Aus der Hochschule

„Academia und Industrie müssen an einem Strang ziehen“

Diskussion über die Zukunft der hessischen Gesundheitsindustrie

Antibiotikaresistenzen, seltene Krankheiten, der Umgang mit vernachlässigten Infektionskrankheiten, die Zukunft der hessischen Pharmaindustrie und ihre Zusammenarbeit mit der Academia waren Themen bei der Podiumsdiskussion „Gesundheitsindustrie in Hessen“ am 1. Februar 2017 im Rahmen des Studiums Generale der Philipps-Universität Marburg. Die Diskussion mit renommierten Vertretern aus der Wissenschaft sowie der hessischen Unternehmen CSL Behring, GSK Vaccines, Merck und Sanofi wurde von der Universität, der Initiative Bio- und Nanotechnologie Marburg, der Initiative Gesundheitsindustrie Hessen und House of Pharma and Healthcare veranstaltet.

Der hessische Gesundheitsminister Stefan Grüttner brachte in seinem Grußwort die aus seiner Sicht drängendsten Herausforderungen im Gesundheitswesen auf den Punkt: „Erreger, die Ärzte lange Zeit wirksam bekämpfen konnten, gewinnen auf einmal wieder die Oberhand. Studien gehen davon aus, dass allein in Europa jedes Jahr 25.000 Menschen infolge von Antibiotikaresistenzen sterben. Deshalb sind dringend verstärkte Aktivitäten notwendig, um Resistenzen zu verringern und neue wirksame Antibiotika zu entwickeln. Auf Initiative des Landes Hessen wurde die ­Optimierung der Forschung und Entwicklung im Bereich der Antibiotikaresistenzen zum Thema im Pharma­dialog gemacht.“

Foto: Regina Gerlach-Riehl Philipps-Universität Marburg
Teilnehmer der Podiumsdiskussion „Gesundheitsindustrie in Hessen.V.l.: Prof. Dr. Michael Bölker (Vizepräsident Forschung der Universität Marburg), Dr. Lutz Bonacker (CSL Behring), Prof. Dr. Jochen Maas (Sanofi), Prof. Dr. Katja Becker (DFG-Vizepräsidentin, Universität Gießen), Prof. Dr. Michael Keusgen (Dekan Fachbereich Pharmazie, Universität Marburg), Frank Gotthardt (Merck), Dr. Joachim Schwarzkopf (GSK Vaccines).

Gesellschaftliche Verantwortung von Forschung und Industrie

Die Bekämpfung von Infektionskrankheiten könne keiner im Alleingang schaffen, sondern erfordere die Vernetzung aller Akteure, betonte Grüttner. Dem stimmten die Diskutanten uneingeschränkt zu. Sie hoben besonders ihre gesellschaftliche Verantwortung für die Bekämpfung seltener und vernachlässigter Krankheiten hervor, von denen eine Milliarde Menschen weltweit betroffen seien, wie die Gießener Medizinerin Prof. Dr. Katja Becker, Vizepräsidentin der Deutschen Forschungsgemeinschaft, sagte. Die Krankheiten seien häufig Folge von Armut, gewaltsamen Konflikten und Migration. Auch die Klimaveränderungen spielten eine Rolle.

Frank Gotthardt, Leiter Public Affairs bei Merck in Darmstadt, nannte die Bilharziose als Beispiel für eine solche vernachlässigte Infektionskrankheit, die zweithäufigste Tropenkrankheit nach Malaria mit jährlich 200 Millionen Erkrankten. Als die Weltgesundheitsorganisation 2007 Tabletten gegen Bilharziose dringend benötigt habe, sei es nur mithilfe von Spenden möglich gewesen, viele Kinder in Afrika zu behandeln, berichtete Gotthardt. Er gab zu bedenken, dass die Verfügbarkeit von Wirkstoffen auch ein volkswirtschaftlicher Faktor sei: „Wenn Menschen krank sind, kann sich eine Gesellschaft nicht entwickeln.“ Dr. Lutz Bonacker, Mitglied der Geschäftsführung von CSL Behring in Marburg, sieht hier besonders die Regierungen in der Pflicht. Insgesamt gäbe es für das Problem, wie Impfstoffe und Medikamente besonders für Menschen in den Entwicklungsländern erschwinglich werden können, noch keine zufriedenstellende Lösung, so der Moderator der Diskussion, Prof. Dr. Michael Keusgen.

