Drastischer Preisverfall bei Generika

Die „Ursache aller Ursachen“ für Lieferengpässe in Kanada

Remagen - 11.12.2019, 14:14 Uhr

Auch kanadische Apotheken haben mit Engpässen zu kämpfen. Auf der Website von Health Canada sind aktuell fast 2.000 Medikamente als Mangelware aufgeführt. ( r / Foto: picture alliance / NurPhoto)

Auch kanadische Apotheken haben mit Engpässen zu kämpfen. Auf der Website von Health Canada sind aktuell fast 2.000 Medikamente als Mangelware aufgeführt. ( r / Foto: picture alliance / NurPhoto)


In Kanada sind derzeit knapp 2.000 Medikamente von Lieferengpässen betroffen, ein wachsendes Problem, das dort 2010 begann. Experten in der kanadischen Pharmabranche haben einige Hauptgründe für die Verknappungen herauskristallisiert. Als „Ursache all dieser Ursachen“ bezeichnet eine kanadische Wirtschaftszeitung den Preissturz bei Generika.

Auf der Website von Health Canada sind aktuell fast 2.000 Medikamente als Mangelware aufgeführt. Die Wirtschaftszeitung „Financial Post“ hat versucht, die „Standard-Litanei von Produktionsstörungen“, die Regierungen und Industrie in der Regel für einzelne Ausfälle verantwortlich machen, ein bisschen beiseite zu schieben und das Augenmerk auf die tatsächlich wesentlichen Faktoren zu lenken. Branchenexperten sowie Regierungs- und akademische Berichte legten einige überraschende und selten diskutierte Ursachen nahe, von denen viele bis in die späten 2000er Jahre zurückreichten, kurz bevor Defizite allgegenwärtig geworden seien, schreibt die Zeitung.

Konzentration in der Arzneimittelbranche

Eine davon sei die dramatische Konsolidierung der Pharmaindustrie, ausgelöst durch die zunehmende Anzahl von Fusionen und Übernahmen in der Branche. Diese Konzentration habe nach einer Studie von Wirtschaftsprofessoren der Duke University aus dem Jahr 2017 im Jahr 2008 mit 800 Merger & Akquisition-Transaktionen einen Höhepunkt erreicht. Als ein Beispiel für die fünfzehn „Megadeals“ wird der Kauf von Genentech Inc. durch die Roche Holding AG für 47 Milliarden US-Dollar angeführt. „Das Ergebnis sind weniger Optionen für Endkunden“, schlussfolgert Kanadas „Multi-Stakeholder"- Ausschuss für Arzneimittelengpässe. 

Komplexe Lieferketten

Als weiteren Faktor nennt die Zeitung die Globalisierung der Zulieferkette für Arzneimittel. Die Arzneimittelversorgungskette sei „länger, komplexer und fragmentierter" geworden, was es schwieriger mache, auf Produktionsstörungen zu reagieren, wird aus einem kürzlich veröffentlichten Bericht der US-amerikanischen Food and Drug Administration (FDA) zitiert. 

„Meilensteinereignis“ Heparin-Skandal

Ein interessanter Aspekt, der Lieferengpässe ebenfalls befördern könnte, betrifft laut Financial Post die zunehmenden Kontrollen in Indien und China, den heutigen Haupterzeugerländern für pharmazeutische Rohstoffe, die rund 80 Prozent des Weltmarktes bedienen. 

Als „Meilensteinereignis“ dafür beschreibt die Zeitung den Heparin-Skandal in den USA im Jahr 2008, zwei Jahre bevor Engpässe „zu einem heißen Thema wurden“. Verunreinigtes Heparin aus einer Fabrik des Herstellers Baxter International Inc. in China hatte in den Vereinigten Staaten zu mehr als achtzig Todesfällen geführt. Dies veranlasste die FDA, die bis dahin seltenen Inspektionen ausländischer Arzneimittelzulieferer zu verschärfen. Das sei zwar eine durchaus willkommene Entwicklung, jedoch führten mehr Inspektionen zu mehr Störungen, weil immer wieder Probleme vor Ort behoben werden müssten, und damit zu mehr Engpässen, so die Schlussfolgerung. Der kanadische Ausschuss für Lieferengpässe bringt es auf den Punkt: „Wenn die Aufsichtsbehörden ein Problem finden und ein Unternehmen die Produktion drosseln oder einstellen muss, um dieses Problem zu beheben, tritt in der gesamten globalen Lieferkette ein Dominoeffekt ein, der sich auf viele Länder und Endverbraucher auswirkt.“

Gesamtkosten für Generika um 60 Prozent gesunken

Die „Ursache all dieser Ursachen“ ist für die Financial Post jedoch der „sichtbarsten Trend“ in der Branche, nämlich der drastische Preisverfall bei Generika in vielen Ländern. „Die überwiegende Mehrheit der Engpässe betrifft Arzneimittel, deren Patente - oftmals schon vor langer Zeit - abgelaufen sind und die Generikaherstellern den Wettbewerb ermöglichen,“ erläutert Jackie Duffin, kürzlich pensionierte Professorin an der Queen's University, die das Problem schon lange verfolgt hat, gegenüber der Financial Post. Während es jedoch einst zahlreiche Konkurrenten gegeben habe, habe sich dieser Pool über die Jahre stetig verkleinert. Da die kanadischen Provinzen Preise erwirkten, die bis zu 10 Prozent der Markenversion betragen könnten, sollen die Gesamtkosten für Generika nach Angaben des Patented Medicine Price Review Board in Ottawa von 2007 bis 2018 um 60 Prozent gesunken sein.

„Wir hatten Produkte, die lange Zeit nur Verluste eingefahren haben“, bemerkt Jordan Berman, ein Sprecher des kanadischen Generikagiganten Apotex, in dem Zeitungsbericht. „Die Unternehmen verlassen den Markt, weil sie es sich nicht leisten können, Produkte mit Verlust herzustellen.“

Tamoxifen: Von 2,88 US-Dollar auf 17 Cent

Als Beispiel für den drastischen Preisverfall wird Tamoxifen angeführt, für das es aktuell eine Verknappung gibt. Als die Markenversion 1985 herauskam, seien die Präparate für 2,88 US-Dollar pro 10 mg verkauft worden, rechnet Duffin vor. Heute koste einen  Pille 17 Cent. Nach dem Erlöschen des Patents hätten zunächst nicht weniger als elf Unternehmen das Medikament hergestellt, von denen heute nur noch drei übriggeblieben seien. Der Mangel habe begonnen, als der größte von ihnen, Apotex, beschloss, seinen Herstellungs- und Formulierungsprozess in einem Werk in Ontario zu ändern. Das Werk beliefere zwei Drittel des Marktes, und die anderen beiden, der Generika-Kollege Teva und der Markenhersteller Astra Zeneca, hätten die vorübergehende Lücke nicht schließen können. Nun soll Apotex bald wieder lieferfähig sein.



Dr. Helga Blasius (hb), Apothekerin
redaktion@daz.online


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