Interview Apothekerverband Schleswig-Holstein

„Das TSVG wird jetzt schon zum Problem für die Impfstoffversorgung“

Süsel - 07.03.2019, 07:00 Uhr

Christian Stolzenburg, Mitglied des Vorstandes des
Apothekerverbandes Schleswig-Holstein, und Dr. Thomas Friedrich, Geschäftsführer des
Apothekerverbandes Schleswig-Holstein und des Hamburger Apothekervereins, meinen im DAZ.online-Interview: Die von der Großen Koalition geplanten Impfstoff-Regelungen könnten jetzt schon zur Gefahr werden. (Foto: privat)

Christian Stolzenburg, Mitglied des Vorstandes des Apothekerverbandes Schleswig-Holstein, und Dr. Thomas Friedrich, Geschäftsführer des Apothekerverbandes Schleswig-Holstein und des Hamburger Apothekervereins, meinen im DAZ.online-Interview: Die von der Großen Koalition geplanten Impfstoff-Regelungen könnten jetzt schon zur Gefahr werden. (Foto: privat)


Mit dem Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) greift der Gesetzgeber zum wiederholten Mal in schneller Folge in die Versorgung mit Grippeimpfstoffen ein. Dafür gibt es immer wieder neue Entwürfe, die  umstritten sind. Welche Probleme sich daraus für die Versorgung ergeben, erläutern Dr. Thomas Friedrich und Christian Stolzenburg im DAZ.online-Interview. Friedrich erklärt: „Noch bevor das TSVG in Kraft tritt, wird es selbst zu einem Teil des Problems“. Denn schon jetzt sei man bereits mitten in der aktiven Vorbereitung für die nächste Impfsaison.

Dr. Thomas Friedrich ist Geschäftsführer des Apothekerverbandes Schleswig-Holstein und des Hamburger Apothekervereins. Christian Stolzenburg ist erster stellvertretender Vorsitzender des Apothekerverbandes Schleswig-Holstein. Beide blicken auf jahrelange Verhandlungserfahrung zurück.

Planung für 2019/2020 ist längst angelaufen

DAZ.online: Welcher zeitliche Vorlauf ist für eine sichere Versorgung mit Grippeimpfstoffen nötig?

Friedrich: Der Startschuss für die Saison 2019/2010 ist längst gefallen, denn dies ist ein aufwändiges Saisongeschäft. Schon im Oktober, also mitten in der laufenden Impfsaison, haben wir unsere Gespräche mit allen potenziellen Anbietern begonnen. Nach dieser Marktanalyse haben wir uns bereits am 18. Dezember letzten Jahres mit den Krankenkassen für Hamburg und Schleswig-Holstein grundlegend geeinigt. Da die Arzneimittelpreisverordnung bisher für Grippeimpfstoffe nicht gilt, haben wir auf der Grundlage des damaligen TSVG-Entwurfs einen wirtschaftlichen Preiskorridor vereinbart. Demnach gelten tetravalente Grippeimpfstoffe bis zu einem GKV-Erstattungspreis von 12,50 Euro als wirtschaftlich. Auch die Kommunikation gegenüber den Ärzten ist schon erfolgt. Das war nötig, weil die Außendienste der Hersteller bereits seit Ende vorigen Jahres die Ärzte und Apotheken besuchen, um für ihre Impfstoffe zu werben. Die Ärzte sind es bei uns seit Jahren auch gewohnt, an einem verbindlichen Vorbestellsystem teilzunehmen.

Dr. Thomas Friedrich, Geschäftsführer des Apothekerverbandes Schleswig-Holstein. (Foto: tmb)

DAZ.online: Welche Folgen haben die neuen Entwürfe des TSVG für diese laufenden Vorbereitungen auf die Impfsaison 2019/2020?

Stolzenburg: Es ist massive Unsicherheit entstanden. Es ist immer noch unklar, auf welcher  gesetzlichen und wirtschaftlichen Grundlage die Versorgung stattfinden kann. Die unerlässliche frühzeitige Bestellung wird dadurch massiv behindert. Was als Reaktion auf die Fehler der vorigen Saison gut gemeint war, steuert nun in dieselbe Konfliktlage hinein und wird wieder dazu führen, dass regional zu spät vorbestellt wird und damit letztlich zu wenig Impfstoff zur Verfügung steht. 

