Arzneimittel und Therapie

Antidepressiva nicht nur für schwere Fälle

Auch Patienten mit leichten Depressionen könnten profitieren

Eine medikamentöse Therapie mit Antidepressiva wird bei Patienten mit leichten depressiven Episoden meist als wenig sinnvoll erachtet. Doch die Ergebnisse einer aktuellen Metaanalyse stellen diese Annahme infrage.

Die Schwere der Depression wird in der ICD-10, der aktuell gültigen Fassung der International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems, anhand von vorhandenen Symptomen klassifiziert. Dabei ist allein deren numerische Anzahl entscheidend. Folgende Symptome werden für die Klassifikation herangezogen: gedrückte Stimmung, Antriebsminderung, leichte Erschöpfbarkeit, Freud- und Interessenlosigkeit, Konzentrationsstörungen, Schlafstörungen, Appetitminderung, vermindertes Selbstwertgefühl, vermindertes Selbstvertrauen, Schuldgefühle, Morgentief, psychomotorische Hemmung, Gewichtsverlust, Agitiertheit und Libidoverlust. Sind zwei bis drei dieser Symptome vorhanden, spricht man von einer leichten Depression, bei vier oder mehr Symptomen von einer mittelgradigen Depression. Liegen mehrere „quälende“ Symptome vor, handelt es sich um eine schwere Depression. Wie stark die einzelnen Symptome ausgeprägt sind, wird dabei nicht berücksichtigt. Objektivierbare Marker (z. B. Biomarker) gibt es derzeit noch nicht.

Foto: Gina Sanders – stock.adobe.com

Hilfe in der Not Antidepressiva scheinen auch bei leichten Depressionen effektiv zu sein. Der Zustand bessert sich unter einer Therapie allerdings nicht sofort. Die Wirkung macht sich meist erst nach zwei bis drei Wochen bemerkbar.

Die Einstufung der Patienten hinsichtlich der Erkrankungsschwere gemäß ICD-10 erfolgt bei der Diagnosestellung durch den Arzt. Daran orientiert sich die Therapie. Auch für die Kranken­kassen ist der Schweregrad entscheidend, wenn es um die Erstattung von Therapien, Krankenhausaufenthalten oder ambulanten Behandlungsmethoden geht. Zudem wird die Klassifikation im Rahmen von Zulassungsstudien genutzt. Auf den Ergebnissen basiert die Indikation eines Arzneimittels. So sind Antidepressiva zur Behand­lung der Major (= schweren) Depression ­zugelassen, Johanniskraut-Exktrakte hingegen bei leichten bis mittelgradigen Depressionen.

Therapie nach Schweregrad

Die meisten Leitlinien, auch die Deutsche S3-Leitlinie zur Therapie der ­unipolaren Depression, geben je nach Schweregrad der Depression unterschiedliche Therapieempfehlungen. Eine Pharmakotherapie soll insbesondere bei mittelgradigen und schweren Depressionen angeboten werden. Doch neurochemisch betrachtet und bei allem was heute über morphologische Veränderungen im Gehirn (z. B. Progression der Hippocampus-Volumenminderung bei unbehandelten Depressionen) bekannt ist, sollte diese Klassifikation der Patienten in Gruppen und die Empfehlung zu unterschiedlichen Behandlungsstrategien hinterfragt werden. Auch die Ergebnisse einer ­aktuellen Metaanalyse weisen darauf hin, dass nicht nur Patienten mit einer schweren Depression von einer Therapie profitieren [1]. Dazu werteten die Wissenschaftler um Fredrik Hieronymus alle bei der US-amerikanischen Zulassungsbehörde FDA registrierten Zulassungsstudien zu häufig verordneten Antidepressiva auf Patientenebene aus. Sie konnten so die Wirksamkeit der Antidepressiva bei 2981 Patienten unter Paroxetin, 1202 Patienten unter Sertralin, 754 Patienten unter Fluoxetin sowie 744 Patienten unter Citalopram und 2581 Patienten unter Placebo vergleichen. Es zeigte sich, dass sich die depressiven Symptome bei einer Behandlung mit Antidepressiva auch bei Patienten mit leichter Depression verringerten. In vorherigen Untersuchungen war dieser Effekt nicht aufgefallen, da die übliche Hamilton Depression Rating Scale – die HDRS-17 – zur Beurteilung des Therapierfolgs verwendet worden war (s. Kasten „Hamilton Depression Rating Scale“) und lediglich die Durchschnittswerte in den Gruppen betrachtet wurden.

In der aktuellen Untersuchung wurden die 17 Parameter der Hamilton Depression Rating Scale einzeln analysiert und dann in sechs „Kern-Symptome“ und elf „Nicht-Kern-Symptome“ zusammengefasst. Die Auswertung ergab, dass bei Patienten mit einer leichten Depression vor allem die „Nicht-Kern-Symptome“ seltener auftreten als bei Patienten mit einer schweren Depression, was sich in einem niedrigeren Gesamtsummenscore der Hamilton-Skala widerspiegelt. Hingegen waren die sechs „Kern-Symptome“ (Niedergeschlagenheit, Antriebslosigkeit, Interessenlosigkeit, Schuldgefühle, Angst sowie allgemeine somatische Symptome) vor Therapiebeginn auch bei Patienten mit leichter bis mittelgradiger Depression deutlich ausgeprägt.

