Kesimpta: Erster B-Zell-Antikörper zur Eigenapplikation

EMA empfiehlt Zulassung von Ofatumumab bei aktiver schubförmiger MS

Stuttgart - 10.02.2021, 16:45 Uhr

Ofatumumab ist ein vollhumaner Antikörper, der bald bei Patienten mit aktiver schubförmiger MS in Europa eingesetzt werden könnte. (Foto: ralwel / stock.adobe.com)

Ofatumumab ist ein vollhumaner Antikörper, der bald bei Patienten mit aktiver schubförmiger MS in Europa eingesetzt werden könnte. (Foto: ralwel / stock.adobe.com)


Mit Ofatumumab (Kesimpta) könnte nach Ocrelizumab (Ocrevus) der zweite B-Zellantikörper in die MS-Behandlung Einzug finden, die EMA empfahl die Zulassung bei aktiver schubförmiger MS. Anders als den humanisierten Antikörper Ocrelizumab (Infusion alle sechs Monate) können sich RMS-Patienten den humanen Antikörper Ofatumumab auch monatlich subcutan selbst applizieren. Kesimpta verringerte in Studien die jährliche Schubrate stärker als Teriflunomid (Aubagio), teilweise besserte sich eine bestehende Behinderung nach sechsmonatiger Behandlung.

Der Humanarzneimittelausschuss – das Committee for Medicinal Products for Human Use (CHMP) – der EMA rät zur Zulassung eines neuen Arzneimittels bei Multipler Sklerose (MS): Ofatumumab in Kesimpta®. So die Europäische Kommission dem Rat der EMA folgt, könnte Ofatumumab in Bälde bei Patienten mit aktiver schubförmiger MS-Erkrankung (RMS) – definiert durch klinische oder bildgebende Eigenschaften – eingesetzt werden. Zulassungsinhaber von Kesimpta® ist Novartis Ireland Limited.

Wie wirkt Ofatumumab?

Ofatumumab ist ein vollhumaner Antikörper, er richtet sich gegen B-Zellen, genauer gesagt: CD20+-B-Zellen, indem Ofatumumab an CD20 auf der Oberfläche dieser Immunzellen bindet und sie so neutralisiert. Nach derzeitigen Erkenntnissen spielen B-Zellen im neurodegenerativen Entzündungsgeschehen bei MS eine wichtige Rolle. Durch Blockade bestimmter B-Zellen versucht man, die zum Myelinabbau führenden Entzündungsprozesse und die damit einhergehende zunehmende Behinderung der Patienten zu verlangsamen. Verabreicht wird Ofatumumab als subcutane Injektion, die sich Patienten – nach entsprechender Schulung – auch selbst verabreichen könnten, erklärt Novartis.

Ofatumumab versus Teriflunomid

Die EMA stützt ihre Empfehlung auf Ergebnisse zweier klinischer Phase 3 Studien – ASCLEPIOS I und ASCLEPIOS II. Beide Studien liefen doppelblind, double-dummy, randomisiert, multizentrisch (350 Standorte, 37 Länder), das Design war identisch, untersucht wurde Ofatumumab gegen Teriflunomid. Letzteres ist seit 2013 zur oralen Behandlung von remittierend schubförmiger MS in Deutschland zu gelassen (Teriflunomid reduziert die Anzahl aktiver T-und B-Zellen im zentralen Nervensystem und konnte in Studien die Schubrate bei MS-Patienten verringern; es hemmt die Bildung von Pyrimidin, einem wichtigen Grundstein der DNA und RNA). Die Studie „Ofatumumab versus Teriflunomide in Multiple Sclerosis“ wurde im August 2020 im Fachjournal „The New England Journal of Medicine“ veröffentlicht.

