Tagebuch-Notiz

Morgen gehen die Lichter aus...

Schwäbisch Hall - 10.12.2014, 21:00 Uhr


„Morgen holt der Großhandel mein Warenlager und dann muss ich schließen“, seufzt Apotheker Hartmut Wagner geknickt, und seine Stimme zittert, als ich heute Abend bei ihm in seiner Brücken-Apotheke in Schwäbisch Hall stehe. Heute morgen noch kündigte er entgegen des Rundfaxes seines Rechtsanwalts an, die Apotheke weiter betreiben zu wollen. Er verstehe das alles nicht, die Abmahnungen habe man doch zurückgezogen, und er zeigt mir das Fax, mit dem der LAV seine Mitglieder gerade informiert hat.

Als ich die Brücken-Apotheke gegen 18 Uhr betrete, ist Wagners PTA in der Offizin. Ich frage nach ihm. Er steht im hinteren Bereich der Apotheke an den Ziehschränken und starrt auf das Fax vom LAV. Mit langsamen Schritt kommt er auf mich zu: ein hagerer, auf mich kränklich wirkender Mann mit schütterem Haar und akkuratem Scheitel. Seine dunkelblaue Fleece-Jacke ist hochgeschlossen und wirkt verwaschen. Vor mir steht ein verzweifelter Mensch, der nicht mehr weiß, wie ihm geschieht.

Gestern Nacht hatte er Nachdienst, er muss schlecht geschlafen haben: „Alle halbe Stunde hat das Telefon geklingelt“, sagt er mit leiser Stimme, „aber jedes Mal hat der Anrufer aufgelegt.“ Und tagsüber sei er von Anrufern immer wieder übelst beschimpft worden. Ob er sich denn vorstellen könne, dass die Kolleginnen und Kollegen, die er über seinen Rechtsanwalt Becker habe abmahnen lassen, stinkesauer auf ihn sind, will ich von ihm wissen. Da waren doch Fehler auf den Internetseiten, meint er. Außerdem hätten die Kolleginnen und Kollegen das Abmahnschreiben nicht richtig gelesen, fügt er hinzu, man hätte doch den Fehler beseitigen können.

Irgendwie habe ich den Eindruck, der Mann weiß gar nicht, worum es hier genau geht. „Die Kolleginnen und Kollegen hätten sich wehren können“, schiebt er kaum hörbar nach. Als ich ihm vorhalte, dass sein Anwalt horrende Kosten von 2600 Euro verlangt habe, dass den Kolleginnen und Kollegen, die sich bereits Anwälte genommen hätten, Kosten entstanden seien, verstummt er. 

Wie sei er überhaupt an Becker geraten, wann und warum habe er Kontakt zu diesem Anwalt aufgenommen, was sei der Zweck dieser Abmahnaktion gewesen? Langes Schweigen. Und dann: „Dazu kann ich nichts sagen.“ Als ich mehrmals nachhake, kommt immer wieder fast schon wie eingeübt und stereotyp: „Dazu darf und möchte ich nichts sagen.“ „Ein Anwalt sollte doch für seinen Mandanten da sein, ihn beraten und ihn nicht ins Messer laufen lassen“, versuche ich dem Apotheker klar zu machen, „haben Sie das Gefühl, dass man sie benutzt hat?“ Und wieder kommt der Satz: „Dazu darf und möchte ich nichts sagen.“

Und wieso schaltet sich nun der Großhandel ein? „Ich kann meine Rechnungen nicht mehr bezahlen“, kommt es leise über die schmalen Lippen des Apothekers. Früher habe man mit dem Großhandel noch reden können, heute hole er gleich das Warenlager ab. „Ich habe heute das Fax des Großhandels vorab bekommen, morgen werde ich  das Einschreiben per Post bekommen. Der Großhandel wird morgen mein Warenlager abholen und dann muss ich schließen.“

Dass alles so kommt, habe er nicht gedacht. Andererseits, schon die Eröffnung sei unter einem schlechten Stern gestanden. Die Apotheke, die vor seiner Übernahme geschlossen war, wollte er eigentlich schon im Januar dieses Jahres eröffnen. Doch das Regierungspräsidium Stuttgart und der zuständige Pharmazierat hätten ihm die Genehmigung nicht erteilt und die Eröffnung verzögert. Er habe noch einiges nachbessern müssen, auch wegen der Apothekenbetriebsordnung. Erst im März habe er eröffnen können. „Das ist nicht gut für eine Apotheke, wenn sie so lange geschlossen ist, da bleiben die Kunden weg“, beklagt Wagner seine Situation.

Und warum hat er sich überhaupt diese Apotheke noch angetan? „Was sollte ich denn sonst tun“, seufzt der 65-Jährige, „zu Hause fällt mir die Decke auf den Kopf“ –verheiratet sei er nicht. Er dachte, er könne die Apotheke noch fünf Jahre führen und dann in den Ruhestand gehen. Dass die Apothekenübernahme letztlich so ende, das habe er nicht gedacht. Jetzt wisse er nicht, wie’s weiter gehe, was noch komme.

Ich versuche ihm klar zu machen, dass er sich die Lage, in der er sich befinde, selbst zuzuschreiben habe. Würde er nochmal so handeln? Und mit leiser bebender Stimme sagt er: „Nein. Jetzt frage ich mich, wie’s weitergeht und wie schlimm es noch kommt.“

Um 18:30 gehe ich aus der Apotheke, ein Kunde hatte sich in der letzten halben Stunde nicht in die Apotheke verirrt. Seine PTA holt einen Straßenaufsteller rein und geht. Wagner schließt die Tür und löscht das Licht. In den nächsten Vorweihnachtstagen wird er über vieles nachdenken können – wenn morgen oder übermorgen der Großhandel die Ware abgeholt hat und die Lichter der Brücken-Apotheke endgültig ausgehen.

Für mein Tagebuch: Ist er ein Täter, ist er das Opfer? Das lässt sich nur schwer beantworten. Wenn er so vor einem steht: Man traut ihm nicht zu, dass er sich den Abmahn-Coup selbst ausgedacht haben könnte. Ohne advokatliche Einflüsterungen oder sonstige helfende Hände hätte er diese Aktion so sicher nicht durchgezogen. Andererseits: Er hat den Anwalt beauftragt – von wem auch immer die Idee stammt. In  dieser Verantwortung steckt er drin.


Peter Ditzel