Friedrich: Darum sollten, wenn überhaupt, neue Regelungen zur Preisbildung erst für die Saison 2020/2021 gelten. Nur so kann die Versorgung für die Saison 2019/2020 gesichert werden. Die Impfungen müssen bis spätestens Ende April bestellt werden und dafür brauchen alle Beteiligten klare Bedingungen.

Neue Bedarfsermittlung als „Planwirtschaft“

DAZ.online: Der jüngste Entwurf für das TSVG sieht in einem neuen § 132e Absatz 2 SGB V auch eine neue Bedarfsermittlung vor. Wie beurteilen Sie dieses Konzept hinsichtlich der Versorgungssicherheit?

Friedrich: Das Konzept mutet an wie Zentralplanwirtschaft. Die hat aber noch nie funktioniert. Die neuen Ansätze sind nicht geeignet und vor allem nicht erforderlich.

DAZ.online: Bitte führen Sie das näher aus.

Friedrich: Nach dem vorliegenden Änderungsantrag soll die Kassenärztliche Bundesvereinigung bis zum 15. Januar Bedarfe an das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) melden. Das PEI wiederum soll diese Zahlen mit gemeldeten Daten der Hersteller abgleichen und dann inklusive einer aufgeschlagenen Reserve von 10 Prozent an beide zurückspiegeln. Doch das KV-System erfasst nicht alle Impfstränge. Die Impfungen in Betrieben und im öffentlichen Gesundheitsdienst sowie von Selbstzahlern fehlen. Die Meldung am 15. Januar erfordert eine Abfrage bei den Ärzten Anfang Dezember. Dann ist die laufende Impfkampagne noch längst nicht abgeschlossen. Außerdem muss dafür eine neue Bürokratie mit neuen Kosten aufgebaut werden. Andererseits ist die Zahl der produzierten Impfdosen bei den Herstellern bekannt und die tatsächlichen Impfungen im Rahmen der GKV ergeben sich aus den Abrechnungsdaten. Daraus sollte das PEI Prognosen entwickeln können. Die jeweils zum 15. März mitzuteilenden Daten haben allerdings keinerlei erkennbare Steuerungswirkung und erhöhen die Versorgungssicherheit nicht. Für die einzelne Arztpraxis sind sie wertlos. Wie soll denn die KBV auf die Situation in jeder Praxis einwirken? Im Übrigen ergibt sich aus ärztlich gemeldeten Bedarfen noch keine einzige verbindliche Bestellung oder Verordnung.  

Stolzenburg: Außerdem stehen die Hersteller im Wettbewerb. Absprachen über Anteilsverteilungen sind kartellrechtlich unzulässig. Die Relationen untereinander verschieben sich durch Marktein- und -austritte, neue Produkte, Preise und Liefermodalitäten- von Jahr zu Jahr aufs Neue. Aussagen auf der Makroebene, wie die Mengenprüfung durch das PEI, haben damit für die Hersteller keine belastbaren oder gar verpflichtenden Folgen.  Entscheidend ist und bleibt, wie viel Ware Großhandel und Apotheken kaufen. Denn bisher ist nicht erkennbar, dass der Staat oder die Krankenkassen ins Risiko gehen wollen.

Vorschlag für ein Bestellsystem

DAZ.online: Was schlagen Sie stattdessen vor?

Friedrich: Es muss ein frühzeitiges verbindliches Bestellsystem für saisonale Grippeimpfstoffe zwischen den beteiligten Vertragspartnern auf Landesebene - Krankenkassen, Kassenärztliche Vereinigung und Apothekerverband - etabliert werden. Dazu liegen bereits gute Erfahrungen aus den letzten Jahren in Westfalen-Lippe, Schleswig-Holstein, Hamburg, Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern vor. Und das haben wir auch für die kommende Saison für Hamburg und Schleswig-Holstein wieder am Start.

Da die Apotheken die Grippeimpfstoffe nach dem Sachleistungsprinzip bereitstellen, können die Verträge nicht ohne die Apotheker als Leistungserbringer geschlossen werden. Wie diese sich wechselseitig bedingenden Vereinbarungen im Sozialrecht zu verankern wären, zeigt ein Vorschlag des Apothekerverbandes Schleswig-Holstein (siehe Kasten).

