Ärztevertreter Heinrich zum TI-Chaos

„Apotheker sollten sich Verbündete suchen“

Berlin - 19.08.2020, 17:55 Uhr

Dr. Dirk Heinrich ist Vorsitzender des Virchowbunds, der als freier Verband die Interessen der niedergelassenen Ärzte vertritt. (s / Foto: Lopata / axentis)

Dr. Dirk Heinrich ist Vorsitzender des Virchowbunds, der als freier Verband die Interessen der niedergelassenen Ärzte vertritt. (s / Foto: Lopata / axentis)


Die Digitalisierung im Gesundheitswesen soll über die Telematikinfrastruktur (TI) gewährleistet werden. Allerdings gibt es erhebliche Probleme bei der Anbindung, etwa in den Arztpraxen. Der Vorsitzende des Virchowbunds, der als freier Verband die Interessen der niedergelassenen Ärzte vertritt, erklärt im Gespräch mit DAZ.online, mit welchen Schwierigkeiten der Berufsstand zu kämpfen hat – und was Apotheker beachten sollten. 

DAZ.online: Herr Dr. Heinrich, Sie twitterten kürzlich: „Gerade hat mir ein Kollege seine Rechnungen für die TI gezeigt. Und natürlich hat die IT-Firma den Betrag, der für die Praxis vorgesehen ist, auch abgegriffen. Der Kollege ist wütend – zu Recht.“ Was meinen Sie damit?

Heinrich: Eigentlich ist gesetzlich geregelt, dass die Anbindung an die TI für Ärzte kostenneutral ist. Jetzt zeigt sich aber, dass Ärzte häufig draufzahlen müssen, weil die Anbieter „Mondpreise“ verlangen. Sie streichen sich die Refinanzierung durch die Krankenkassen direkt ein, insbesondere dadurch, dass sie den Anteil der Finanzierung, der für die Praxis selbst gedacht war, mit abkassieren und darüber hinaus Zusatzkosten verlangen, auf denen der Arzt sitzen bleibt.

DAZ.online: Was sagt dieser Fall zum Thema TI generell aus? Kippt die Stimmung in der Ärzteschaft endgültig?

Heinrich: Es brodelt zumindest, und das ist verständlich, denn ein Mehrwert ist nicht spürbar, dafür aber finanzieller und zeitlicher Mehraufwand, Stress und Ärger. Wir machen derzeit bereits den Versichertenstammdatenabgleich, obwohl das eine administrative Aufgabe der Kassen und keine Versorgung der Patienten ist.

DAZ.online: Sie fürchten, dass „der massive TI-Unmut in den Praxen rasch zum Flächenbrand werden kann“. Welche Konsequenzen hätte das?

Heinrich: Es ist zu befürchten, dass viele ältere Kollegen nun vorzeitig in Ruhestand gehen, und dass andere Kollegen ihre Zulassung zurückgeben und rein privatärztlich tätig werden. Das wäre ein verheerendes Signal an den Nachwuchs; der Ärztemangel im vertragsärztlichen Bereich würde sich verschlimmern.

DAZ.online: Als nächstes werden ja die Apotheker an die TI angeschlossen…

Heinrich: Ja, ich bin gespannt, wie das ablaufen wird, denn ich kann auch hier noch nicht erkennen, welchen Nutzen der Apotheker davon haben wird. Nötigenfalls müssen wir eben gemeinsam, Apotheker mit Ärzten, noch einmal bei der Politik anklopfen und deutlich machen: So nicht!

DAZ.online: Warum ist die Situation überhaupt wie sie ist?

Heinrich: Ein Kardinalfehler war, dass mit dem Versichertenstammdatenmanagement eine zwar simple Anwendung gewählt wurde, die aber in den Bereich der Kassen fällt, nicht der Ärzte. Somit ist für uns Praxisärzte kein Mehrwert erlebbar. Die Folge-Anwendungen sind ebenfalls nicht so optimal konstruiert: Die elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (eAU) ist zwar an sich sinnvoll – in der Praxis führt sie aber erst einmal zu deutlichem Mehraufwand. Denn die Krankschreibung muss auch weiterhin auf Papier ausgestellt werden. Von der elektronischen Variante profitieren faktisch nur Kassen und Arbeitgeber. Für uns Ärzte verdoppelt sich also der Aufwand. Dabei soll Digitalisierung doch Prozesse vereinfachen und beschleunigen! Außerdem: Wer – aus welchen Gründen auch immer – nicht an diesem Vorgang teilnimmt, ist quasi aus der vertragsärztlichen Versorgung ausgeschlossen.

Woran das E-Rezept krankt

DAZ.online: Wie sehen Sie vor diesem Hintergrund die Einführung des E-Rezepts?

Heinrich: Das E-Rezept krankt an ähnlicher Stelle. Viele Patienten haben schlicht nicht die technischen Möglichkeiten oder das nötige Anwender-Wissen, um mit einem E-Rezept umgehen zu können. Das Papierrezept bleibt also notwendig. Ein weiteres Mal werden Doppelstrukturen geschaffen.

DAZ.online: Wer hat an welchen Stellen versagt?

Heinrich: Insgesamt haben es Politik und Gematik versäumt, den Mehrwert der Digitalisierung durch gute Anwendungen herauszuarbeiten. Und jetzt stellt sich auch noch heraus, dass die Technologie nicht richtig funktioniert. Bei der jüngsten Störung hat die Gematik zu lange nicht reagiert beziehungsweise hat versucht, das Ausmaß zu verschleiern. Da ging viel Vertrauen verloren.

DAZ.online: Welche Forderungen haben Sie als Vertreter der niedergelassenen Ärzte an die Politik?

Heinrich: Es wäre sinnvoll und wünschenswert gewesen, wenn Politik und Selbstverwaltung gerade in Corona-Zeiten angesichts der Mehrbelastungen der Praxen das strikte TI-Zeit- und Sanktions-Regime gelockert hätten. Wir wünschen uns mehr digitale Strukturen und Anwendungen auf der Höhe der Zeit statt veralteter Technik, den größtmöglichen Schutz der Patientendaten statt zentraler Speicherung, echte Erleichterung im Praxisalltag statt Störungen, Aufwand und Ärger sowie finanzielle Anreize statt Strafandrohungen. Diese Kritik zu formulieren und zu kanalisieren, ist Aufgabe der freien Verbände. Einmal mehr zeigt sich: In solch schwierigen Situationen können sie die Ärzteschaft besser vertreten als öffentliche Körperschaften, die gezwungen sind, Gesetze und Verordnungen umzusetzen und damit immer zwischen zwei Stühlen sitzen. Je stärker die freien Verbände im Hintergrund arbeiten, desto eher haben auch die KVen und die KBV eine Chance, die Positionen der Ärzteschaft realpolitisch umzusetzen.

DAZ.online: Was empfehlen Sie denjenigen Berufsgruppen, denen der Anschluss an die TI noch bevorsteht, etwa den Apothekern?

Heinrich: Die Apotheker sollten sicherstellen, dass Anwendungen einen erlebbaren und praktischen Mehrwert bringen. Die Finanzierung sollte nicht über Pauschalen, sondern anhand der real anfallenden Anschlusskosten erfolgen. Zudem sollten sie Plänen zu Sanktionsmöglichkeiten bei Nichtanschluss entschieden entgegentreten und Geschlossenheit beweisen. Nötigenfalls sollten sie sich Verbündete suchen, beispielsweise die Ärzteschaft.



Anja Köhler, Freie Journalistin
redaktion@daz.online


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