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Quo vadis frühe Nutzenbewertung?

10. Novartis-Kolloquium zur Gesundheitsökonomie

BERLIN (tmb). Beim 10. Novartis-Kolloquium zur Gesundheitsökonomie am 29. November in Berlin ging es um Erfahrungen aus der frühen Nutzenbewertung und Perspektiven für dieses Verfahren. Dabei wurde der große bürokratische Aufwand deutlich. Ein Vergleich mit anderen europäischen Ländern zeigte Ähnlichkeiten zum hiesigen Konzept. Doch möglicherweise könnte eine mehr konsensorientierte Vorgehensweise in Deutschland mit weniger Aufwand ebenso wirksam sein.

Aus der Sicht der forschenden Industrie beklagte Dr. Andreas Kress, Novartis, die problematische Verhandlungsposition der Hersteller, denn diese könnten beim Scheitern der Verhandlungen das Arzneimittel nur vom Markt nehmen. Zudem verdeutlichte Kress den enormen Aufwand für die Erstellung der geforderten Nutzendossiers. Bei der Bewertung von Arzneimitteln im Bestandsmarkt müssten sogar alte Studien übersetzt werden, die voraussichtlich für die Bewertung nicht relevant würden. Bei einem nun aufgerufenen Bestandsarzneimittel sei mit über einer Million Euro Übersetzungskosten für Hunderte alter Studien gerechnet worden, doch habe es dazu einen Kompromiss mit dem Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) gegeben, der den Aufwand auf 200.000 bis 300.000 Euro verringere. Viele Millionen Euro kosten allerdings neue klinische Studien, die erforderlich werden, wenn der G-BA ein bisher nicht untersuchtes Vergleichsarzneimittel fordert. Kress beklagte, dass der Preis bei der Wahl der Vergleichstherapie im Vordergrund stehe. So würden Vergleichsarzneimittel gewählt, die für Studienzentren vielfach uninteressant seien. Solche Fragestellungen seien schwer in ein internationales Forschungsprogramm einzubringen, besonders wenn der G-BA die Anerkennung des Komparators nicht verbindlich zusage. Wünschenswert seien Kompromisse mit dem G-BA besonders, wenn die idealerweise nötigen Studien beispielsweise wegen der Dauer praktisch nicht durchführbar sind. Kress zeigte sich durchaus optimistisch, dass solche Lösungen künftig gefunden würden. "Wir sollten sehen, ob man mit weniger Aufwand ein gleich gutes Ergebnis erzielt", so Kress.

Vorbild Frankreich?

Möglicherweise kann auch der Blick ins Ausland helfen. Dirk Kars, Simon-Kucher & Partners, Köln, sieht Deutschland mit dem neuen Verfahren nicht mehr als Sonderfall an. Vielmehr sei hier nun der in vielen Ländern übliche "Dreisprung" aus Marktzugang, Nutzenbewertung und Preisverhandlung etabliert. Es gehe stets darum, subjektiven Nutzen zu objektivieren. Frankreich sieht Kars als das "heimliche Vorbild" für das neue Verfahren in Deutschland, zumal das Zusatznutzen-Rating in Frankreich eine ähnliche Ergebnisskala hat. Auch die Ergebnisse seien in beiden Ländern ähnlich, wobei das Verfahren nun in Frankreich strenger als früher gehandhabt werde. Anders als in Deutschland werde in Frankreich vor der Nutzenbewertung eine Erstattungsquote für ein Arzneimittel festgelegt, die aber für die meisten Patienten wegen einer Zusatzversicherung irrelevant ist. In Frankreich solle diese Bewertung künftig mit dem Zusatznutzen-Rating verknüpft werden.

Varianten in Italien und Spanien

Italien beschrieb Kars als Land der "experimentierfreudigen Verhandlungsprofis". Die Verträge in Italien würden zu temporärer Erstattung und temporären Preisen führen, was in Europa einmalig sei. Die italienische Bewertungsorganisation arbeite mit den klinischen Experten für die jeweilige Indikation zusammen. Dies sichere hohe Kompetenz und zugleich hohe Akzeptanz, weil die Meinungsbildner beteiligt werden. Eine Besonderheit seien die in Italien genutzten ergebnisorientierten Verträge mit vielen Arten der Ergebnismessung. Für Onkologika sei dies das Standardvorgehen. Als Neuerung für die Nutzenbewertung in Italien sei ein komplizierter Algorithmus angekündigt worden, der derzeit getestet werde. Problematisch seien die zusätzlichen Regelungen durch regionale Behörden.

Dies gelte noch stärker für Spanien, wo in verschiedenen Landesteilen sehr heterogene Regelungen bestehen, die zudem je nach Kassenlage schwanken. Insgesamt sei die Entwicklung in Spanien sehr stark vom Budget getrieben, besonders seit Beginn der Schuldenkrise, so Kars. Die Preisreferenzierung werde genutzt, um möglichst die niedrigsten Preise in Europa zu erzielen, denn der Preis sei dort die einzige steuerbare Größe. Als neueste Entwicklung in Spanien solle nun die ohnehin bereits hohe Arzneimittelzuzahlung der Patienten deutlich erhöht und vom Einkommen abhängig gemacht werden.

