aus anderen Gründen ein sehr hohes Risiko angenommen werden muss (Zustand nach akutem Koronarsyndrom, Diabetes mellitus, Rauchen) [1, 2].

Tab. 2: Zielwerte für LDL-C, Triglyceride und HDL-Cholesterin in Anlehnung an die Leitlinien des National Cholesterin Education Program (NCEP) [1, 2]

LDL-Cholesterin
mg/dl (mmol/l)
Triglyceride
mg/dl (mmol/l)
HDL-Cholesterin
mg/dl (mmol/l)
0 – 1 Risikofaktoren1,2)
< 160 (< 4,2)
< 150 (< 1,71)
> 40 (1.04)
zwei oder mehr Risikofaktoren,1,2)
wenn 10-Jahres-Risiko unter 10%3)
< 130 (< 3,4)
< 150 (< 1,71)
> 40 (1.04)
Zwei oder mehr Risikofaktoren1,2) ,
wenn 10-Jahres-Risiko zwischen 10% und 20%3)
< 130 (< 3,4)
optional:
< 100 (< 2,6)
< 150
(< 1,71)
> 40 (1.04)
Diabetes mellitus4) oder zwei oder mehr Risikofaktoren1,2) , wenn 10-Jahres-Risiko über 20%.3)
"Stabile" KHK5)
< 100 (< 2,6)
optional:
< 70 (1,8)7)
< 150
(< 1,71)
> 40 (1.04)
"Stabile" KHK5) und Diabetes mellitus; "stabile" KHK5) und Rauchen; "instabile" KHK
< 70 (1,8)
< 150
(< 1,71)
> 40 (1.04)
1) Risikofaktoren:

Alter (Männer älter 45 Jahre; Frau älter 55 Jahre oder vorzeitige Menopause)

HDL-Cholesterin < 40 mg/dl (1,03 mmol/l)

Rauchen

Hypertonie (≥ 140/90 mmHg oder antihypertensive Behandlung)

positive Familienanamnese für KHK

Ein HDL-C > 60 mg/dl (1,55 mmol/l) neutralisiert einen anderen Risikofaktor, daher kann bei der Therapieentscheidung ein Risikofaktor abgezogen werden.

2) In der Primärprävention ist die alleinige Erniedrigung des HDL-C bisher keine Indikation für eine Pharmakotherapie.

3) Für Deutschland eignet sich der PROCAM-Algorithmus zur Berechnung des Risikos. Speziell für Patienten mit Diabetes mellitus steht der UKPDS-Risk Engine [9] zur Verfügung.

4) Sowohl die Deutsche Gesellschaft für Kardiologie, die aktuellen Richtlinien des NCEP als auch die American Diabetes Association fordern wenigstens ein LDL-C < 100 mg/dl (2,58 mmol/l) auch bei Typ-2-Diabetikern ohne Infarktanamnese.

5) Äquivalent zur stabilen KHK sind symptomatische zerebrovaskuläre Insuffizienz, periphere AVK und Aneurysma der A. abdominalis.


In den Leitlinien des National Cholesterin Education Program Adult Treatment Panel (NCEP-ATP) III [1, 2] wird der Diabetes mellitus zudem als "koronares Risikoäquivalent" eingestuft, dies auch dann, wenn noch keine klinisch manifeste KHK vorliegt. Für Personen ohne kardiovaskuläre Ereignisanamnese wird das Therapieziel aufgrund der Zahl der Risikofaktoren ermittelt. In Abwesenheit weiterer Risikofaktoren oder bei Vorliegen nur eines Risikofaktors ist das Therapieziel 160 mg/dl (4,2 mmol/l). Bestehen bei Patienten ohne KHK oder Diabetes mellitus zwei oder mehr Risikofaktoren, so beträgt das Behandlungsziel für LDL-C in jedem Fall 130 mg/dl (3,4 mmol/l) oder weniger [1, 2]. In dieser Gruppe wird eine annähernde Quantifizierung des globalen Risikos mit Risikokalkulatoren empfohlen. Wenn eine solche Berechnung einen Wert über 20% in 10 Jahren liefert, wird das Therapieziel auf 100 mg/dl (2,6 mmol/l) und weniger gesenkt. Leider bildet die deutsche Arzneimittelrichtlinie diesen sonst weltweit akzeptierten Konsens nicht ab. Die pauschale Relativierung der Primärprävention mit Statinen durch Taylor und Kollegen geht damit aber glatt ins Abseits; sie beantwortet eine Frage gleichermaßen eindeutig und falsch, die schon lange nicht mehr gestellt wird. In der Diskussion der Cochrane-Arbeit wird es aber wider Erwarten dann doch noch ausgewogen: Bei Personen mit einem Risiko von über 20% in 10 Jahren sei "… der Nutzen von Statinen wahrscheinlich größer als die potenziellen, kurzfristigen Gefährdungen, obgleich die langfristigen Effekte (über Jahrzehnte) unbekannt bleiben." Und: "Die Entscheidung für den Einsatz von Statinen in der Primärprävention sollte mit Bedacht und auf dem Hintergrund des globalen kardiovaskulären Risikoprofils des Patienten getroffen werden." Na also, und damit bestätigen die Autoren, was längst in allen Empfehlungen steht.

