Bundesteilhabegesetz

Neue Rechte oder trügerischer Traum?

Berlin - 27.04.2016, 11:45 Uhr

Geht es für Behinderte in Deutschland aufwärts? Die Bundesregierung hat große Pläne. (Foto: RioPatuca Images / Fotolia)

Geht es für Behinderte in Deutschland aufwärts? Die Bundesregierung hat große Pläne. (Foto: RioPatuca Images / Fotolia)


Die Koalition lässt eine große Reform anrollen: Das Bundesteilhabegesetz soll das Leben von Millionen Menschen verbessern. Hierzu sollen bis 2020 vom Bund 1,5 Milliarden Euro ausgegeben werden. Doch wird sich die Lage von Behinderte wirklich entscheidend verändern?

Seit Jahren warten Menschen mit Behinderung in Deutschland auf einen Durchbruch für mehr Rechte. Nun soll es endlich so weit sein. Sie sollen besser wählen können, wo und wie sie leben. Sie sollen Geld ansparen können. Barrieren sollen abgebaut, Gleichberechtigung soll gestärkt werden - das sind Ziele eines der großen sozialpolitischen Projekte, die die Bundesregierung nun auf den Weg bringen will. Kann die Reform die Versprechen einhalten? 

Nach monatelangen Beratungen und Verhandlungen gibt es einen mehr als 360 Seiten starken Entwurf für das Bundesteilhabegesetz aus dem Bundessozialministerium. Jetzt sendete das Bundeskanzleramt das von Ressortchefin Andrea Nahles (SPD) angestrebte grüne Licht für die weitere Abstimmung in der Regierung - ein Kabinettsbeschluss und das weitere normale Gesetzesverfahren sollen folgen. Für die Fachszene ist das nach Gezerre bis zuletzt schon ein Durchbruch.

Mehrausgaben sind noch umstritten 

Mehr als zehn Prozent der Bevölkerung sind schwerbehindert - 7,5 Millionen. Bis 2020 sind nun Mehrausgaben für den Bund von mehr als 1,5 Milliarden Euro vorgesehen, für Länder und Gemeinden von 350 Millionen Euro. Doch beim Geld ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Dazu soll in der Regierung noch eine Runde gedreht werden, auch mit den Ländern war man sich zuletzt nicht einig.

Geht es nach Ulla Schmidt, ist eine schnelle Einigung bitter nötig. Die frühere Gesundheitsministerin ist heute Vizepräsidentin des Bundestags - und Vorsitzende der Lebenshilfe, einer Vereinigung für Menschen mit geistiger Behinderung. „Das Gesetz beschreibt Schritte hin zu einem fundamentalen Umdenken“, sagt Schmidt. Die Eingliederungshilfe solle schrittweise aus der Sozialhilfe geholt werden. Für Menschen mit Behinderung sei das immens wichtig - sie wollten mehr Wahlrecht. „Sie wollen selbst entscheiden, wo und mit wem sie leben, wo und wie sie arbeiten wollen.“

Ermahnung von den Vereinten Nationen 

Vergangenes Jahr stellten die Vereinten Nationen fest: Deutschland müsse mehr tun. Bund und Länder koordinierten sich schlecht in dem Bereich. Nur 28 Prozent der behinderten Schüler besuchten eine Regel- statt einer Förderschule. Eine normale Arbeit jenseits spezieller Werkstätten zu finden, sei für viele schwer. Leistungen zur Selbstbestimmung fehlten.

Angesetzt werden soll an mehreren Stellen. Die Ausgaben für Eingliederungshilfe sind seit 2005 von 11,3 auf 16,4 Milliarden Euro gestiegen. Trotzdem kann es zu Armut führen, wenn man behindert ist und Eingliederungshilfe bezieht. Denn heute darf man nur 2600 Euro besitzen - alles andere wird angerechnet. Auf bis zu 50 000 Euro soll die Schwelle in Stufen ansteigen, Partnereinkommen sollen freigestellt werden. „Die Erhöhung weist in die richtige Richtung“, sagt Ulrike Mascher, Präsidentin des Sozialverbands VdK Deutschland. Doch ausreichend sei es nicht. Auch Schmidt meint, Ziel müsse eine komplette Freistellung des eigenen Einkommens sein.

Unübersichtliche Hilfe 

Die Leistungen für Behinderte sind heute in den Bundesländern oft unterschiedlich - und für die Betroffenen wenig übersichtlich. Oft müssen sie von Hilfeträger zu Hilfeträger laufen - künftig soll einer erstzuständig sein und die Anträge weiterleiten. Ein anderes Beispiel betrifft den Schritt aus den geschützten Werkstätten in den normalen Arbeitsmarkt. Er fällt vielen schwer. Ein „Budget für Arbeit“ für Arbeitgeber soll helfen. Wer Betroffene einstellt, soll einen unbefristeten Lohnkostenzuschuss erhalten.

Nicht alle Pläne stoßen bei Experten auf Zustimmung. Schmidt mahnt, dass Betroffene den Anspruch auf Erwerbsunfähigkeitsrente nicht länger verlieren dürften, wenn sie den Wechsel aus einer Werkstatt in einen regulären Job wagen. Anderes Beispiel: Leistungen für Assistenten zur Mobilität dürften nicht gepoolt werden. „Sonst müssen die Menschen immer warten, bis sie zum Beispiel in die Stadt können.“

Ein trügerischer Traum? 

Führt das nun auf den Weg gebrachte Gesetz wirklich zu handfesten Verbesserungen? „Es dürfen uns keine Assistenzpersonen vorgeschrieben werden, mit denen wir nicht einverstanden sind“, betont etwa Uwe Frevert von der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben. „Dies verletzt unsere Würde und unsere Intimsphäre.“ Ottmar Miles-Paul, der seit Jahren für Rechte von Behinderten kämpft, sprach vor wenigen Tagen von „einem trügerischen Traum“, dass Behindertenrechte umgesetzt würden. Er sah die Zeit für verstärkte Proteste gekommen.


dpa / DAZ.online
redaktion@daz.online


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