Neue Wege in Großbritannien?

So gibt es international viele Instrumente zur Regulierung der Arzneimittelpreise durch Nutzenbewertungen, Preisverhandlungen und Verträge, aber gesundheitsökonomische Bewertungen gingen in den meisten Ländern nur in einem sehr weit gefassten Sinn ein, so Kars. Dagegen gehören England und Wales zu den Pionieren gesundheitsökonomischer Bewertungen. Dort werde jetzt aber versucht, die eher strenge Orientierung an den Kosten pro qualitätsbereinigtem Lebensjahr (QALY) zu überwinden und die Bewertung breiter aufzustellen, erklärte Kars. Dabei sollten die Krankheitslast und die gesellschaftlichen Aspekte der Therapie vom Arbeitsausfall bis zum Pflegeaufwand stärker berücksichtigt werden. Offen sei insbesondere, wie der Bestandsmarkt bearbeitet werden soll und ob Preise steigen könnten, wenn neue Daten vorliegen. In Großbritannien, das große Erfahrungen mit der ergebnisorientierten Honorierung hat, gehe der Trend nun eher wieder weg von solchen Verträgen; nur bei onkologischen Produkten bleibe dieses Konzept weiter üblich, erläuterte Kars.

Vision für die Pharmakoökonomie

In weiteren Beiträgen ging es um die Patientenvertretung beim G-BA, ein System zur Evidenzbewertung und ethische Aspekte der Nutzenbewertung. Herausragend war ein Vortrag von Prof. Dr. Axel Mühlbacher, Hochschule Neubrandenburg, zur Nutzenbewertung auf der Grundlage multipler patientenrelevanter Endpunkte. Der beschriebene Ansatz könnte ein klassisches Dilemma der Pharmakoökonomie lösen. Dabei geht es um Patientenpräferenzen, die aus Sicht der ökonomischen Theorie der entscheidende Maßstab für jeden Nutzen sind, die aber nur schwer messbar sind, wie Mühlbacher anhand von Präferenzen in anderen Lebensbereichen zeigte. Auch Rankings zwischen vielen Alternativen seien nur schwer aufzustellen, doch Menschen seien aus dem Alltag gewohnt zwischen zwei Alternativen zu entscheiden, beispielsweise bei der politischen Wahl zwischen zwei Spitzenkandidaten für ein Amt. Dies lässt sich wissenschaftlich in Discrete-Choice-Experimenten (DCE) ausnutzen, die im Marketing weit verbreitet sind. Für die Anwendung im gesundheitsökonomischen Kontext mag dies befremdlich erscheinen, aber Mühlbacher machte deutlich, dass gerade dies ein gutes Argument für die Praktikabilität der Analyseform ist. Es gehe hier nicht um "weiche" Faktoren, sondern um klare Entscheidungen der Patienten, betonte Mühlbacher. Wenn Probanden in sehr vielen paarweisen Vergleichen ihre jeweils bevorzugte Alternative äußern, sei aus den Eigenschaften dieser Alternativen zu erkennen, worin der persönliche Nutzen der Probanden liegt. Mit solchen Wahlentscheidungen könne dies besser als mit jeder anderen Methode ermittelt werden, postulierte Mühlbacher, allerdings sei die statistische Auswertung hier aufwendiger. Zudem müsse die Beziehung zwischen klinischen Effektdaten und dem empfundenen Nutzen für die Patienten keineswegs linear sein. Außerdem müssten verschiedene Endpunkte gewichtet werden.

Dass dies alles möglich ist, zeigte Mühlbacher anhand einer Pilotstudie zur antiviralen Therapie bei Hepatitis C. Daraus lasse sich ablesen, welche Bedeutung die befragten Probanden einem bestimmten Attribut einer Behandlung beimessen, beispielsweise der Senkung der Viruslast, der Art der Applikation oder der Dauer der Therapie. Als weitere Folge lasse sich eine quantitative Größe zur Nutzenbewertung ermitteln, die in Konkurrenz zu den international üblichen, aber in vieler Hinsicht problematischen QALYs treten könnte. So könnten Effizienzgrenzen konstruiert werden, wie sie das IQWiG favorisiert. Das gelinge auch indikationsübergreifend und es könnten sogar Rangreihungen von Therapiealternativen ermittelt werden. Langfristig erwartet Mühlbacher, das Verfahren könne Kosten-Effektivitäts-Analysen ersetzen. Damit würden neue Bewertungsverfahren möglich, bei denen sich das große Problem der Wahl der Vergleichstherapie erübrige.



DAZ 2012, Nr. 49, S. 32

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