Viele Importe, Transparenz-Portal

Wie geht die Schweiz mit Arzneimittel-Lieferengpässen um?

Remagen - 20.06.2018, 15:45 Uhr

Auch in der Schweiz nehmen die Lieferengpässe bei Arzneimitteln zu. Es gibt aber mehrere Wege, wie die Schweizer damit umgehen. (Foto: Imago)

Auch in der Schweiz nehmen die Lieferengpässe bei Arzneimitteln zu. Es gibt aber mehrere Wege, wie die Schweizer damit umgehen. (Foto: Imago)


In der Schweiz wird die Arzneimittelversorgung mehrheitlich durch Importe sichergestellt. Bei einigen Produktgruppen wie etwa Antibiotika oder Insulinpräparaten ist das Alpenland praktisch voll vom Ausland abhängig. Lieferengpässe sind auch dort ein großes Thema. Aktuell sollen derzeit 352 Medikamente nicht lieferbar sein – ein Zustand, den es in dieser Form seit Jahren nicht gegeben hat.

In unserem Nachbarland Schweiz soll die Zahl der Lieferengpässe aktuell so hoch sein wie nie zuvor in den vergangenen Jahren. Dies schreibt die Aargauer Zeitung. Sie bezieht sich bei dem Thema unter anderem auf das SRF Konsumentenmagazin „Espresso“, das kürzlich über den momentanen Mangel an Heuschnupfen-Medikamenten berichtet hat. Auch in deutschen Apotheken sind übrigens diverse Heuschnupfenmittel nach einer Erhebung von DAZ.online derzeit „Mangelware“.

Firmen traf die starke Pollenflugsaison unvorbereitet

In der Schweiz ist die Nachfrage nach Heuschnupfenpräparaten durch den intensiven Pollenflug und starke Winde im April und Mai sprunghaft angestiegen, auf die doppelte Menge wie sonst. Von einem Lieferengpass betroffen ist dort laut „Espresso“ der Wirkstoff Fexofenadin, mit den Präparaten „Telfastin Allergo“ von Sanofi und dessen Generika. Sanofi habe gegenüber dem Radiosender bestätigt, dass es einen Engpass bei Telfastin gegeben habe, dass dieser aber bereits behoben sei, nicht so bei dem Generikum „Fexofenadin Zentiva“, hergestellt von einer Tochterfirma des Konzerns. Auch Sandoz habe für seine Generika Fexo Pollen Sandoz und Fexofenadin Sandoz Lieferschwierigkeiten aufgrund der international hohen Nachfrage eingeräumt. Man erwarte, den Schweizer Markt im Verlaufe des Monats Juni wieder beliefern zu können. „Leider beträgt die Vorlaufzeit einer solchen Produktion mindestens drei Monate“, gibt Patrick Leimgruber, Marketingverantwortlicher für Consumer Health Care von Sanofi, als Begründung für die Verknappung an. „Und eine derart extreme Pollensituation wie im Frühling 2018 lässt sich nicht bereits Monate im Voraus prognostizieren.“

Meldepflicht nur für bestimmte lebenswichtige Wirkstoffe

Wegen der zunehmenden Lieferengpässe hat die Schweiz im Sommer 2015 beim Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung (BWL) eine Meldestelle eingerichtet. Hierüber sollen Versorgungsstörungen bei kritischen Humanarzneimitteln im Sinne eines Frühwarnsystems rasch erfasst werden. Meldepflichtig ist aber nur eine begrenzte Anzahl explizit aufgeführter lebenswichtiger Wirkstoffe, darunter bestimmte Antibiotika, Impfstoffe, Chemotherapien und starke Schmerzmittel wie Morphin. Laut Branchenkennern soll die Pharmaindustrie Druck auf das BWL ausgeübt haben, um die Zahl der meldepflichtigen Arzneimittel und damit den Aufwand für die Meldungen möglichst kleinzuhalten. 

Nach dem Jahresbericht 2017 des BWL hat die Zahl der dort gemeldeten Engpässe im vergangenen Jahr von 51 auf 77 stark zugenommen. Im Schnitt dauerte ein Engpass mehr als vier Monate. Am stärksten betroffen waren Impfstoffe und Antibiotika. Sie machten beim Bund zwei Drittel aller Engpässe aus. In 17 Fällen wurden die Pflichtlager angezapft.

Umfassendes Alternativportal „drugshortage.ch“

Die Aargauer Zeitung stellt aber noch eine weitere Liste mit Lieferengpässen vor, die der Berner Krankenhausapotheker Enea Martinelli unter drugshortage.ch auf eigene Faust lanciert hat und öffentlich zugänglich macht. Seine Motivation dazu ist „Frust über die Pharmafirmen, die ihre Lieferengpässe erst sehr spät oder gar nicht meldeten“. Martinelli sei diese „bewusste Provokation“ der Hersteller zumindest teilweise gelungen. Nach den Angaben auf der Webseite geben mittlerweile schon mehr als zehn Pharmaunternehmen ihre Daten zu Engpässen selber in die Datenbank ein und verpflichten sich dazu, diese à jour zu halten, darunter Actavis Switzerland, GlaxoSmithKline, MSD Merck Sharp & Dohme, Pfizer, Sandoz und Teva.

