Arzneiverordnungs-Report 2019

Kritischer Blick auf patentgeschützte Arzneimittel

Berlin - 24.09.2019, 17:09 Uhr

Die AVR-Autoren Ulrich Schwabe (li.) und Wolf-Dieter Ludwig sehen die Entwicklungen im Arzneimittelmarkt kritisch. (m / Foto: ks / DAZ.online)

Die AVR-Autoren Ulrich Schwabe (li.) und Wolf-Dieter Ludwig sehen die Entwicklungen im Arzneimittelmarkt kritisch. (m / Foto: ks / DAZ.online)


Die Arzneimittelausgaben der Gesetzlichen Krankenversicherung sind 2018 zwar nur moderat gestiegen – das hält die Herausgeber des Arzneiverordnungs-Reports aber gewiss nicht davon ab, ungenutzte Einsparpotenziale und alarmierende Entwicklungen zu beschwören. Professor Ulrich Schwabe beklagte bei der heutigen Vorstellung des Reports, dass eine Reihe von Arzneimitteln erhebliche Umsatzsteigerungen verzeichnen, obwohl sie nicht einmal mit internationalen Leitlinien kompatibel sind – zum Beispiel Oxycodon und Metamizol.

Seit nunmehr 35 Jahren erscheint der Arzneiverordnungs-Report (AVR) – das GKV-Zahlenwerk zu den Entwicklungen im Arzneimittelmarkt. Seit einigen Jahren kommt der vom Wissenschaftlichen Institut der AOK (WIdO) mitherausgegebene Report zu dem Schluss, dass man sich vor allem bei den patentgeschützten Arzneimittel Sorgen machen muss.

Das sieht AVR-Herausgeber Professor em. Ulrich Schwabe vom Pharmakologischen Institut der Universität Heidelberg auch in diesem Jahr nicht anders. Dabei wirkt die Entwicklung auf den ersten Blick gar nicht so alarmierend: 2018 wuchsen die GKV-Arzneimittelausgaben um 3,2 Prozent auf 41,2 Milliarden Euro. Weil auch die Zahl der Versicherten stieg, ist das Plus noch geringer (2,3 Prozent), wenn man es je Versicherten berechnet. Schwabe räumte bei der heutigen AVR-Vorstellung in Berlin ein: „Das ist nicht viel mehr als die Inflationsrate“.

Festbeträge, Rabattverträge und AMNOG-Verfahren wirken

Wirken die vielfältigen Kostendämpfungsmaßnahmen im Arzneimittelsektor also? Offensichtlich ja. Vor allem die Festbeträge entlasten die Kassen zuverlässig – um 8,2 Milliarden Euro im vergangenen Jahr. An zweiter Stelle stehen die Rabattverträge zwischen Krankenkassen und pharmazeutischen Unternehmen, die rund 4,5 Milliarden sparten. Beide Maßnahmen betreffen vor allem den Generikamarkt. Im Bereich der patentgeschützten Arzneimittel wirkt das AMNOG-Verfahren, also die frühe Nutzenbewertung mitsamt Erstattungsbeträgen. Das brachte laut Schwabe 2018 Einsparungen von 2,65 Milliarden Euro – das sind 900 Millionen Euro mehr als im Vorjahr. „Das war auch dringend nötig“, betonte Schwabe. Denn Deutschland leiste sich nach wie vor den Luxus der freien Preisbildung von neuen Patentarzneimitteln im ersten Jahr nach der Marktzulassung.

Hochpreiser werden immer teurer

In den vergangenen 20 Jahren hat sich laut Schwabe der Kostenanteil patentgeschützter Präparate an den GKV-Gesamtarzneimittelausgaben von 33 auf nunmehr 47 Prozent erhöht. Von 30 Arzneimitteln, die 2018 die Nutzenbewertung durchliefen, kosten nur zwei weniger als 2.500 Euro pro Jahr (zum Vergleich: Ein durchschnittliches Generikum schlägt mit 128 Euro im Jahr zu Buche). Spitzenreiter ist ein Orphan-Drug: Vestronidase alfa (Mepsevii®) zur Behandlung einer lysosomalen Speicherkrankheit (Sly-Syndrom) mit Jahrestherapiekosten in Höhe von fast 1,1 Millionen Euro. Allerdings gibt es sehr wenige Patienten, die unter dieser Erkrankung leiden – die GKV-Gesamtausgaben für das Arzneimittel liegen daher „nur" bei 4,8 Millionen Euro. 

