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Neu erschienen: Der Roman „Fassade“
Apothekerin entlarvt ein Familiengeheimnis
Die aufregendsten und überraschendsten Geschichten passieren im wahren Leben. Darüber wurde sich Apothekenleiterin Ulrike Weiss aus Stuttgart klar, kurz bevor sie in den Ruhestand ging. Ein geheimnisvoller Zettel auf dem Grab ihrer vor einigen Jahren verstorbenen Mutter führte sie auf die Spur eines Doppellebens, das ihr eigener Vater einst geführt und das Folgen hinterlassen hatte: eine bisher unbekannte Halbschwester, die wie sie selbst 1945, nur zwei Monate nach ihr, geboren wurde.
Neugierig machte sich Ulrike Weiss auf die Suche und fand nicht nur die in Berlin lebende Halbschwester, sondern außerdem einen Schatz, der sie jahrelang beschäftigen sollte: Unzählige Briefe, Tagebuchauszüge und Fotos aus den Jahren von 1930 bis 1947, die Alltag und Gedanken, Erlebnisse und Sehnsüchte ihrer Familienangehörigen detailliert dokumentierten.
Mit pharmazeutischer Sorgfalt und Fingerspitzengefühl ordnete und entzifferte die Apothekerin die kostbaren Unterlagen, die schließlich zwölf Aktenordner füllten. Dabei gewann sie Einsichten, die sie nicht für sich behalten wollte. Fünf Jahre lang, zwischen 2010 und 2015, schrieb und feilte sie nun an ihrer Familiengeschichte.
Bis 2012 hatte Ulrike Weiss jahrzehntelang zusammen mit einer Kollegin die „Apotheke am Eugensplatz“ in Stuttgart geleitet. Sie hatte für die DAZ ab und zu Buchbesprechungen verfasst und bei der Landesapothekerkammer Baden-Württemberg einige Jahre das Mitteilungsblatt (heute „Cosmas“) mitgestaltet. Aber schriftstellerische Erfahrung fehlte ihr natürlich. Doch sie machte sich mutig und ambitioniert ans Werk. Mit dem Eintritt in den beruflichen Ruhestand legte sie mit viel Power los und lernte sogar noch Tastenschreiben nach dem Zehnfingersystem, um möglichst effizient ihr Ziel zu erreichen: einen Roman, ja ein richtiges Buch wollte sie schreiben und drucken lassen. 2015 lag das Manuskript fertig vor – und sie fand, nach beharrlicher Suche, auch einen Verlag, der ihren Traum wahr werden ließ. Seit dem 16. Dezember 2016 ist das 360-seitige Buch nun auf dem Markt: „Fassade – wenn ich tot bin, werde ich reden“ heißt das von Ulrike Weiss verfasste und im Südwestbuchverlag erschienene Werk.
Am Anfang steht das Friedhofserlebnis: Ulrike Weiss schildert ihren überraschenden Fund am Grabstein und wie sie zielstrebig beginnt, das Familiengeheimnis zu lüften. Als Leserin fiebere ich gemeinsam mit der Autorin, die sich im Buch Luise nennt, der ersten Begegnung mit der Halbschwester Sabine entgegen und ich tauche neugierig ein in die frühere Welt ihres gemeinsamen Vaters Georg. Erstaunlich, dass beide Mütter bzw. Ehefrau Magdalene und Geliebte Erika voneinander gewusst und auch über den frühen Tod des Vaters hinaus Kontakt miteinander hatten, ohne dass die Töchter etwas davon ahnten. Ulrike Weiss hat selbst so gut wie keine Erinnerung an ihren Vater, weil er starb, als sie noch nicht einmal zwei Jahre alt war.
Doch die vielen Unterlagen, die die Autorin auswertet und die zur Grundlage des Romans werden, handeln nicht nur vom Liebesabenteuer des Vaters. Besonders beeindrucken mich die ausführlichen und detailreichen Schilderungen des Alltags in der Zeit vor Ausbruch und während des Zweiten Weltkriegs. Kaum fassbar für heutige Leser ist die unglaubliche Lebensmittelknappheit, unter der die Menschen im Deutschland der 1930er- und 1940er-Jahre leiden mussten. Zucker, Kaffee, Marmelade werden zur Kostbarkeit, sofern es sie überhaupt gibt. Gemahlener Kaffee wird nach dem Überbrühen wieder getrocknet und wiederholt aufgegossen, ebenso Teeblätter. Rosenkohl und Rotkohl werden sogar per Paket von einer Stadt in die andere geschickt, auch auf die Gefahr hin, dass die Blätter bei frostigen Temperaturen erfrieren. Der Verlust einer Berechtigungsmarke für ein paar Gramm Fett wird zum Familiendrama.