Stolzenburg: Die ärztlichen Bestellungen müssten idealerweise bis Ende Februar erfolgen. Der Praxisbedarf könnte in 90 Prozent Vorbestellung und 10 Prozent Nachbestellung aufgeteilt werden. Hinzu käme eine Reserve von 10 Prozent für Mehrbedarf. Um den Apotheken Sicherheit für ihre Abrechnung zu geben, sollten die Rezepte für die ganze Saison gültig sein. Dann könnten die Apotheken verbindlich bei den Herstellern ihrer Wahl bis Ende März bestellen. So hätten auch die Hersteller bereits zum Beginn der Produktionsphase eine hohe Abverkaufssicherheit.

Mögliche gesetzliche Verankerung eines Bestellsystems

Vorschlag des Apothekerverbandes Schleswig-Holstein:

Für Ärztinnen und Ärzte wäre in § 106b Absatz 1a Satz 2 SGB V zu ergänzen: „Das Nähere ist in den Vereinbarungen nach Absatz 1 Satz 1 zu regeln.“

Für die Apotheken wäre § 129 Absatz 5 SGB V in Satz 1 zu ändern und um einen neuen Satz 2 zu ergänzen: „Die Krankenkassen und ihre Verbände schließen mit den für die Wahrnehmung der wirtschaftlichen Interessen maßgeblichen Organisationen der Apotheker auf Landesebene ergänzende Verträge. In den Verträgen wird bis zum 15. Februar eines Jahres unter anderem das Nähere über die Bestellung und Belieferung mit saisonalen Grippeimpfstoffen für den Sprechstundenbedarf vereinbart.“ 

Apotheken brauchen Handelsspanne

DAZ.online: Aus Apothekersicht konzentriert sich der Blick bisher auf die neuen Vorschläge zur Preisbildung bei Grippeimpfstoffen. Wie beurteilen Sie den Vorschlag, diese der Preisbindung zu unterwerfen?

Friedrich: Auf den ersten Blick ist dies ein Ansatz, der für Planungssicherheit hinsichtlich der Vergütung zu sorgen scheint. Allerdings erschließt sich uns nicht, warum zugleich eine abweichende Preisbildungssystematik für Grippeimpfstoffe mit Festaufschlag und Preisdeckel kreiert werden soll. Grippeimpfstoffe sind wie die übrigen Impfstoffe verschreibungspflichtige Fertigarzneimittel und damit auch eine Handelsware. Der starre Aufschlag von einem Euro pro Dosis übersieht, dass es bereits jetzt besonders spezifizierte Grippeimpfstoffe gibt - zur nasalen Anwendung oder aus eiweißfreier Zellkultur. Diese haben einen höheren Einkaufspreis. Außerdem wird erwartet, dass demnächst neue, bessere aber wohl auch teurere Grippemittel auf den Markt kommen. Da reicht der eine Euro für die Vorfinanzierung nicht mehr aus. Bereits bei den derzeitigen Impfstoffen bekämen die Apotheken nach dem jüngsten TSVG-Entwurf zwischen 3 und maximal 8,5 Prozent der GKV-Aufwendungen für Grippeimpfstoffe, die Hersteller aber über 70 Prozent.

Stolzenburg: Zugleich sind Grippeimpfstoffe Saisonware mit Besonderheiten. Sie müssen langfristig vorbestellt, in großen Mengen vorfinanziert und kühl gelagert werden. Nicht abgerufene Teilmengen verfallen zulasten der Apotheke. Ein einfaches Beispiel zeigt, wie groß das kaufmännische Risiko ist. 1.000 Grippeimpfstoffdosen für 9.000 Euro bringen 1.000 Euro Ertrag für die Apotheke. Muss die Apotheke am Ende 100 Dosen verwerfen, verliert sie 1.000 Euro und somit den gesamten Ertrag der Saison. Viel dramatischer wird die Rechnung, wenn die Deckelung auf 75 Euro Aufschlag pro Verordnungszeile greift. Bei den in Schleswig-Holstein und Hamburg durchaus üblichen 200 Impfdosen pro Verordnungszeile sinkt der Ertrag dann auf 0,35 Euro pro Dosis. 

DAZ.online: Was stört sie so sehr an einem Sonderweg für einen besonderen Fall?

