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Altenheime, geriatrische Patienten, Multimedikation: Dieser Mix birgt Potenzial für schwere Arzneimittelinteraktionen – und für innovative Apotheker, sich beratungsstark zu positionieren. Geriatrie als Zukunftsthema für Apotheken?
Einmal in der Woche geht Apothekerin Karina Esser in ein Altenheim. Es ist eine von fünf Pflegeeinrichtungen, die sie regelmäßig betreut. Mit den Pflegekräften dort diskutiert sie den Zustand der Patienten. Sie hinterfragt Auffälligkeiten, wie etwa Schwindelattacken und häufigere Stürze, Müdigkeit oder Orientierungslosigkeit – immer vor dem Hintergrund der Krankengeschichte und der aktuellen Medikation.
„Als Pharmazeutin habe ich einen anderen Blick,“ sagt sie. Aus Erfahrung weiß sie, dass Stürze auch durch falsch dosierte Blutdrucksenker provoziert werden können – was nicht zuletzt das Ergebnis von Wechselwirkungen mit anderen Arzneimitteln sein kann. Viele alte Patienten in Pflegeheimen leiden an mehreren Erkrankungen gleichzeitig. Entsprechend hoch ist die Zahl der verabreichten Medikamente.
Apotheker haben als Arzneimittel-Generalisten den Überblick
Für Altenheime zählt die Multimedikation seit Jahren zu den gravierendsten Problemen im Pflegealltag. Unerwünschte Arzneimittelwirkungen wie Stürze, Verwirrtheit, Inkontinenz oder Magenbluten zählen inzwischen zu den häufigsten und teuersten Erkrankungskomplexen im Alter.
In deutschen Altenheimen mit durchschnittlich 100 Heimbewohnern entstehen nach einer Studie der Apothekerkammer Nordrhein monatlich acht Neuerkrankungen durch Arzneimittel. Hochgerechnet komme es demnach in Nordrhein-Westfalen (NRW) jährlich rund 140.000 Mal zu sogenannten unerwünschten Arzneimittelereignissen, deutschlandweit seien es rund 700.000 Fälle. Annähernd 70 Prozent solcher Nebenwirkungen gelten als vermeidbar. „Ärzte haben vornehmlich die eigenen Verordnungen im Blick. Und sie betrachten die auftretenden Symptome vielfach nicht vor dem Hintergrund möglicher arzneibedingter Erkrankungen,“ sagt Apothekerin Karina Esser.
Für die Pflege und Heime bedeutet das: eine Mehrbelastung von rund 3 000 Stunden – erhöhter Pflegeaufwand und steigende Personalkosten. Auf das Gesundheitssystem insgesamt schlagen Mehrkosten für vermeidbare Krankenhauseinweisungen, Notarzteinsätze und die Arzneimittel selbst durch. „Bis zu zehn Prozent der heutigen Pflegeleistungen gehen zurück auf eine ineffiziente oder schädliche Pharmakotherapie,“ argumentiert Dr. Frank-Christian Hanke. Er ist Vorsitzender der Prüfungskommission „Geriatrische Pharmazie“ der Apothekerkammer Nordrhein. „Arzneimittel-assoziierte Erkrankungen werden in der Geriatrie noch nicht als eigene Einflussgröße erkannt.“
Apotheker in Altenheimen reduzieren unerwünschte Arzneimittelereignisse
Bereits 2012 begann die Apothekerkammer Nordrhein deshalb mit einer interdisziplinären Studie, an der sich auch Karina Esser mit ihrer Apotheke beteiligte: Ziel waren der Aufbau und schließlich auch die Evaluation eines Systems zum Management von Arzneimittelrisiken in Zusammenarbeit mit Altenheimen. Im Mittelpunkt standen die Beobachtung der Symptome im Hinblick auf mögliche Arzneimittelreaktionen bei den Heimbewohnern und der systematische Austausch der Pflegenden mit geriatrisch qualifizierten Apothekern. „Gemeinsam entwickelten wir Empfehlungen zur Medikation an die behandelnden Hausärzte,“ erzählt Karina Esser. „Die meisten Hausärzte haben sehr positiv auf unsere Hinweise reagiert.“
„Erst eine kontinuierliche Zusammenarbeit in den Heimen, wie wir sie von Beginn an etwa durch gemeinsame Visitenvorbereitungen angestrebt haben, bringt wirklich nachhaltige Effekte,“ sagt Hanke.
Durch die Ergebnisse ihrer Studie, an der sich elf heimversorgende Apotheken und elf stationäre Alteneinrichtungen beteiligt hatten, fühlen sich deren Initiatoren aus NRW bestätigt: So habe in den betreuten Heimen die Zahl der unerwünschten Arzneimittelereignisse um 39 Prozent reduziert werden können. Arzneimittelassoziierte Stürze gingen um 34 Prozent zurück. Bei knapp 56 Prozent der teilnehmenden Patienten habe sich der Gesundheitszustand verbessert. „Meine Mitarbeiter und ich machen regelmäßig Stationsbegehungen. Dabei schauen wir uns an, wie die Medikamente gelagert und verabreicht werden. Wir besprechen Fehler und hinterfragen Prozesse.“ Auf diese Weise, sagt die Aachener Apothekerin Esser, habe man gemeinsam die Fehlerquote drastisch senken können.
Apotheker für Arzneimittelcheck häufig nicht entlohnt
Ein wesentlicher Erfolgsfaktor seien die Schulung des Pflegepersonals und die Begleitung durch geriatrisch ausgebildete Apotheker, bilanziert die Kammer. Mitarbeiter in der Altenpflege sind bislang häufig nicht hinreichend für das Thema arzneimittelbedingte Komplikationen sensibilisiert oder gar gezielt geschult.
Auch nach Beendigung der Studie führt Karina Esser deshalb ihre Zusammenarbeit mit den Pflegeheimen fort, trotz der zeitlichen Zusatzbelastung, die augenblicklich nicht gesondert vergütet wird. Dafür fehlt in NRW eine entsprechende Vereinbarung, wie sie die AOK Nordost für ein multiprofessionelles Pilotprojekt abgeschlossen hat. Betreibern von Pflegeheimen wird dabei die Teilnahme an sogenannten „Arzt in Pflegeheim-Programmen“ („careplus“) angeboten. Im Mittelpunkt steht auch hier die fächerübergreifende Zusammenarbeit, in welcher die Ärzte eine Lotsenfunktion übernehmen.
Geriatrische Pharmazie – zukunftsträchtige Weiterbildung für Apotheker
Doch selbst ohne geregeltes Zusatzhonorar mache die Arbeit in den Pflegeheimen für sie auch wirtschaftlich Sinn, glaubt Esser. Die erfolgreiche Zusammenarbeit und die Erfahrung durch die Arbeit vor Ort untermauern ihr Profil als geriatrische Apothekerin. Vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung ohnehin eine Qualifikation mit Zukunft.
Die Nachfrage nach einer entsprechenden Weiterbildung steigt kontinuierlich. Im gesamten Bundesgebiet wurden nach Informationen der Apothekerkammer Nordrhein bis einschließlich 2015 immerhin 620 Apotheker für die Zusatzbezeichnung „Geriatrische Pharmazie“ weitergebildet. Mit ihren Kollegen hat Karina Esser inzwischen einen Qualitätszirkel ins Leben gerufen. Der fachliche Austausch sei ihr immens wichtig, sagt sie. „Der Dialog über unterschiedliche Berufsgruppen hinweg immer mit dem Ziel, die Lebensqualität der Bewohner zu erhöhen, darin liegt für mich die besondere Faszination.“
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