Aber: Auch bei einem geringeren globalen Risiko als 20% in 10 Jahren ist die Statintherapie ohne Frage effektiv. Es bleibt nur offen, ob wir uns eine solche Therapie leisten wollen. Leider sind gesundheitsökonomische Betrachtungen allzu oft nur auf den eigentlichen Beobachtungszeitraum der Studien beschränkt (Studien mit Statinen dauerten in der Regel fünf Jahre). Die Größe des potenziell lebenslangen Nutzens wird selten in Betracht gezogen.

Ohne nun die gültigen, einschlägigen Empfehlungen zum stratifizierten Einsatz von Statinen infrage stellen zu wollen, seien aber zur Illustration des Potenzials einer lebenslangen Statintherapie die folgenden, spekulativen und näherungsweisen Überlegungen angestellt: In jedem Altersstratum der deutschen Bevölkerung würde die Therapie mit einem Statin das Risiko für kardiovaskulären Tod um 30% senken (eine Annahme, die im ganz hohem Alter vielleicht nicht mehr zutrifft). Andere Todesursachen blieben unbeeinflusst. Die Behandlung mit einem generischen Statin (Tagestherapiekosten 50 Cent) würde bei allen Männern und Frauen mit Vollendung des 40. Lebensjahres begonnen. Unsere Simulation des Effekts auf der Grundlage der Sterbetafeln für die deutsche Bevölkerung (www.destatis.de, Genser und März, unveröffentlicht) ergibt dann für Männer eine Erhöhung der durchschnittlichen Lebenserwartung von 76,9 auf 79,6 und damit einen Zuwachs um 2,7 Jahre, für Frauen eine Erhöhung von 82,3 auf 84,3, also um 2,0 Jahre. Die Jahrestherapiekosten betragen etwa 180 Euro, die Kosten für die Therapie insgesamt etwas mehr als 7000 Euro, die Kosten pro gerettetem Lebensjahr lägen zwischen 3000 und 4000 Euro. Ganz sicher leistet sich unser Gesundheitswesen therapeutische Maßnahmen, bei denen die Kosten pro gerettetem Lebensjahr mit dem Zehnfachen dieser Beträge zu veranschlagen sind.

Fazit: Die von Taylor und Kollegen erhobenen Befunde [3] sind weder neu noch überraschend, sie werden von den Autoren leider selbst widersprüchlich interpretiert. Drängt sich da etwa der Eindruck auf, dass den Autoren ein schlechteres Abschneiden der Statine lieber gewesen wäre? Um im Jargon zu bleiben: "Evidenz" dafür haben wir nicht. Der Review und dessen Kommunikation jedenfalls eignen sich vor allem zur Verunsicherung und beschädigt daneben noch ganz ohne Not die Reputation der Cochrane-Collaboration.


Literatur

[1] Third Report of the National Cholesterin Education Program (NCEP) Circulation 2002;106:3143 – 421.

[2] Grundy SM, et al.: Implications of recent clinical trials for the National Cholesterin Education Program Adult Treatment Panel III guidelines. Circulation 2004;110:227 – 39.

[3] Taylor F, Ward K, Moore THM, et al. Statins for the primary prevention of cardiovascular disease (Review). The Cochrane Library 2011:1 – 72.

[4] Ray KK, et al.: Statins and all-cause mortality in high-risk primary prevention. Arch Intern Med 2010; 170:1024 – 31.

[5] Thavendiranathan P, et al. Primary prevention of cardiovascular diseases with statin therapy. Arch Intern Med 2006;166:2307 – 13.

[6] Mills EJ et al.: Primary prevention of cardiovascular mortality and events with statin treatments. J Am Coll Cardiol 2008;52:1769 – 81.

[7] Brugts JJ, et al.: The benefits of statins. BMJ 2009; 338b: 2376.

[8] Alsheikh-Ali AA, et al.: Effect of the magnitude of lipid lowering on risk of elevated liver enzymes, rhabdomyolysis, and cancer. J Am Coll Cardiol 2007;50:409 – 18.

[9] Stevens RJ et al: The UKPDS risk engine. Clin Sci (Lond) 2001;101: 671 – 9.


Autoren
Prof. Dr. med. Winfried März1,2, Dr. med. univ. Tanja B. Grammer2 und Dr. Bernd Genser2

1 Synlab Medizinisches Versorgungszentrum Heidelberg GmbH und Synlab Medizinisches Versorgungszentrum Leinfelden Echterdingen GmbH, Wasserturmstrasse 71, 69214 Eppelheim

2 Mannheimer Institut für Public Health, Sozial- und Präventivmedizin, Ludolf Krehl-Straße 7 – 11, 68167 Mannheim



DAZ 2011, Nr. 4, S. 69

0 Kommentare

Das Kommentieren ist aktuell nicht möglich.