Friedrich: Die Begründung für den Sonderweg innerhalb der Arzneimittelpreisverordnung ist doppelt falsch. In der „amtlichen“ Begründung heißt es, auf den variablen Zuschlag von 3 Prozent und den einheitlichen Festzuschlag von derzeit 8,35 Euro könne verzichtet werden, da es sich nicht um die Abgabe an Versicherte, sondern an Ärztinnen und Ärzte handele. Bei denen seien Beratungsleistungen nicht erforderlich. Doch die 8,35 Euro sind auch bei allen anderen Arzneimitteln keine „Beratungsgebühr“, wie trotzdem immer wieder suggeriert wird.  Außerdem wird übersehen, dass gemäß § 20 Apothekenbetriebsordnung auch Ärzte hinreichend informiert und beraten werden müssen.

Stolzenburg: Die Notwendigkeit einer solchen Beratung von Ärztinnen und Ärzten kann ich aus meiner jahrelangen Praxis als impfstoffversorgender Apotheker nur bestätigen. Gerade beim Grippeimpfstoff, der sich von Saison zu Saison verändert, besteht Aufklärungs- und Informationsbedarf hinsichtlich der Auswahl des konkreten Impfstoffes. Das betrifft pharmazeutische Parameter, die Wirtschaftlichkeit, die gemeinsame Ermittlung der Bestellmenge und die Verordnungsweise. Dieser Prozess umfasst mehr als nur ein Beratungsgespräch und erfordert meist den persönlichen Besuch in der Arztpraxis. Der Beratungs- und Abstimmungsbedarf mit den Ärzten setzt sich während der Impfkampagne fort. Wann und wie viel soll in Tranchen aus der Gesamtmenge geliefert werden? Wie ist die jeweils aktuelle Bevorratungssituation in der Arztpraxis? Muss nachbestellt werden?

Friedrich: Gerade weil im Sprechstundenbedarf kein Kontrahierungszwang besteht, muss es für die Apotheke einen hinreichenden kaufmännischen Anreiz geben, diesen Aufwand zu leisten und das unternehmerische Risiko einzugehen. Der vorliegende Änderungsantrag unterstellt aber offenbar, dass Apotheken Impfstoffe nur an Ärzte „durchreichen“. Das ist offensichtlich falsch.

Ansätze für bessere Impfrate

DAZ.online: Sehen Sie trotz dieser Kritik auch positive Ansätze für die Versorgung mit Grippeimpfstoffen im jüngsten TSVG-Entwurf?

Stolzenburg: Durchaus, einiges begrüßen wir ausdrücklich. Eine angemessene Überschreitung der Verordnungsmenge gegenüber den tatsächlichen Impfungen soll nicht als unwirtschaftlich gelten. Das entschärft den Wirtschaftlichkeitsdruck auf die Ärzte und kann die Impfrate erhöhen. Auch die geplante Schärfung des europäischen Referenzpreisrabattes und das Verbot von Ausschreibungen von Impfstoffen für Schutzimpfungen sehen wir positiv. Erfreulich sind schließlich die Ansätze, den Zugang zu Impfungen zu erleichtern, insbesondere durch die Stärkung der Rolle des öffentlichen Gesundheitsdienstes.

DAZ.online: Vielen Dank für das Gespräch.



Dr. Thomas Müller-Bohn (tmb), Apotheker und Dipl.-Kaufmann
redaktion@daz.online


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1 Kommentar

Irrwitzige Regelung soll Versorgungssicherheit Verbessern?!

von Rainer W. am 07.03.2019 um 10:26 Uhr

Die Lösung auf die Deckelung ist ganz einfach: Bei uns wird es nicht mehr Impfstoffe pro Rezept geben als voll bezahlt werden.

Bei dem Risiko, Kühlkettenpflicht und minimaler Vergütung wird es auch keinen einzigen Impfstoff auf Vorrat geben. Was nicht bezahlt wird wird auch nicht geleistet.

Ich seh die Lieferengpässe nächstes Jahr schon kommen, Einzelimporte für 1€ pro Stück bei voller Haftung könnt ihr aber noch mehr vergessen als Vorratshaltung.

Wir mussten letztes Jahr sogar einen zusätzlichen Kühlschrank inklusive Temperaturführung in Betrieb nehmen damit der Lagerplatz reicht. Für 1€ pro Dosis und maximal 75€ pro Rezept? Sicher nicht.

Die "Experten" mögen mal schauen was so ein Temperaturgeführter Kühlschrank kostet, ohne laufende Kosten und Zeit für Dokumentation.

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