- DAZ.online
- DAZ / AZ
- DAZ 21/1997
- Wirkstoff: 100 % Musik
Arzneimittel und Therapie
Wirkstoff: 100 % Musik
Neben der in der Musikbranche traditionell üblichen Einteilung in ernste Musik und Unterhaltungsmusik entwickelt sich so eine neue Sparte: die funktionale Musik, also Musik, die eine in diesem Fall therapeutische Aufgabe hat, sorgfältig ausgesuchte oder auch speziell komponierte Musik, die auf ihre Wirkung hin überprüft ist. Dabei kann die Musik als alleiniges Therapeutikum, aktiv ausgeübt oder gemeinsam gehört, Stimulans oder Medium in einer sehr individuellen therapeutischen Situation zur Behandlung psychosomatischer und psychischer Erkrankungen sein. Als unterstützende Maßnahme in der Medizin wird die Musik zur Zeit neu entdeckt und sehr intensiv bezüglich ihrer psychischen und physischen Wirkungen erforscht. Zahlreiche Studien haben inzwischen gezeigt, daß Musik die Schmerztoleranz steigert und Ängste reduziert.
Meßbare Wirkung?
Patienten, die von der sogenannten funktionalen Musik profitieren können, sind vor allem chronisch kranke Schmerzpatienten, Patienten mit Herz-Kreislauf-Problemen und Krebspatienten. Um die Wirkungen der Musik zu messen, sind natürlich keine Doppelblindstudien oder dergleichen durchführbar; meßbar sind allerdings Parameter wie Hirnströme, Hautwiderstand, Atemfrequenz, Puls und Blutdruck. Vor allem Patienten mit chronischen Schmerzen wie Rückenschmerzen und Kopfschmerzen profitieren von Musik. Diese Patienten brauchen neben der vollen Bandbreite der medizinisch-pharmakologischen Möglichkeiten auch interdisziplinäre Verfahren, die die Heilungskräfte des Patienten stärken und ihn aktivieren. Bei Rückenschmerzen kann z.B. Tanzen (zur Stärkung der ≥inneren Aufrichtigkeit" und zum ≥Wiederfinden des inneren Rhythmus") hilfreich sein. Bei chronischem Kopfschmerz wirkt die Tiefenentspannung ruhiger Musik, aber auch die Konfrontation mit dem eigenen Chaos durch bestimmte Rhythmen und die anschließende melodische Rückführung in die Ruhe.
Weitere Einsatzgebiete
In der Sportklinik Hellersen bei Lüdenscheid werden sehr gute Erfolge bei der Prämedikation in der Anästhesie erzielt; die Patienten werden immerhin so weit beruhigt, daß durch die Einsparung von Tranquillanzien die Anschaffung der Musikanlage bezahlt werden konnte. Genauso zeigt Musik ihre algo-anxiolytische Wirkung im Kreißsaal und in der Zahnheilkunde. An der Klinik Großhadern in München wird zur Zeit ein Forschungsprojekt durchgeführt, das den positiven Einfluß der Musik auf Krebspatienten während der Chemotherapie untersucht. Das Forschungsinteresse ist dabei nicht nur auf die beruhigende Wirkung gerichtet, sondern untersucht auch weitere Einflüsse auf Schmerzempfinden und Übelkeit. Speziell gestaltete Musik kann auch erfolgreich in der Frühgeborenen-Medizin eingesetzt werden. Dr. Schwartz, Anästhesist am Peidmont-Hospital in Atlanta, hat natürliche Geräusche aus dem Mutterleib aufgezeichnet und sie mit Frauenstimmen und ruhiger Musik unterlegt. Die Musik (die in den USA unter dem Namen "Transitions" im Handel ist) wird den Frühchen mit einer Lautstärke von 80 Dezibel (entspricht der Lautstärke der Herztöne der Mutter, die das Kind im Mutterleib hört) im Brutkasten vorgespielt. Diese Kinder kommen durchschnittlich drei Tage früher als andere Kinder aus dem Brutkasten, weil die Sauerstoffsättigung im Blut deutlich schneller ansteigt, der Blutdruck sinkt und die Kinder schneller zunehmen. Eine Musik, die nach wissenschaftlich-therapeutischen Erkenntnissen ausgewählt und überprüft ist, könnte in der Zukunft als seriöses Therapeutikum in der Prävention und Therapie mancher Erkrankungen eingesetzt werden. Noch kann ein solches Therapeutikum aber nicht über die Apotheke vertrieben werden.
0 Kommentare
Das Kommentieren ist aktuell nicht möglich.