Hamilton Depression Rating Scale

Die Wirksamkeit einer anti­depressiven Medikation wird international meist an der Hamilton Depression Rating Scale (HDRS) gemessen: 50% Verbesserung des Scores wird dabei als Therapieansprechen gewertet. Die Fremdbeurteilungsskala besteht aus 17 Fragen und wird bereits seit 1960 genutzt. Die Schwere der einzelnen Symptome wird mit einer Punkteskala (0 bis 4 oder 0 bis 2) bewertet. In der S3-Leitlinie/NVL „Unipolare Depression“ sind für die HDRS-17 folgende Kategorien angegeben:

  • 0 bis 8 Punkte: keine Depression bzw. klinisch unauffällig oder remittiert
  • 9 bis 16 Punkte: leichte Depression
  • 17 bis 24 Punkte: mittel­gradige Depression
  • ≥ 25 Punkte: schwere Depression

„Kern-Symptome“ verringert

Bei diesen Symptomen ergab sich durch die Gabe eines Antidepressivums nicht nur bei Patienten mit schwerer Depression sondern auch bei leichter bis mittelgradiger Depression eine signifikante Verbesserung.

Die Interpretationen der bisherigen Studien werden tatsächlich fragwürdig, wenn man sich die einzelnen „Nicht-Kern-Symptome“ genauer anschaut. Diese entsprechen in einigen Punkten dem potenziellen Nebenwirkungsprofil der Antidepressiva (z. B. sexuelle Funktionsstörungen, Gewichtsveränderungen, gastrointesti­nale Beschwerden, Schlafstörungen, Suizidgedanken, Unruhe). In diesen Bereichen haben Patienten nach Ansetzen eines Antidepressivums unter Umständen höhere Punktwerte erzielt als vor Therapiebeginn – obwohl die „Kern-Symptome“ womöglich deutlich rückläufig waren. Patienten, die bereits vor der Behandlung mit einem Antidepressivum entsprechende Beschwerden hatten, werden sich durch eine leichte Zunahme der Symptome kaum beeinträchtigt fühlen – Patienten, die dieses Symptom zuvor nicht aufwiesen, hingegen schon. Das kann dazu führen, dass bei der Ermittlung des Hamilton-Scores verstärkt diese neuen Symptome angegeben werden und damit der HDRS-17-Summenscore bei leicht bis mittelgradigen Depressionen im Verlauf mehr oder weniger gleich bleibt: Die „Kern-Symptome“ verbessern sich, die „Nicht-Kern-Symptome“ verschlechtern sich. Gemutmaßt werden kann jedoch, dass gerade die Verringerung der „Kern-Symptome“ die Lebensqualität der Patienten stark verbessert. Die Nebenwirkungen der Antidepressiva verschwinden zudem meist im Behandlungsverlauf.

Viele offene Fragen

Aus den Ergebnissen von Hieronymus et al. ergeben sich neue Fragestellungen in der Behandlung und der Diagnostik der Depression: Ist die Beurteilung des Schweregrads anhand der numerischen Anzahl von Symptomen sinnvoll? Ist die Liste der Symptome umfassend und spezifisch genug? Warum besteht bei einigen Patienten eine Vielzahl an Symptomen und bei anderen nicht? Drückt dies wirklich die Schwere der Depression aus, oder gibt es bislang unberücksichtigte unterschiedliche Erkrankungsformen? Unterscheiden sich die neurobiologischen und neurochemischen Abläufe im Gehirn bei Patienten mit leichten und schweren Depressionen? Benötigen die Patienten mit unterschiedlicher Schwere der Symptome wirklich eine andere Behandlung? Sollte man eine neue Bewertungsskala als Gold-Standard in Zulassungsstudien verwenden, die die Einschränkungen in der Lebensqualität des Patienten besser abbildet und somit das klinische Bild besser widerspiegelt?

Die Ergebnisse der aktuellen Metaanalyse unterstreichen einmal mehr, dass wir noch recht wenig über das Krankheitsbild der Depression wissen und dringend biologische Marker für psychiatrische Erkrankungen gefunden werden sollten – zur Diagnostik aber auch zur Beurteilung eines Therapieansprechens auf die unterschiedlichen Behandlungsoptionen.

Der HDRS-17 erscheint nicht mehr zeitgemäß, um die Schwere einer Depression zu beurteilen. Die Skala wurde bereits zuvor als veraltet und nicht sensitiv genug eingestuft [2, 3]. Auch in anderen Metaanalysen wurde die Wirksamkeit von Antidepressiva bei leichten und mittelgradigen Depressionen bestätigt [4, 5]. Dies könnte pro­gnostisch bedeutsam sein, da eine Chronifizierung der Depression eventuell durch einen frühzeitigeren Einsatz von Antidepressiva verhindert werden könnte. Auch volkswirtschaftlich ist dies von Relevanz, da die Anzahl der Krankschreibungstage aufgrund von schweren Depressionen in den letzten Jahren stark gestiegen ist. |

Prof. Dr. Martina Hahn, Vitos Klinik Eichberg

Literatur

[1] Hieronymus F et al. Influence of baseline severity on the effects of SSRIs in depression: an item-based, patient-level post-hoc analysis. Lancet Psychiatry 2019; doi:10.1016/S2215-0366(19)30216-0

[2] Bagby MR et al. The Hamilton Depression Rating Scale: has the gold standard become a lead weight? Am J Psychiatry 2004;161(12):2163-2177

[3] Licht RW et al. Validation of the Bech-Rafaelsen Melancholia Scale and the Hamilton depression scale in patients with major depression; is the total score a valid measure of illness severity? Acta Psychiatr Scand 2005;111(2):144–149

[4] Melander H et al. A regulatory Apologia – a review of placebo-controlled studies in regulatory submissions of new-generation antidepressants. Eur Neuropsychpharmacol 2008;18(9):623-627

[5] Fountoulakis KN et al. No role for initial severity on the efficacy of antidepressants: results of a multi-meta-analysis. Ann Gen Psychiatry 2013;12(1):26

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