Mehr als Medikamenten­entwicklung

Impfen sei die beste Prävention, waren sich die Diskutanten einig, doch die Entwicklung neuer Impfstoffe dauere lange und sei kompliziert. Beispiel Malaria: „Der Erreger produziert innerhalb einer Stunde 16 Nachkommen und verändert dabei 1% seines Genoms“, erläuterte Prof. Dr. Katja Becker die Herausforderung im Kampf gegen diese Krankheit. Es gehe insgesamt aber nicht nur um Medikamentenentwicklung, sagte Prof. Dr. Jochen Maas von Sanofi in Frankfurt, Hochschulratsmitglied der Marburger Universität und Vizepräsident von House of Pharma and Healthcare. Damit Forschung und ­Industrie den Menschen helfen können, müsse es Aufklärung über Krankheiten und Impfmöglichkeiten geben, die Medikamente müssten ­logistisch verfügbar, bezahlbar sowie kulturell akzeptiert sein.

Hessische Pharmaindustrie mit hoher Wertschöpfung

Um die Zusammenarbeit zu intensivieren, hat die Initiative Gesundheits­industrie in Hessen (IGH) Forschung, Industrie und Politik an einen Tisch gebracht, sagte Maas, der die Werkstatt Wissenschaft und Forschung bei der IGH leitet. Für die weitere Entwicklung der Pharmaindustrie in Hessen hält Dr. Joachim Schwarzkopf von GSK Vaccines in Marburg die Qualifikation der Mitarbeiter für einen entscheidenden Faktor. Die Universität und besonders das Institut für Virologie seien für GSK ein wichtiger Partner für Innovationen.

„Lasst uns nicht länger in zwei Welten denken“

„Wie können Forschung und Industrie künftig noch besser zusammenarbeiten?, fragte Moderator Keusgen. Für Becker ist am wichtigsten: „Wir brauchen Zeit zum Nachdenken, in welche Richtung die Forschung gehen soll und wo innovative Ansätze zu finden sind.“ Aus der Sicht von Prof. Maas sollten alle Beteiligten an einem Strang ziehen: „Universitäten und Industrie brauchen neue Modelle der ­Kooperation, beispielsweise wäre die Zusammenarbeit im Labor wichtig, nur so kann zielgerichtet geforscht werden“, ist er überzeugt. „Forscher sollten nicht nur in Publikationen ­denken, die Industrie nicht nur in ­Patenten. Lasst uns nicht länger in zwei Welten denken, sondern beide zusammenbringen.“

Im Hinblick auf die Zukunft der hessischen Pharmaindustrie betonten Dr. Joachim Schwarzkopf von GSK und Dr. Lutz Bonacker von CSL Behring, dass ihre Unternehmen den Standort Marburg weiter stärken wollen. Becker setzt auf die Bewilligung eines neuen Forschungsprojekts zu seltenen Infektionskrankheiten, in das viele hessische Partner eingebunden seien.

Eine Trennung von Pharmaproduktion und Forschung und Entwicklung ­müsse vermieden werden, sagte Prof. Dr. Jochen Maas. Zum Wohle der ­Patienten halte er es für wichtig, dass ­Hessen ein lukrativer Standort bleibe und die Produktion nicht ins Ausland verlagert werde. An die ­Politik richtete er den Appell, nicht ­vorrangig auf Kosten zu achten, sondern auf Innovationen. |

Dr. Christof Wegscheid-Gerlach,Dekanat Pharmazie, Philipps-Universität Marburg

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