Die umfassendste Liste der Engpässe in der Schweiz zählt derzeit 355 Medikamente, die nicht lieferbar sind. So hoch sei die Zahl seit der Einführung der Liste im September 2015 noch nie gewesen, sagt Martinelli. In den rund zweieinhalb Jahren des Bestehens der Liste wurden nach Angaben der Betreiber sage und schreibe knapp 3670 Lieferengpässe abgeschlossen.

Wo die meisten Präparate fehlen

In welchen therapeutischen Gruppen sind im Moment die meisten Lieferschwierigkeiten gemeldet bzw. bekannt? Angeführt wird die aktuelle Liste von den Analgetika (22) und den Antibiotika zur systemischen Anwendung (21), gefolgt von Mitteln mit Wirkung auf das Renin-Angiotensin-System (17) sowie Anästhetika und Ophthalmika (jeweils 16). Weitere neun therapeutische Gruppen kommen auf zehn Produktengpässe oder mehr. Dazu gehören Antimykotika zur systemischen Anwendung, Psycholeptika, Mittel mit Wirkung auf den Lipidstoffwechsel, Antiepileptika und Antihistaminika zur systemischen Anwendung.

Welche Firmen am stärksten betroffen sind

Stehen die aktuell bekannten Lieferengpässe in einer Relation zu der Anzahl der Zulassungen der Pharmaunternehmen? Nicht unbedingt. Die meisten Engpässe hat derzeit mit 71 Sandoz zu Buche stehen (bei 1029 Zulassungen). Dagegen kommt Mepha mit einer ähnlichen Menge an Zulassungen nur auf 24 Verknappungen. Bei Pfizer PFE Switzerland sind derzeit 26 von 432 Produkten schwer zu bekommen und bei GlaxoSmithKline 14 von 188, ein erklecklicher Anteil. Auf der Webseite „drugshortage.ch“ wird betont, dass die Zahlen zwar nichts mit dem Stellenwert der Produkte in der Therapie zu tun hätten, dass sie aber einen Hinweis auf den Stellenwert des Engpasses für die Firma gäben.

In der Schweiz rechnet man laut Aargauer Zeitung nicht mit einem baldigen Ende an Engpässen. Das Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung prüfe, gewisse Pflichtlager auf- oder auszubauen. Bis Ende 2019 solle damit ein Bestand erreicht werden, der den durchschnittlichen Verbrauch von Impfstoffen während viereinhalb Monaten abdeckt. Bei den Antibiotika prüfe das BWL zudem, das Lager so zu erhöhen, dass der Bedarf von vier statt drei Monaten bedient werden kann.



Dr. Helga Blasius (hb), Apothekerin
redaktion@daz.online


Diesen Artikel teilen:


Das könnte Sie auch interessieren

Arzneimittelversorgung

Lieferengpässe in der Schweiz

Lieferengpässe in Baden-Württemberg

Ministerium: Noch kam kein Patient zu Schaden

Arzneimittel-Lieferengpässe haben vielfältige Ursachen – die eine Lösung gibt es nicht

Defekt!

1 Kommentar

Lieferengpässe in der Schweiz

von Alfred Wild am 20.06.2018 um 22:29 Uhr

Um 1984 galt in der Schweiz folgendes Regime
ein 3 Monatsvorrat beim Patienten
ein 3 Monatsvorrat bei der Abgabestelle
ein 3 Monatsvorrat beim Grossisten
ein 3 Monatsvorrat beim Hersteller
Das hat gut funktioniert bis die hohe Politik so ganz nach dem Motto“ kopfgeboren, universitär, nicht praxistauglich“ einfach mit einem Federstrich über Nacht die Preise herabgesetzt hat.
Diese grossen finanziellen Verluste auf allen Ebenen waren letztlich das Killermoment. Man kann wohl mit heiligem Eifer und all den wirtschaftswissenschaftlichen Methoden und Argumentationen in so ein sorgfältig austariertes System eingreifen, der Effekt „Elefant im Porzellanladen“ wurde so verschuldet. Und das mit tatkräftiger Mithilfe der Politik, die nach dem Motto funktionierte „ wenn ich nichts mehr weiss, mach’s ich über den Preis“. Man muss manchmal gar nicht soweit suchen! Dies ist meine Erfahrung nach 40 Berufsjahren.

» Auf diesen Kommentar antworten | 0 Antworten

Das Kommentieren ist aktuell nicht möglich.