Urteil im Musterprozess liegt vor

Nullretax verstößt gegen Berufsfreiheit

Lübeck - 08.06.2012, 10:34 Uhr


Eine Krankenkasse darf nicht auf Null retaxieren, weil in einer Apotheke gegen die Pflicht verstoßen wurde, bei Bestehen eines Rabattvertrages ein rabattbegünstigtes Arzneimittel abzugeben. Dies entschied das Sozialgericht Lübeck bereits am 2. Februar 2012 in einem ersten Musterprozess – nun liegen die Urteilsgründe vor.

Der Rechtsstreit zwischen einem Apotheker aus Schleswig-Holstein und der Techniker Krankenkasse (TK) beruht auf einer bundesweiten Musterstreitvereinbarung, die der Deutsche Apothekerverband und die Ersatzkassen (ohne Barmer) vereinbart haben. Ziel ist es, höchstrichterlich zu klären, ob in Fällen, in denen Apotheker trotz bestehender Rabattverträge keine Rabattarzneimittel abgegeben haben – etwa wegen eines Fehlers oder Irrtums im Apothekenbetrieb –, die Kasse vollumfänglich retaxieren darf.

Im Urteil des Sozialgerichts heißt es nun, zwar habe die beklagte Krankenkasse zu Recht eine Taxdifferenz wegen des Verstoßes beanstandet – sie sei jedoch nicht berechtigt gewesen, eine komplette Absetzung des Forderungsbetrages durchzuführen. Weder aus dem Gesetz – insbesondere nicht aus § 129 SGB V – noch aus vertraglichen Vereinbarungen lasse sich ein Anspruch für eine solche Komplettabsetzung herleiten. Nach dem Rahmenvertrag über die Arzneimittelversorgung könnten Verstöße gegen § 129 SGB V zwar geahndet werden (von einer Verwarnung über eine Vertragsstrafe bis hin zum Ausschluss von der Versorgung). Doch Sanktionen wie die Nullretaxation sind hier nicht vorgesehen. Der komplette Wegfall der Vergütung könne auch nicht aus den vom BSG entwickelten Grundsätzen der Retaxierung abgeleitet werden. Diese Grundsätze, so die Lübecker Richter, seien auf einen Fall des Verstoßes gegen die Pflicht zur Abgabe rabattbegünstigter Arzneimittel nicht in vollem Umfang übertragbar.

Vielmehr würde der Verlust des Vergütungsanspruches in voller Höhe eine Verletzung des Grundrechts der Berufsfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 GG bedeuten. Der mit einer Vollabsetzung einhergehende finanzielle Schaden in Höhe der Kosten der Warenbeschaffung sei als Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit auch nicht gerechtfertigt. Die Regelungen zur Abgabe rabattbegünstigter Arzneimittel hätten das Ziel, die Abgabe eben dieser Arzneimittel zu fördern und dadurch Wirtschaftlichkeitsreserven bei der Arzneimittelversorgung auszuschöpfen. Dieser Zweck rechtfertige nicht, eine Komplettabsetzung des Kaufpreises vorzunehmen – er könne auch durch andere Maßnahmen erreicht werden. Als solche Alternative nennt das Urteil die bereits oben erwähnten Vertragsmaßnahmen nach § 11 des Rahmenvertrages. Darüber hinaus sei es möglich, den über den Rabattvertrag tatsächlich erzielten Preisnachlass zu retaxieren. Dies sei verhältnismäßig und auch im Übrigen rechtmäßig. Die TK wollte zu der Rabatthöhe jedoch nichts sagen. Da ihr die Beweislast oblag, konnten die Richter nicht feststellen, in welchem Umfang die Retaxierung zulässig gewesen wäre.

Das Sozialgericht hat sowohl die Berufung als auch die Sprungrevision zugelassen. Nach der Musterstreitvereinbarung ist jedoch die Sprungrevision anzustreben, da in jedem Fall eine Entscheidung des BSG herbeigeführt werden soll. Die weiteren Verfahrensschritte sind von der TK als unterlegener Partei einzulegen.

In einem weiteren der Musterstreitvereinbarung zugrunde liegenden Fall, der beim Sozialgericht Kiel anhängig ist, gab es angesichts des Lübecker Urteils eine Terminverlegung. Eigentlich sollte am 8. Juni 2012 verhandelt werden, nun ist der 24. August 2012 bestimmt worden. Beide Parteien soll damit Gelegenheit zur erneuten Stellungnahme in Bezug auf das Lübecker Urteil gegeben werden.


Kirsten Sucker-Sket


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