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Was sagen denn die Apotheker dazu?

Gerhard Schulze

Heute schreibe ich über Bärentraubenblättertee, der aus der Hausapotheke meiner Großmutter nicht wegzudenken war. Sie brühte sich bei Symptomen einer beginnenden Harnwegsinfektion eine Tasse auf und durfte hoffen: Gleich ist der Spuk vorbei! Der Tee half zuverlässig, und sie vermied damit, dass sich die Infektion weiter ausbreitete. In der "armen Zeit" wie sie es nannte, konnte das lebensrettend sein.

Bis heute greifen für Harnwegsinfektionen anfällige Menschen auf Bärentraubenblätter zurück. Nicht bei jeder Attacke wollen sie sich gleich ein Antibiotikum verordnen lassen und trinken lieber ihren Tee, der eine vergleichbare Wirkung hat, aber weitaus harmloser ist.

Zwei Behauptungen in der Oktober-Ausgabe der Zeitschrift Ökotest hatten das Ziel, das Vertrauen in diese schlichte und effiziente Maßnahme zu erschüttern. Erstens: Bärentraubenblättertee kann Krebs auslösen! Zweitens: Man braucht nur eine Tasse heißes Wasser zu trinken, um den gleichen therapeutischen Effekt zu erzielen.

Was als gutes und unbedenkliches Produkt gilt und was nicht, entscheidet sich heute vor allem im Internet, in der Stiftung Warentest, in den Verbraucherzentralen und in den Redaktionsräumen der Zeitschrift Ökotest. Gerade mit deren Logo schmücken immer mehr Hersteller ihre Produkte, was die Bekanntheit und das öffentliche Gewicht der Zeitschrift immer weiter erhöht.

Die Apotheker haben auch ein schönes Logo. Das kennt zwar jeder, aber seine Außenwirkung bleibt weit hinter der des Ökotest-Logos zurück. Die 16 Redakteure von Öko-Test prägen die öffentliche Meinung, die Apotheker nicht. Doch wer hat mehr pharmazeutischen Sachverstand? Wer durchschaut die Denkfehler, wer widerlegt die falschen Behauptungen, wer korrigiert die Irreführung der Öffentlichkeit? Niemand. Stattdessen sehen sich nun die Apotheker dem Verdacht ausgesetzt, krebserregende Tees an ihre Kunden abzugeben.

Die Apotheker wissen, dass die Wirkstoffe der Bärentraubenblätter Keime nachweislich töten. Sie wissen, dass ein Glas heißes Wasser nicht die gleiche Wirkung hat und gar nicht haben kann. Sie wissen, dass ein paar Tassen Tee keinen Krebs auslösen und nie auslösen werden. Sie könnten ihre Stimme erheben und alle Behauptungen über den Bärentraubenblättertee als das entlarven, was sie sind, nämlich Bullshit – wenn sie eine solche Stimme hätten: eine Stimme unabhängig von Verkaufsinteressen und fernab von Verbandspolitik, die mit ganz anderen Themen befasst ist.

"Was sagen denn die Apotheker dazu?" – auf diese Frage hätte eine von ständigem Fehlalarm genervte und gegen echte Gefahren zugleich immer mehr abstumpfende Öffentlichkeit gerne eine Antwort, doch woher soll die kommen?

Die pharmazeutische Fachpresse informiert zwar aktuell und solide, wendet sich aber nicht an die Öffentlichkeit. Die Kundenzeitschriften sind zwar leicht verständlich, werden aber auch als Werbeträger wahrgenommen. Ein unabhängiger Informationsdienst, der sich diesen Namen freilich erst verdienen müsste, wäre nicht von heute auf morgen auf die Beine zu stellen, aber wenn es ihn geben würde, hätten die Apotheker ein Problem weniger: ihre fast vollständige öffentliche Unsichtbarkeit, auch wenn das Apotheken-A noch so schön leuchtet.

"Uns fehlt ein Weißbuch", schrieb Peter Ditzel, Apotheker und Herausgeber dieser Zeitung, in Ausgabe 43/2012. Er bezog sich damit auf eine Initiative der niederländischen Apotheker, bei der es darum geht, die Rolle der Apotheker grundsätzlich zu überdenken und Perspektiven ihrer langfristigen Transformation zu entwickeln. Das ist mehr als bloß eine gute Idee – es ist dringend geboten.

Dabei muss es zwar, wie bei den Niederländern, in erster Linie um den Heilberuf Apotheker gehen, aber das wäre noch nicht genug, wie das Beispiel Bärentraubenblättertee zeigt. Es muss in diesem Weißbuch auch um das öffentliche Gewicht der Apotheker gehen. Sie müssen zu einer Instanz werden, die sich tagesaktuell und unüberhörbar zu Wort meldet, und die dazwischengeht, wenn unsinnige Behauptungen in die Welt gesetzt werden.

Den Apothekern, die ich persönlich kenne, wird dies eher widerstreben, weil sie nüchterne und im Stillen wirkende Menschen sind. Das ist gut so, wenn es unmittelbar um die heilberufliche Tätigkeit geht. In der Öffentlichkeit des Internetzeitalters jedoch kommt es darauf an, sich in der Aufmerksamkeitskonkurrenz durchzusetzen und Deutungshoheit zu beanspruchen, wenn es sein muss auch lautstark und kämpferisch – sonst tun dies andere, die Kompetenz nur vorgeben, aber keine Ahnung haben.


Gerhard Schulze


Gerhard Schulze, geb. 1944, ist Professor für Soziologie an der Universität Bamberg. Seine Arbeiten untersuchen den kulturellen Wandel der Gegenwart.



DAZ 2012, Nr. 49, S. 30

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