Human Connectome Project

Forscher erstellen bislang detailliertesten Atlas des Gehirns

St. Louis / Hamburg - 21.07.2016, 14:15 Uhr

Welche Verbindungen gibt es im Gehirn? Mittel Kernspin lassen sich Nervenfasern visualisieren. (Grafik: Andreashorn / Wikimedia, CC BY-SA 4.0)

Welche Verbindungen gibt es im Gehirn? Mittel Kernspin lassen sich Nervenfasern visualisieren. (Grafik: Andreashorn / Wikimedia, CC BY-SA 4.0)


Vor sechs Jahren startete das Human Connectome Project, das mit enormem Aufwand die Funktionsweise des menschlichen Gehirns klären soll. Nun stellen Forscher den bislang detailliertesten Atlas der Großhirnrinde vor.

Ein internationales Forscherteam hat den bislang mit Abstand detailliertesten Atlas der menschlichen Großhirnrinde erstellt. Anhand von Unterschieden in Aufbau, Vernetzung und Funktion unterteilt das Team um Matthew Glasser und David Van Essen von der Washington University in St. Louis (US-Staat Missouri) jede der beiden Hälften der Großhirnrinde in 180 Areale. Mit dieser Karte könne man künftig neurologische oder psychiatrische Erkrankungen besser erforschen, schreiben die Forscher in der Zeitschrift „Nature“. Ein unabhängiger deutscher Experte spricht von einer „Referenzkarte, auf die sich künftig viele andere Forscherteams beziehen werden“.

Der stark gefaltete Kortex, wie die Großhirnrinde auch genannt wird, umgibt die anderen Regionen des Gehirns und ist zuständig für viele Funktionen wie Sinneswahrnehmung, Aufmerksamkeit, Sprache oder abstraktes Denken, von denen viele als typisch für den Menschen gelten. Bislang hätten Forscher die Zahl der Areale pro Hemisphäre auf zwischen 50 und 200 geschätzt, schreiben die Autoren. Bisherige Karten berücksichtigten demnach meist nur ein Kriterium für die Einteilung der Areale. Das Team um Glasser kombiniert nun mehrere Eigenschaften miteinander, darunter Struktur, Funktion und Vernetzung mit anderen Arealen. Eine so umfassende Charakterisierung des Kortex habe es bislang nicht gegeben, betonen sie.

MGH/Harvard, Boston Adolescent Neuroimaging of Depression and Anxiety (BANDA)
Die Grafik des Human Connectome Project zeigt weitreichende Verbindungen im Gehirn.

Zeitlose Grenzen

Die Arbeit basiert auf dem Human Connectome Project, bei dem die US-Regierung die Erforschung des Gehirns seit 2010 finanziell massiv fördert. Die Forscher untersuchten zunächst 210 junge, gesunde Erwachsene per Magnetresonanztomografie. Die Gehirne der Teilnehmer wurden sowohl im Ruhezustand analysiert als auch beim Erfüllen diverser Aufgaben, etwa beim Zuhören, beim Sprechen oder bei bestimmten Bewegungen. Die Wissenschaftler achteten unter anderem auf die Dicke der Großhirnrinde, auf den Gehalt an Myelin, der isolierenden Ummantelung der Nervenfasern, sowie darauf, welche Regionen bei bestimmten Aufgaben aktiv waren und mit anderen kommunizierten.

Am Ende hatten wir für jede Hirnhälfte 180 Areale, aber wir gehen nicht davon aus, dass das die endgültige Zahl ist“, wird Glasser in einer Mitteilung seiner Universität zitiert. „In einigen Fällen identifizierten wir Bereiche des Kortex, die man wahrscheinlich noch weiter unterteilen könnte, aber anhand unserer derzeitigen Daten und Methoden konnten wir keine klaren Grenzen ziehen. Wir haben uns auf Grenzen konzentriert, bei denen wir davon ausgehen, dass sie die Zeit überdauern.“

Wegweisender erster Schritt

Manche dieser Areale sind für konkrete Funktionen wie etwa Hören oder Sehen zuständig, die meisten verarbeiten jedoch Informationen, die aus unterschiedlichen Quellen stammen. Mit Hilfe einer Klassifikations-Software und von Neuroanatomen definierten die Forscher die einzelnen Areale und zogen klare Grenzen.

Die gefundenen Areale konnten sie anhand eines Koordinatensystems und mit Hilfe von Algorithmen wiederum sehr zuverlässig auf andere Menschen übertragen. Dies demonstrierten sie in einer Folgeuntersuchung an 210 weiteren Teilnehmern mit einer Präzision von rund 97 Prozent. Das sei künftig entscheidend dafür, verschiedene Studienresultate miteinander vergleichen zu können, betonen sie. „In der Vergangenheit war nicht immer klar, ob sich Resultate zweier bildgebender Studien auf das gleiche Areal beziehen oder nicht“, sagt Glasser. Demnach könne die Karte Neurochirurgen bei der Vorbereitung von Operationen unterstützen oder etwa dabei helfen, verschiedene Arten von Demenz, die verschiedene Hirnareale schädigen, voneinander abzugrenzen.

Übertragbare Ergebnisse

„Die Forscher haben mit den gegenwärtig besten Bildgebungsverfahren bei lebenden Menschen spezifische Komponenten der Großhirnrinde identifiziert“, sagt Claus Hilgetag vom Universitätsklinikum Eppendorf (UKE) in Hamburg, der nicht an der Arbeit beteiligt war. „Die dafür genutzten Kriterien sind so charakteristisch, dass sie sich auf andere Menschen übertragen lassen.“ Dies erkläre allerdings noch nicht, wie das Gehirn funktioniere. Zudem gebe es auch viele andere Kriterien, anhand derer sich Regionen im Kortex voneinander abgrenzen lassen, etwa auf zellulärer Ebene. Ob andere Kriterien die vorgestellte Karte der Forscher dann ebenfalls bestätigen, müsse man abwarten.

In einem „Nature“-Kommentar schreiben Thomas Yeo von der Nationalen Universität von Singapur und Simon Eickhoff vom Institut für Neurowissenschaften und Medizin (INM) am Forschungszentrum Jülich, die Arbeit sei „wegweisend“ („seminal“), aber wohl noch nicht das letzte Wort zum Thema. „Der Atlas von Glasser und Kollegen ist die erste multimodale Karte, die darauf abzielt, Areale des Kortex zu definieren, und bedeutet daher einen bedeutenden Fortschritt bei der Kartierung des menschlichen Gehirns.“ Nun hänge es von anderen Forschern ab, die definierten Areale mit Informationen zu Funktionen und Zusammenhängen mit möglichen Erkrankungen zu füllen.



Walter Willems, dpa
redaktion@daz.online


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