Methylphenidat gegen ADHS

Ein „Goldesel“ für die Pharmaindustrie

Stuttgart - 12.02.2012, 11:10 Uhr


„Ritalin ist eine Pille gegen eine erfundene Krankheit, gegen die Krankheit, ein schwieriger Junge zu sein.“ Die Diagnose ADHS werde inflationär zur Erklärung von Schulversagen herangezogen, und weltweit mache allein Novartis, Hersteller von Ritalin (Methylphenidat), einen Umsatz von 464 Millionen Dollar mit der Pille, die störende Jungen „glatt, gefügig und still“ mache.

Vor 20 Jahren wurden in Deutschland 34 Kilo Methylphenidat ärztlich verordnet - heute sind es 1,8 Tonnen. Experten verschiedener Fachgebiete geben dazu ihr Urteil ab. Zitiert wird in der FAS z. B. Gerd Glaeske, Professor für Arzneimittelversorgungsforschung an der Universität Bremen. Laut Glaeske wollen Jungen risikoreicher leben und sich erproben, wofür ihnen heute die Freiräume fehlen. Schnell gelte ein Verhalten, das früher selbstverständlich als jungenhaft akzeptiert worden sei, heute als „auffällig“.

ADHS ist für Glaeske eine „Zuschreibungsdiagnose“, die unter gesellschaftlichem Druck ausgestellt werde, um die Gabe leistungssteigernder Mittel zu legitimieren. Die Leitlinien zur ADHS-Therapie sehen vor, die Ritalin-Gabe durch eine Verhaltenstherapie zu begleiten. Spätestens nach einem Jahr habe ein Auslassversuch im Hinblick auf Methylphenidat zu erfolgen. Der Schulalltag spricht jedoch eine andere Sprache. Häufig nehmen die Kinder ihre „Pille“ jahrelang, oft zur Erleichterung von Eltern und Lehrern, die das Medikament anderen Eltern auch noch „wärmstens empfehlen“. Es wird eine Lehrerin zitiert, die das Absetzen von Ritalin selbst ein Jahr vor dem Abitur nicht für richtig hält.

Ulrike Lehmkuhl, Direktorin der Kinderklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Berliner Charité, bezeichnet 90 Prozent der ADHS-Diagnosen als falsch. Neun von zehn Kindern, die zu ihr mit angeblichem ADHS kommen, seien verhaltensgestört oder psychisch erkrankt. Aber sie räumt ein, dass es ADHS durchaus gibt – und das meist vom frühesten Kindesalter an. Der „Erfinder von ADHS“, der amerikanische Psychiater Leon Eisenberg, soll dagegen kurz vor seinem Tod im Jahr 2009 gesagt haben: „ADHS ist ein Paradebeispiel für eine fabrizierte Erkrankung.“ 

Tatsache ist, dass die Substanz Methylphenidat, von der wir – so Lehmkuhl - „nicht genau wissen, wie sie auf das Gehirn wirkt“, allein in Deutschland inzwischen von 250 000 Kindern, in der Mehrzahl Jungen, täglich konsumiert wird. „Für die Pharmaindustrie ist Methylphenidat ein Goldesel“, heißt es in der FAS. Inzwischen bieten sechs Firmen das Medikament unter verschiedenen Namen auf dem deutschen Markt an. Seit einigen Monaten ist der Wirkstoff auch für Erwachsene mit der Diagnose ADHS zugelassen.

Kritiker weisen auch auf die Nebenwirkungen von Methylphenidat hin: Schlafstörungen, Essstörungen, Bluthochdruck und vermindertes Wachstum. 

Lesen Sie hierzu auch den Beitrag auf dem Portal der Frankfurter Allgemeinen Zeitung:
Wo die wilden Kerle wohnten


Reinhild Berger