Doch Schwabe führt auch Hochpreiser an, die weitaus breiter zum Einsatz kommen. Zum Beispiel Verzenios® (Abemaciclib), nach Palbociclib (Ibrance®) und Ribociclib (Kisqali®) der mittlerweile dritte CDK4/6-Inhibitor zur Behandlung des fortgeschrittenen oder metastasierten HR-positiven und HER2-negativen Mammakarzinoms: Abemaciclib koste 41.009 Euro im Jahr und sorge bei den Kassen für Ausgaben von 3,5 Milliarden Euro. 

Noch krasser könnte es bei den neuen Migräne-Antikörpern werden, meint Schwabe: Komme Erenumab (Aimovig®), das uneingeschränkt für alle Patienten mit episodischer Migräne zugelassen ist, umfassend zum Einsatz, könnten das 2,4 Millionen Patienten sein – was rein rechnerisch GKV-Gesamtkosten von 30,3 Milliarden Euro verursachen könnte. Dabei, so Schwabe, sei lediglich ein Zusatznutzen für eine kleine Gruppe von 14.500 Patienten belegt – doch der Gemeinsame Bundesausschuss beschloss keine Verordnungseinschränkung. Zugelassen als CGRP-Antikörper sind neben Erenumab auch Galcanezumab (Emgality®) und Fremanezumab (Ajovy®).

Hände weg von Oxycodon, Morphin ist der Goldstandard

Aber Schwabe ärgert sich auch, dass vermeintliche Innovationen eingesetzt werden, obwohl ältere Arzneimittel noch immer der Goldstandard sind. So appellierte er dringend an die Ärzte, die Finger von dem Opioidanalgetikum Oxycodon zu lassen – das Arzneimittel, das wegen seines Suchtpotenzials seit geraumer Zeit für erschreckende Schlagzeilen in den USA sorgt. „Kehren Sie zurück zu Morphin, das ist evidenzbasierte Medizin!“, betonte Schwabe. In der aktuellen Europäischen Leitlinie für Krebsbehandlungen werde Morphin weiterhin als Opioid der ersten Wahl bei schweren Tumorschmerzen empfohlen.

Noch schlimmer sieht es laut Schwabe aber bei den Nichtopioidanalgetika aus: Hierzulande werde fast nur noch Metamizol verordnet. Dabei sei Metamizol in vielen Ländern wegen tödlicher Agranulozytosen verboten oder nie zugelassen.

Orphan Drugs weiterhin im Aufwind

Professor Wolf-Dieter Ludwig, Onkologe, Vorsitzender der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) und ebenfalls AVR-Herausgeber, kritisierte überdies die seit einiger Zeit zu beobachtende Entwicklung bei Orphan-Drugs. Herstellern werden Anreize gesetzt, Arzneimittel gegen seltene Erkrankungen zu entwickeln: Zehn Jahre Marktexklusivität etwa, zudem gibt es oft Fördergelder. Als die Regelung eingeführt wurde, war dies sicher ein wichtiger Anschub – aber heute müsse man sich fragen, ob die Anreize noch stimmen. Denn die Umsätze wachsen enorm, 2018 lag der Anteil der Orphan Drugs am GKV-Arzneimittelmarkt bei 8,9 Prozent – dabei, so Ludwig, liege ihr Verordnungsanteil nur bei 0,05 Prozent. 

Besonders kritisch ist aus Sicht des Mediziners, dass Orphan-Zulassungen oft auf einer wackeligen Studienlage beruhen: „Patienten sind hier mitunter erheblichen Unsicherheiten ausgesetzt.“ Das findet Ludwig auch mit Blick auf die zunehmend häufigen beschleunigten Zulassungen für Arzneimittel. Hier müsse es dringend unabhängige Post-Marketing-Studien geben, so Ludwig. Doch diese Forderung ist noch unerhört.



Kirsten Sucker-Sket (ks), Redakteurin Hauptstadtbüro
ksucker@daz.online


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