Ofatumumab verringert jährliche Schubrate stärker als Teriflunomid 

1.882 MS-Patienten [Alter zwischen 18 und 55 Jahren, Expanded Disability Status Scale (EDSS)-Score zwischen 0 und 5,51] erhielten entweder 20 mg Ofatumumab (Tag 1, 7, 14 und dann alle vier Wochen) als subcutane Injektion (und tägliche Placebotabletten) oder täglich 14 mg Teriflunomid als orale Tablette (und subcutane Placeboinjektionen an den Tagen 1, 7, 14 und dann alle vier Wochen). Der primäre Endpunkt der Studie war die Reduktion der jährlichen Schubrate – diese berechnet sich durch die Anzahl der Schübe aller Teilnehmer der Ofatumumab- beziehungsweise der Teriflunomidgruppe geteilt durch die Jahre, die die Teilnehmer an der Studie teilnahmen. Als betätigter MS-Schub galt, wenn dieser mit einer klinisch relevanten Veränderung des EDSS-Scores einherging. Dabei wurde der neue EDSS-Score mit dem jeweils letzten EDSS-Score verglichen.

Zur Erinnerung: Was ist der EDSS?

Der EDSS (Expanded Disability Status Scale) bewertet den Schweregrad der Behinderung bei Patienten mit multipler Sklerose. Die Skala reicht von null bis zehn (in 0,5er Schritten) und bewertet Störungen in unterschiedlichen Funktionellen Systemen (FS) des Körpers:

  • Pyramidenbahn, zum Beispiel Lähmungen
  • Kleinhirn, zum Beispiel Störungen des Bewegungsablaufs, Tremor
  • Hirnstamm, zum Beispiel Sprach- und/oder Schluckstörungen
  • Sensorium, zum Beispiel verminderter Berührungssinn
  • Blasen- und Mastdarmfunktion, zum Beispiel Harn- und/oder Stuhlinkontinenz
  • Sehfunktion, zum Beispiel eingeschränktes Gesichtsfeld
  • Zerebrale Funktionen, zum Beispiel Wesensveränderung, Demenz

Je nach Anzahl der betroffenen Funktionsbereiche und dem Ausmaß der Einschränkung erfolgt die Abstufung von EDSS null (keine Symptome, kein Funktionsbereich betroffen) bis EDSS zehn (Tod durch MS).

0,11 Schübe versus 0,22 Schübe pro Jahr

Kesimpta® war Aubagio® in den Studien überlegen: Ofatumumab zeigte eine signifikante Reduktion der jährlichen Schubrate um 51 Prozent (0,11 vs. 0,22) beziehungsweise 59 Prozent (0,10 vs. 0,25) im Vergleich zu Teriflunomid. Anders ausgedrückt: MS-Patienten unter Ofatumumab erfuhren 0,11 Schübe pro Jahr, unter Teriflunomid 0,22 Schübe (ASCLEPIOS I) beziehungsweise 0,1 Schübe versus 0,25 (ASCLEPIOS II) pro Jahr.

Behinderung: Verschlechterung und Verbesserung möglich 

Auch das Fortschreiten der Behinderung analysierten die Wissenschaftler:innen. Dafür wurden die Ergebnisse der beiden Studien zusammengeworfen (gepoolt). Unter Ofatumumab verschlechterte sich nach drei Monaten bei 10,9 Prozent der MS-Patienten die Behinderung, mi Teriflunomid als Therapie erfuhren 15 Prozent der Patienten eine Behinderungszunahme. Die Daten nach sechs Monaten sind etwas besser, eine Behinderungsprogression war dennoch in beiden Gruppen zu beobachten: 8,1 Prozent der Ofatumumab-Patienten und 12 Prozent der Teriflunomid-Patienten. Allerdings gab es auch Patienten, bei denen sich die bereits bestehende Behinderung nach sechs Monaten besserte, und zwar bei 11,0 Prozent unter Ofatumumab und bei 8,1 Prozent der Patienten unter Teriflunomid.

Stopp der Krankheitsaktivität?