Und doch leben und lieben die Menschen, alle Familienmitglieder der Autorin reisen auch während der Kriegszeit erstaunlich viel mit der Bahn, sie versuchen, ihr Hab und Gut vor den Bomben in Sicherheit zu bringen. Sie äußern sich zur Politik und zum Kriegsgeschehen – mehr oder weniger fanatisch, sie leiden, warnen, sehen die Katastrophe kommen – oder glauben verbissen an einen Sieg.
Die Apotheke existiert nur noch als Fassade
Wer Berichte über Nazideutschland und den Zweiten Weltkrieg von den eigenen Eltern oder Großeltern kennt, wird in diesem Buch auf Aussagen stoßen, die Nachdenklichkeit auslösen und vielleicht neue Fragen aufwerfen. Längst nicht alle Fragen, schon gar nicht die ganz persönlichen, die sich auf die Rolle der eigenen Familie beziehen, sind für die Nachkriegsgeneration beantwortet. Eltern und Großeltern haben vielleicht zu Recht viele ihrer Erlebnisse und Gedanken mit ins Grab genommen. Doch vielleicht hat es ja in der eigenen Familie Parallelen gegeben zu dem Geschehen, das Kollegin Ulrike Weiss schildert? Ich jedenfalls bin bei der Lektüre ihres Romans tief eingetaucht in meine eigene Erinnerungswelt und habe in meinem Kopf abgelegte Erzählungen aus meiner Kindheit noch einmal in neuem Licht gesehen.
Ulrike Weiss erfährt in den allerersten Rückmeldungen zum Buch, wie erstaunlich stark ihre Geschichte die Leserinnen und Leser berührt, insbesondere die Generation der „Schwellenkinder“, die kurz vor, während oder kurz nach dem Kriegsende geboren wurden. „Irgendetwas scheint diesen Menschen zu fehlen, oft unbewusst, was beim Lesen des Buchs plötzlich ins Bewusstsein dringt“, so formuliert sie es. Ich muss ihr Recht geben. Es ist, als ob eine Fassade, die sich manch einer vor die Vergangenheit gebaut hat, mächtig aufbricht.
Die Apotheke, die Ulrike Weiss mit ihrer Kollegin in einer OHG einst geleitet hat, existiert übrigens ebenfalls nur noch als Fassade: In ihren ehemaligen Räumen hat seit Kurzem eine „Tagesbar und Café“ eröffnet. Der Name des gastronomischen Betriebs ist „Apotheke“. Außen an der Tür hängt noch der alte, mit Schildern bestückte Nachtdienstkasten. Das unter Denkmalschutz stehende Haus hat sich von seiner alten Rolle noch nicht verabschiedet. Im Inneren schmückt der Gastraum sich mit einem ganz großen A, natürlich nicht rot im gotischen Stil, aber doch erkennbar ein Hinweis auf die ehemalige Apotheke. Loriot-Fans sollten hier unbedingt einmal einkehren: Denn Vicco von Bülow hat einige Jahre im dritten Stock des „Apotheken“-Hauses gelebt. Eine Gedenktafel am Haus und eine unübersehbare Säule, auf der ein Mops thront, erinnern daran.
Mein Tipp: Lesen Sie das Buch – auf eine Kollegin als Romanautorin trifft man nicht alle Tage! Und besuchen Sie das Café „Apotheke“, wenn Sie der Weg nach Stuttgart führt.
Südwestbuchverlag Waiblingen
von Ulrike Weiss
360 Seiten
Preis: 14,80 Euro
über Buchoffizin.de bestellen »
Tagesbar „Apotheke“
Haußmannstraße 1
70188 Stuttgart
Haltestelle U15 „Eugensplatz“
Autorin:
Apothekerin Reinhild Berger, frühere Chefredakteurin der PTAheute
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