Arzneimittel und Therapie

„ASS nur in begründeten Einzelfällen!“

Ein Gastkommentar zur primären venösen Thromboembolieprophylaxe

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Prof. Dr. med. Sylvia Haas
Mitglied des Koordi­nationskomitees der S3-Leitlinie Prophylaxe der venösen Thromboembolie

Die Publikation einer Metaanalyse der klinischen Effektivität und Sicherheit von Acetylsalicylsäure (ASS) zur Prophylaxe venöser Thromboembolien (VTE) nach Hüft- und Kniegelenksersatzoperationen hat bereits kurz nach ihrem Erscheinen für Diskussionen gesorgt [1]. Auch das Koordinationskomitee der S3-Leitlinie zur VTE-Prophylaxe wurde mittlerweile von Orthopäden und Unfallchirurgen mit der Frage konfrontiert, ob man auf die bisher empfohlene Gabe von niedermolekularem Heparin (NMH) zur Thromboembolieprophylaxe verzichten und einfach Acetylsalicylsäure (ASS) verschreiben kann – zumal in einem Kommentar zu der Arbeit von Matharu et al. die Gabe von ASS zur verlängerten Thromboseprophylaxe nach Knie- oder Hüftprothesenoperationen als ähnlich effektive und sichere Prophylaxe wie andere Antikoagulanzien empfohlen wird [2].

Erhebliche Schwächen

Dieses Fazit kann das Koordinationskomitee der deutschen S3-Leitlinie aus folgenden Gründen nicht teilen:

Keine reine ASS-Monotherapie. Die Arbeit von Matharu et al. hat erhebliche Schwächen, insbesondere da in manchen der in der Metaanalyse berücksichtigten randomisierten, kontrollierten Studien ASS nicht als Monoprophylaxe, sondern in Kombination mit anderen Methoden im Vergleich zu einer antikoagulationsbasierten Prophylaxe untersucht wurde. So wurde in einer Studie beispielsweise eine „Hybridprophylaxe“, bestehend aus Rivaroxaban für fünf Tage gefolgt von ASS für die weitere Zeit, mit der Gabe von Rivaroxaban über den gesamten Studienzeitraum verglichen [3]. In einer anderen Studie wurde NMH für zehn Tage verabreicht, bevor in der „ASS-Gruppe“ auf ASS umgestellt wurde [4]. Eine weitere Arbeitsgruppe verglich die Kombination aus medikamentöser Prophylaxe mit ASS plus physikalischer Prophylaxe (intermittierende pneumatische Kompression, IPC) mit einer NMH-Monoprophylaxe [5].

Obsolete Vergleichstherapie. Es wurden zwei Studien in die Metaanalyse eingeschlossen, in denen ASS mit Dextran verglichen wurde [6, 7]. Dextran wird in den nationalen und internationalen Leitlinien schon seit langer Zeit nicht mehr als adäquate VTE-Prophylaxe anerkannt.

Große Bandbreite an Dosierungen. Die getesteten Dosierungen von ASS schwanken von 81 mg täglich bis zu 3000 (!) mg täglich (zweimal täglich 1500 mg).

Geringe Fallzahlen. Die Fallzahlen einiger Studien sind sehr niedrig. In sieben von 13 Studien wurden weniger als 150 Patienten eingeschlossen, was aus statistischer Sicht als fragwürdig angesehen werden muss.

Uneinheitliche Endpunkte. Die Erfassung des klinischen Endpunkts ist in den einzelnen Studien sehr unterschiedlich. Es wurden Studien zusammengefasst, in denen die Patienten einem objektiven Screening hinsichtlich asymptomatischer tiefer Venenthrombosen unterzogen wurden oder sich durch klinische Beobachtung ein Verdacht auf ein symptomatisches Ereignis ergab, welches anschließend verifiziert werden musste.

Es gibt wirksamere Optionen

Aufgrund unserer inhaltlichen und methodischen Analyse der Publikation von Matharu et al. kommen wir zu dem Schluss, dass diese Metaanalyse keinen Anlass gibt, die Empfehlungen der evidenzbasierten S3-Leitlinie zu revidieren. Die Aussagen zum Einsatz von ASS zur VTE-Prophylaxe lauten weiterhin: „ASS soll zur VTE-Prophylaxe nur in begründeten Einzelfällen eingesetzt werden (Expertenkonsens). Zugelassene Arzneimittel zur wirksamen medikamentösen VTE-Prophylaxe sind Heparine, Danaparoid, Faktor-Xa-Inhibitoren, Thrombin-­Inhibitoren und Vitamin-K-Antagonisten (Cumarine). ASS ist zur venösen VTE-Prophylaxe einer Metaanalyse zufolge nur schwach wirksam [8]. Da wirksamere Medikamente allgemein zur Verfügung stehen, rät die Leitliniengruppe von der Verwendung dieses Wirkstoffs zur VTE-Prophylaxe ab [9].“

Somit verbleibt die Gabe von ASS zur primären venösen Thrombo­embolieprophylaxe weiterhin im Bereich des Off-Label-Use. |
 

Literatur

[1] Matharu GS et al. Clinical effectiveness and safety of aspirin for venous thromboembolism prophylaxis after total hip and knee replacement. A systematic review and meta-analysis of randomized clinical trials. JAMA Intern Med 2020; doi:10.1001/jamainternmed.2019.6108

[2] Siegmund-Schultze N. Thromboseprophylaxe nach Endoprothesenimplantation: Acetylsalicylsäure vergleichbar wirksam und sicher wie andere Antikoagulantien. Dtsch Arztebl 2020;117(7):A-334/B-296/C-284

[3] Anderson DR et al. Aspirin or rivaroxaban for VTE prophylaxis after hip or knee arthroplasty. N Engl J Med 2018;378(8): 699-707

[4] Anderson DR et al. Aspirin versus low-molecular-weight heparin for extended venous thromboembolism prophylaxis after total hip arthroplasty: a randomized trial. Ann Intern Med 2013;158(11):800-806

[5] Gelfer Y et al. Deep vein thrombosis prevention in joint arthroplasties: continuous enhanced circulation therapy vs low molecular weight heparin. J Arthroplasty 2006;21(2):206-214

[6] Harris WH et al. Prophylaxis of deep-vein thrombosis after total hip replacement: dextran and external pneumatic compression compared with 1.2 or 0.3 gram of aspirin daily. J Bone Joint Surg Am 1985;67(1):57-62

[7] Kim YH et al. Prophylaxis for deep vein thrombosis with aspirin or low molecular weight dextran in Korean patients undergoing total hip replacement: a randomized controlled trial. Int Orthop 1998;22(1):6-10

[8] Antiplatelet TC. Collaborative overview of randomised trials of antiplatelet therapy--III: Reduction in venous thrombosis and pulmonary embolism by antiplatelet prophylaxis among surgical and medical patients. BMJ 1994;308(6923):235-46

[9] S3-Leitlinie Prophylaxe der venösen Thromboembolie (VTE). 2. komplett überarbeitete Auflage, Stand 15. Oktober 2015. AWMF-Leitlinien-Register Nr. 003/001. www.awmf.org

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