Novartis verweist zudem auf eine separate Post-hoc-Analyse, die zeigte, dass Kesimpta® neue Krankheitsaktivitäten bei RMS-Patienten stoppen kann: Die Wahrscheinlichkeit, NEDA-3 – eine Kombination aus: keine Schübe, keine MRT-Läsionen und keine Verschlechterung der Behinderung – zu erreichen, war mit Ofatumumab im Vergleich zu Teriflunomid in den Monaten 0 bis 12 mehr als 3-fach höher und über 8-fach höher in den Monaten 12 bis 24.

CD20-Antikörper bei MS: Ocrelizumab und Ofatumumab

Das Prinzip der B-Zell-Antikörper ist in der MS-Behandlung nicht neu: Auch Ocrelizumab in Ocrevus® (Roche) bindet an CD20+-B-Zellen. Ocrelizumab war im Januar 2018 der erste zugelassene CD20-Antikörper in der MS-Therapie, das Besondere war und ist zudem, dass es bislang das einzige Arzneimittel ist, das bei Patienten mit PPMS zugelassen ist, die Multiple Sklerose verläuft hier nicht in Schüben, sondern schleichend (PPMS: primär progrediente MS). Im Unterschied zu Ofatumumab handelt es sich bei Ocrelizumab um einen humanisierten Antikörper, Ofatumumab ist ein voll-humaner. Das bedeutet: Ofatumumab hat überhaupt keine Mausproteine mehr, Ocrelizumab noch etwa 10 Prozent (Antigenbindungsstelle).

MS-Patienten können sich Ofatumumab selbst subcutan spritzen

Unterschiede gibt es auch in der Verabreichung. So wird Ocrelizumab als intravenöse Infusion (600 mg) alle sechs Monate ambulant verabreicht, Ofatumumab als subcutane Injektion, die sich MS-Patienten auch als selbst spritzen könnten. Novartis denkt hier an eine Applikation mit dem Sensoready®-Pen, den Novartis beispielsweise bei seinem Arzneimittel gegen Schuppenflechte, Cosentyx® (Sekukinumab), bereits vermarktet. Dass die Pen-Injektion gleich gut funktioniert wie eine Fertigspritze, zeigte eine Bioäquivalenz-Studie an 296 MS-Patienten in den USA: „Subcutaneous, Monthly Ofatumumab Depletes B-Cells in Relapsing MS Rapidly Via a Convenient Pen. Sie wurde 2020 auf dem ACTRIMS-Kongress, (ACTRIMS: Americas Committee for Treatment in Multiple Sclerosis) vorgestellt und im März 2020 in der Fachzeitschrift „Neurology“ veröffentlicht. Sie verglich die Applikation von 20 mg Ofatumumab mit einem Pen oder via Spritze, je in den Bauch oder Oberschenkel. „Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass subcutan verabreichtes Ofatumumab eine effektive B-Zell-Depletion mit einem praktischen Autoinjektor-Pen ermöglicht, der eine monatliche Selbstverabreichung zu Hause erlaubt“, schreiben die Wissenschaftler:innen ihr Resümee.

EU-Zulassung von Kesimpta im zweiten Quartal erwartet

In den USA ließ die FDA (Food and Drug Administration) Ofatumumab bereits im August 2020 zur Behandlung schubförmiger MS-Formen (RMS) zu, also CIS (klinisch isoliertes Syndrom), remittierend-schubförmige MS (RRMS; Relapsing-remitting MS) und aktive sekundär progrediente MS. Erst vor wenigen Tagen, am 25. Januar 2021, erteilte auch Kanada Kesimpta® die Zulassung. In Deutschland beziehungsweise in der EU rechnet Novartis mit einer Zulassung von Kesimpta® im zweiten Quartal.

Ofatumumab stammt aus der Leukämiebehandlung

Ofatumumab wurde initial nicht zur Behandlung von Multipler Sklerose entwickelt, tatsächlich war der Antikörper bereits vor Jahren in einer anderen Indikation zugelassen: Leukämie, Handelsname war damals Azerra®. Novartis nahm Azerra® 2019 jedoch aus wirtschaftlichen Gründen vom Markt.



Celine Müller, Apothekerin, Redakteurin DAZ.online (cel)
redaktion@daz.online


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